„Meditiere über die Worte deines Gottes, des Kapitals“. Ah, ja! So manches verbale Geblubber entweicht den Betenden: „Wenn die Interessen eines einzigen Kapitalisten verletzt werden, muss die gesamte Gesellschaft leiden“. Auch: „Der Mund der lügt, belebt die Börse“. Dem dramaturgischen Verlauf zufolge sollte dieser Moment wohl zu den Höhepunkten von Martin Englers im Land bereits eingängig angekündigtem (siehe d’Land 36/12 und 39/12), neuem Projekt Homo sapiens: Terror terrestris zählen. Fremdschämen wäre wohl eher angebracht. So stumpfsinnig kann kein Publikum sich überzeugen lassen, die Conditio humana über den Weg einer Kapitalschelte zu entlarven.
Zu allem Überfluss liefert der Abspann ein Who is who der Global Player aus dem Finanzwesen. Diese anthropologische Pseudoanalyse schafft es nicht über den intellektuellen Horizont eines Hippie-Trips hinaus. Martin Englers Versuch, auf der Basis seiner bereits mehrfach angedeuteten Lektüre zum Thema der Verstrickungen von Wissenschaft, Politik und „Kapital“ eine Primärtext-Collage dramaturgisch zu verweben, ist – auf diesen finanzpolitischen Aspekt reduziert – langweilig, repetitiv und vor allem: abgedroschen.
Aus diesem Einzelaspekt einen Gesamtverriss zu spinnen, wäre jedoch genauso kurz gegriffen. Die Hinwendung zur wissenschaftlichen Forschungsarbeit des jüdischen Chemikers Fritz Haber ist neu, in ihrer Aussage von beinharter Ironie: Ein Jude leistet seinen Beitrag zum Exterminieren seines eigenen Volkes. Die Grundlagen seiner Arbeit führen letztlich zur Produktion von Giftkampfstoffen und der späteren Anwendung von Zyklon B. „Ich schwöre, dass ich niemals in Wort oder Schrift etwas lehren werde, was meiner Überzeugung widerspricht. Dass ich vielmehr die Wahrheit zu fördern und das Ansehen und die Würde der Wissenschaft nach Kräften zu heben bestrebt sein werde.“ Mit diesen Worten sichert sich Habers Frau Clara Immerwahr mehrmals gegen die unmoralischen Versuchungen politischer Vereinnahmung ab. Es ist ihr Mann, der mit steigendem Erfolg in die Runde spuckt: „Der Gelehrte gehört im Krieg wie jedermann seinem Vaterland, im Frieden aber gehört er der Menschheit.“ In der Folge wählt Clara den Freitod, schleicht jedoch in regelmäßigen Abständen als eine Art spirituelle Instanz über die Bühne.
Nicht nur wissenschaftsgeschichtlich, auch politisch ist Englers Arbeit hochspannend und vor allem stimmig im Sinne des programmatischen Titels. Im „Zwischenspiel der Götter“ begibt sich der Vertreter der deutschen Orientgesellschaft, Lepsius (Nickel Bösenberg), nach Istanbul in die Amtsräume des Enver Pascha, dem ottomanischen Kriegsminister, um letzte diplomatische Bemühungen anzustellen, den Völkermord am armenischen Volk zu stoppen. In einer nur scheinbar dialektischen, in Wahrheit von vornherein zum Scheitern verurteilten Diskussion bietet der Kriegsminister Lepsius am Ende an, deutsche Hilfsgelder anzunehmen und über diese frei zu verfügen. Eine Einmischung in die nationale Souveränität müsse er sich natürlich verbitten.
Die auch vom Ensemble beabsichtigte
und eingestandene lose Zusammensetzung der Textauswahl sei einmal dahingestellt. Der spöttische Gesang, die rhetorisch bemerkenswerte Wortakrobatik, der Auftritt der zu Kriegszeiten aus dem Exil sich einschaltenden Großherzogin oder Auszüge aus den Transportprotokollen im Rahmen der nationalsozialistischen „Endlösung“ sind für die Vervollständigung eines Fundus zur historischen Jahrhundert-Analyse mal mehr, mal weniger von Belang.
Homo sapiens lebt aber vor allem von vereinzelten Motiven, beeindruckenden Szenen. Allein die Einarbeitung eines Gartenzwergs (in dessen Rolle Engler persönlich schlüpft) ist vieldeutig. Anbieten dürfte sich wohl die Allegorie des Spießbürgertums, des heimeligen Schrebergartens. Der von Kriegsministern und intellektuellen Wissenschaftlern entfachte Wahnsinn des menschlichen Terrors könnte wohl ohne die mittragende schweigende Masse der Gartenzwerge niemals bestehen. So wird eine friedfertige Zipfelmütze zum Urquell menschlicher Selbstzerfleischung stilisiert.
Mucksmäuschenstill wird es im Zuschauerraum, wenn Steve Karier in seiner Rolle als Fritz Haber vor verdunkelter Bühne an einem provisorisch eingerichteten Pulte sitzt. In einem Verhör bekundet er seine Unschuld – geistig fixiert und umnachtet zugleich. Er habe niemandem Leid zugefügt. Die Unerbittlichkeit, mit der Karier hier in seine Rolle findet, erweitert, ja, erweitert ein multimediales Feuerwerk zu einem intimen Einblick in die Orientierungslosigkeit eines ethisch Gescheiterten.
Mehrfach liefern auch Nickel Bösenberg, Nora Koenig und Linda Olsansky sowie Josiane Peiffer und Brigitte Urhausen mimische Leistungen, die weitestgehend Lob verdienen. Martin Engler greift auf ein Ensemble zurück, das sich ohne Zweifel bewährt.
Neben den überflüssigen, manchmal peinlich anmutenden Gesangsübungen („Ave Miseria“, „Kanon der Frösche“ und „Sei gesegnet, ernste Stunde“) wird das Publikum jedoch noch auf eine weitere Weise in das Geschehen auf der Bühne eingebunden. Drei unterschiedliche Leinwände, die sowohl den Raum erweitern, als auch die Choreographie auf dem Bühnenboden aufbrechen, projizieren vor Beginn der Veranstaltung das sich einfindende Publikum. Auf der rechten Seite werden Szenen einer Schar von Pressefotografen abgespielt, auf der Suche nach dem perfekten Schnappschuss. Im Fortlauf vernachlässigt Engler zu sehr die in den letzten Jahren ständig wachsende Rolle des medialen Öffentlichkeitstotalitarismus im Hinblick auf den von ihm beklagten irdischen Wahnsinn.
Homo sapiens ist sehenswert, formal durchaus durchdacht. Das gestaltete Weltbild ist teilweise hochinteressant, teilweise schlichtweg erschreckend simplistisch. Insgesamt hat Engler die Erwartungen jedoch zu hoch geschraubt. „Den Kopf gewaschen“, wie er ankündigte, hat er dem Publikum nicht.
josée hansen
Catégories: Théâtre et danse
Édition: 28.09.2012