In Anne Simons Uraufführung von Lars Werners Weißer Raum am TNL wird die Dramaturgie einer rassistischen Radikalisierung nachgezeichnet, wie sie Bahngleiswärter Uli Bäumer in der Gegend um Lampertswalde bei Dresden erfährt. Als er beobachtet, wie der christliche (!) Nordafrikaner Munir Bunou eine Frau zu missbrauchen versucht, prügelt er den Täter zu Tode. Es folgt ein breites Spektrum an öffentlichen Reaktionen: Der rechte Mob feiert den Kämpfer für das christliche Abendland; die Presse giert entweder nach reißerischen Schlagzeilen oder ruft nach Differenzierung; der leichtgläubig wirkende Uli mutiert vom vermeintlichen Retter zum rhetorischen Blender, zu dem endlich alle emporschauen. Die Handlung findet an einem Heiligabend statt, was an die Zurückweisung einer ärmlichen Flüchtlingsfamilie in Bethlehem erinnert.
Lars Werners mit dem 23. Kleistförderpreis ausgezeichnetes Drama Weißer Raum mäandert streckenweise zwischen kraftvoller Erzählung und Collage aus Folskeln, Stammtischsprüchen gelagen und Eilmeldungen: „Warum reibt sich ein Ausländer nach dem Sex die Augen? – Wegen dem Pfefferspray“. „Arbeitslos wegen notgeilen Afrikanern“, „Negerküsse heißen nun Othello – Othello ist doch auch ein Neger!“
Aus der Aktualität seines Stoffs schöpft Simon jedoch Spannung. Sehr intensiv wirkt etwa jener Moment, da Uli seinen aus der Haft entlassenen Sohn Patrick (Dominik Raneburger) empfängt. Mit einer Live-Kamera wird das Videobild mit Blaustich an die hintere Wand einer verkommenen Kulisse projiziert. In der Enge auf der Hinterbank eines Autos entsteht eine beklemmende Atmosphäre, als Uli seinem Sohn erklärt, die Rechten nähmen nicht länger den jungen Bäumer als ihren charismatischen Anführer an, sondern zögen den älteren vor. Eine brisante, sehr kraftvolle Szene, beklemmend durch die Technik, beklemmend durch die Enge, beklemmend aber auch durch die schauspielerische Leistung von Martin Olbertz, der seine Figur Uli zwischen leichtgläubigem Taugenichts und faschistischem Machtmenschen ansiedelt.
Die deutsche Kritik wirft Anne Simon eine klischeebeladene, ostdeutsch zerrüttete Kulisse (Anouk Schiltz) vor: hier ein verbeulter Wagen, dort ein verkommenes Wärterhaus, da ein verwahrloster Plattenbau. Die Außenwelt mag Sachsen voreilig als braunen Sumpf abstempeln, rechte Parolen sind längst in die bürgerliche Mitte vorgedrungen. Solche voreiligen Bilder sollte das Theater nicht fördern. Doch existieren so genannte No-Go Areas, und man darf sich dafür entscheiden, das zu zeigen. Wenngleich neutraler weißer Raum zweifellos wertfreier gewesen wäre.
Eine andere Nachlässigkeit hingegen ist der Regie anzulasten: Die Anordnung der Darsteller wirkt zu steril. Wenn Werners Text sich bisweilen in einer Collage aus Floskeln, Phrasen und moralisierenden Diskursen verliert, sitzen die Darsteller, die nichts zu sagen haben, zu unbeteiligt an den Seitenwänden. In manchen Szenen verhindert das eine hautnah erzählte Geschichte.
Hinzu kommt, dass die letzte Sequenz, in der die Justiz Patrick Bäumer (Luc Schiltz und Pascale Noé Adam) als V-Mann zu rekrutieren versucht, lediglich dahinplätschert. Der Wandel Uli Bäumers vom ahnungslosen Vaters zum Anführer – man denkt an die schon erwähnte Szene mit Patrick auf der Hinterbank eines Autos – hätte einen kraftvolleren Schluss erlaubt.
Bei aller Kritik ermöglicht die dialektische Auseinandersetzung mit der Entstehung radikalisierter Meuten dem Zuschauer einen Blick hinter die medial geförderten Klischees und stellt diese als Antworten bloß, die nicht weniger simpel und bequem für den liberalen Bürger sind als AFD- und Pegida-Parolen für die heutigen Montagsdemonstranten. Weißer Raum ist eine stellenweise sehr hochspannende, von Martin Olbertz getragene Inszenierung, die am Ende Längen hat. Anne Simon hat sich bemüht, manipulative Sprache bloßzustellen, benutzt sie aber zu oft nur.