Die müden Männer waren zurück. Am Dienstag trafen sich die Minister zu ihrer ersten Kabinettsitzung nach der Sommerpause. Nicht, wie üblich, im ersten Stockwerk des Finanzministeriums, sondern im abgeschirmten Schloss Senningen, dem staatlichen Telekommunikations- und Konferenzzentrum.
Da war CSV-Premier Jean-Claude Juncker, der beim Versuch, der etwas zu engen Innenpolitik zu entkommen, gescheitert ist. Nach jahrelangen europäischen Höhenflügen soll er in den nächsten Monaten den Vorsitz der Euro-Finanzminister aufgeben und wieder auf heimatlichem Boden landen. Schon vor dem Urlaub hatte er öffentlich angekündigt, dass er kürzer treten und Freizeit haben möchte.
Da war auch LSAP-Arbeitsminister Nicolas Schmit, der sich monatelang überlegt hatte, ob er nicht, wie zuvor Wirtschaftsminister Jeannot Krecké, den ganzen Krempel hinschmeißen und als Botschafter nach Paris ziehen sollte. Bis zuletzt hatte ihm Außenminister Jean Asselborn die Tür offengehalten. Am Montag hatte das Außenministerium dann die Liste der neu ernannten Botschafter veröffentlicht, um rechtzeitig vor der Kabinettsitzung endlich alle Zweifel an der Moral der Truppe zu zerstreuen.
Am Nachmittag kamen zur Runde der Ministerinnen und Minister noch die Partei- und Fraktionsvorsitzenden von CSV und LSAP. Drei der vier, Alex Bodry (LSAP), Lucien Lux (LSAP) und Michel Wolter (CSV), waren selbst einmal Minister und trauern ihrem Amt nach oder waren darin gescheitert. Sie alle wollten sich auf die Regierungsarbeit bis zum Jahresende einigen.
Vielleicht war dann allen im mit Europafahnen vollgestellten Tagungssaal erst richtig bewusst geworden, wie altmodisch sie sich in einer chaotisch beschleunigten Welt fühlen, wo gerade in China fleißige Kinderhände das fünfte Iphone-Modell zusammenbauen. Denn der nur noch abgekämpft wirkende Premier Jean-Claude Juncker erklärte nach dem Treffen, die Stimmung in der Koalition sei „deutlich in Richtung einer Remodernisierung des Landes ausgerichtet“ gewesen.
So als sei das Wort „modern“ selbst nicht schon vor Jahren, mit der letzten Concorde, der Citroën DS und der Roten Brücke aus der Mode gekommen. Die versprochene Remodernisierung lädt zur Schlussfolgerung ein, dass sich unter der Verantwortung dieser und ähnlicher Regierungen sachte eine Staubschicht über das Land gelegt hat. Seit der vom Finanzkapital getriebene globale Neoliberalismus, an dem Luxemburg jahrelang so erfolgreich mitverdiente, in seine Krise stürzte, scheinen die müden Männer das Land wie ein altes Kurhotel heruntergewirtschaftet haben und wollen es nun renovieren.
Dass sich eine Regierung zu diesem für sie wenig schmeichelhaften Eingeständnis hinreißen lässt, ist Kalkül. Die Aussicht auf Remodernisierung, das kostenneutrale Versprechen von Homoehe, Abtreibungsreform und vielleicht sogar einem kürzeren Verwaltungsweg, soll dem entmutigten Wählerpublikum bedeuten, dass der Kampf gegen das Staatsdefizit, die Schuldenbremse und die Maastricht-Kriterien nicht ihre einzige politische Perspektive ist. Dass CSV und LSAP bis zum Ende der Legislaturperiode doch noch mehr können, als traurig Steuern zu erhöhen und Ausgaben zu senken.
Denn die erste Sorge der Koalition ist die wirtschaftliche und damit die eigene politisch peinliche Lage: Nach dem brutalen Rückgang 2009 hatte sich das Wirtschaftswachstum 2010 und 2011 nur langsam erholt, ohne das Niveau von vor der Krise zu erreichen, und dieses Jahr droht schon wieder die Stagnation oder gar Rezession. In seiner vergangene Woche veröffentlichten Konjunkturnote sagt das Statec für 2012 ein Wirtschaftswachstum von symbolischen 0,1 Prozent voraus. Die Konjunkturbarometer seien „auf ihrem Tiefststand“, für die Industrie sei „keine Aufklärung in Sicht“, im Bauhandwerk setzte sich „die Verschlechterung fort“, und der Finanzsektor habe „im zweiten Trimester stagniert“. Die Euro-Zone sei „auf dem besten Weg“ in die Rezession, meint das Statec und erwähnt noch nicht einmal das Risiko, dass die Euro-Krise sich noch verschlimmert.
Dass der Konjunkturaufschwung schon wieder zu Ende ist, macht sich bei den Staatsfinanzen bemerkbar. Denn weniger oder gar kein Wirtschaftswachstum bedeutet weniger Steuereinnahmen und mehr Sozialausgaben. Aus einem bescheidenen Überschuss von 77,9 Millionen Euro im ersten Halbjahr 2011 ist im ersten Halbjahr 2012 ein Defizit von 415,4 Millionen Euro geworden. Die Einnahmen stagnieren, die Ausgaben steigen rascher, als im Budget geplant: Aus dem für dieses Jahr erwarteten Staatsdefizit von 1 143,2 Millionen Euro drohen fast anderthalb Milliarden zu werden.
Damit würde der größte Teil des Sparpakets von 535 Millionen Euro, mit dem das Defizit eigentlich verringert werden sollte, weggefressen. Das größte Versprechen der Legislaturperiode, das Gesamtdefizit von Staat, Gemeinden und Sozialversicherung bis zu den Wahlen in zwei Jahren auf null zu senken, ist kaum noch einzuhalten.
So dass die Regierung sich am Dienstag vor allem mit der Frage beschäftigte, wie ihre zuvor durch allerlei antizyklische Irrungen und Wirrungen gegangene Finanzpolitik halbwegs vernünftig aussehen kann. Zum Jahresbeginn hatte sie nämlich zuerst ihre Sparpolitik gelockert, um wenige Monate später in der Erklärung zur Lage der Nation dann eine Erhöhung der Solidaritätssteuer, der Akzisen auf Treibstoff und Tabak sowie eine Mindeststeuer auf Unternehmen, die keine Steuern zahlen, anzukündigen. Nach der Aufschiebung der Punktwerterhöhung im öffentlichen Dienst bekamen viele Eltern vor zwei Wochen einen Brief, dass die öffentliche Kinderbetreuung wieder teurer würde. Dieses „Konsolidierungspaket“ sollte laut Jean-Claude Juncker ein Abdriften der Staatsfinanzen „in eine gefährliche Richtung“ verhindern.
Aber inzwischen erweist sich das alles als unzureichend. Weil das Defzit höher werden könnte, als erwartet, muss das geplante Konsolidierungspaket noch vor seinem Inkrafttreten konsolidiert werden. „Es ist klar, dass die Zahlen, die wir jetzt kennen, eine Verschlechterung zeigen im Vergleich zur Richtung, die wir im April und im Mai diskutierten“, klagte LSAP-Fraktionssprecher Lucien Lux am Dienstag gegenüber RTL.
Jean-Claude Juncker kündigte an, dass sich die Regierung auf diese „großen Linien der Budgetpolitik geeinigt“ habe. Was sich in erster Linie auf die simple, aber von allen im Parlament vertretenen Parteien anders beantwortete Frage reduziert, wer das teurere Sparpaket bezahlen soll. Der Kompromiss zwischen CSV und LSAP soll bei zwei Drittel Einsparungen und einem Drittel Steuererhöhungen bleiben. Einsparungen sind dabei die eher rechte Variante, weil Besserverdienende weniger auf staatliche Leistungen angewiesen sind; Steuererhöhungen sind die linke Variante, weil die Steuertabelle progressiv ist. Das von CSV und LSAP beschlossene Verhältnis von 2:1 entspricht präzise dem Verhältnis zwischen der Zahl der CSV- und der LSAP-Abgeordneten im Parlament, könnte also nach den Wahlen 2014 ändern.
CSV-Finanzminister Luc Frieden soll in den nächsten drei Wochen neue „Vorschläge sowohl zur Reduzierung der Ausgaben als auch für eine Reihe steuerlicher Anpassungen“ machen, so Juncker. Die würden dann „im Regierungsrat untersucht“, bevor der Haushaltsentwurf am 2. Oktober ins Parlament kommen soll. Von einer Absprache in der Tripartite geht keine Rede mehr; Arbeitsminister Nicolas Schmit ist herzlich eingeladen, etwaige Bedenken im Regierungsrat und nicht, wie vor zwei Jahren, in der Öffentlichkeit zu äußern.
Da die Erhöhung der Solidaritätssteuer als Ersatz für die kurzlebige Krisensteuer bereits beschlossen ist und eine Mehrwertsteuererhöhung am besten bis nach den Parlamentswahlen übernächstes Jahr aufgeschoben wird, soll der Finanzminister vor allem den von seiner Verwaltung ausgearbeiteten Katalog durchblättern, was die zahlreichen Steuerfreibeträge und -abschläge den Staat kosten. Statt „allgemeine Steuerhöhungen“ vorzunehmen, soll die Regierung laut Juncker lieber „schauen, welche Extrabestimmungen und Nischen bei Privatpersonen und Betrieben“ verringert oder abgeschafft werden könnten, weil sie einseitig „privilegierten Schichten“ zugute kämen.
Daneben soll zusätzlich gespart werden. „Es ist alles offen,“ meinte Lucien Lux in Senningen. „Wir müssen noch einmal das Investitionspaket schauen, wir müssen noch einmal konkret bei den Funktionskosten des Staates schauen, was wir zu tun haben.“
Zwecks Remodernisierung einigte sich die Koalition am Dienstag aber auch darauf, die geplante Rentenreform voranzutreiben. Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) geht noch immer davon aus, dass sie Anfang nächten Jahres in Kraft treten könnte. Die CSV will ihm keine größeren Steine in den Weg legen, die Unternehmer finden, dass sie besser als gar nichts sei, und die Gewerkschaften bekämpfen sie vorsichtig als kleineres Übel. Sollte der Entwurf tatsächlich im Dezember durch das Parlament gehen, würde nicht nur die Regierung Handlungsfähigkeit demonstrieren, sondern sie könnte endlich auch der Europäischen Kommission, dem Internationalen Währungsfonds und der OECD zeigen, wie modern sie ist.