Wieviel Einfluss haben Erwachsene noch über das Online-Leben ihrer Kinder? Und warum sind in den sozialen Medien frauenfeindliche Influencer so beliebt?

Die Macht der Algorithmen

In London schaut eine Teenagerin beim laufen auf ihr Handy
Foto: Claire Barthelemy
d'Lëtzebuerger Land vom 18.04.2025

„Wenn er nach Hause kam, hat er immer die Tür zugeknallt und ist rauf auf den Computer. Das Licht war oft um ein Uhr nachts immer noch an“, so die Mutter eines 13-Jährigen. „Er war immer in seinem Zimmer. Wir dachten, da sei er sicher“, so der Vater. Gespräche wie diese kennen Eltern, deren Kinder und Teenager mehrere Stunden am Tag vor Bildschirmen verbringen. Der Dialog stammt jedoch aus der britischen Netflix-Serie Adolescence, in der ein unauffälliger Junge aus einer liebevollen Familie plötzlich eine Schulkameradin ersticht. Der Junge wurde online radikalisiert, ohne dass Eltern oder Lehrpersonen davon wussten.

Die Serie hat in Großbritannien Diskussionen über das digitale Leben von Kindern und Jugendlichen ausgelöst. Sogar Premier Keir Starmer sagte, er habe sich die Serie mit seinen Kindern angeschaut. Adolescence hat Eltern die Augen geöffnet, denn viele der Begriffe, die in der Serie vorkommen, waren vielen Erwachsenen bisher komplett fremd. Zum Beispiel die „Manosphere“, die dunkle antifeministische und frauenfeindliche Ecke des Internet, oder die Bewegung „Incel“, eine Subkultur junger Männer, die sich als unfreiwillig zölibatär beschreiben und glauben, dass Frauen ihnen Sex schulden.

Polizisten in der Serie hatten keinen Schimmer, dass Jugendliche Emojis ganz anders benutzen als Erwachsene. Die Code-ähnliche Sprache, die einiges über den schuldigen Jungen offenbarte, konnte die Polizei nur mit Hilfe von anderer Jugendlicher entziffern. Viele Erwachsene vor dem Bildschirm waren genauso verwirrt.

In Großbritannien kommt es regelmäßig zu Messerangriffen zwischen Jugendlichen, doch der Zusammenhang mit sozialen Medien wurde so noch nie in einer Serie thematisiert. Bandenkriege und lokale Rivalitäten, die auch in sozialen Medien ausgelebt werden, führen oft zu schrecklichen Attacken. Kelyan Bokassa, ein 14-jähriger Junge aus London, ist ein rezentes Opfer. Er wurde im Januar im Südosten Londons in einem Bus niedergestochen. Seine Mutter hatte bereits öfter Behörden um Hilfe gebeten, weil er sich mit Banden einließ.

„Ich fühle mich verletzt, weil ich versucht habe, es zu verhindern. Ich habe es so oft versucht. Ich habe es geschrien und gesagt: Mein Sohn wird getötet“, so Marie Bokassa gegenüber der BBC. Zwei Verdächtigen wird nun vorgeworfen, den Jungen mit Macheten angegriffen zu haben. Sie sind 15 und 16 Jahre alt. Kelyan selbst sollte bald vor Gericht erscheinen, weil ihm das Mitführen einer Machete vorgeworfen wurde.

Themen, die Adolescence anspricht, treffen jedoch nicht nur in Großbritannien auf Gehör: In mehr als 70 Ländern war die Serie Nummer Eins auf Netflix. Soziale Medien werden von Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt genutzt, und vielen fällt es schwer, abzuschalten.

„In den frühen 2010er Jahren verlagerten Jungen ihr Sozialleben noch stärker auf Online-Gaming-Plattformen. Und diese Online-Gaming-Netzwerke werden nicht im selben Raum mit den Freunden gespielt“, erklärte Zach Rausch, Forscher an der Stern School of Business der New York University, in einem Interview mit der BBC.

„Man braucht ein Headset und einen eigenen Bildschirm. Um mit Freunden in Verbindung zu bleiben, muss man also physisch von ihnen getrennt sein“, so Rausch. Doch dann hat man nicht nur mit Freunden Kontakt. Vor zehn Jahren kam es in der Gaming-Welt zum „Gamergate“, einer Hetzkampagne gegen Frauen in der Industrie, die von rechtsradikalen Spielern ausging.

Mobbing ist schwer zu verhindern, denn auch das findet online statt. „Vor zehn oder 20 Jahren kamen Kinder nach der Schule nach Hause und konnten abschalten“, sagt die Psychologin Gursharan Lotey, die in Großbritannien mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. „Das Zuhause war ein sichrer Raum. Heute ist das nicht mehr so. Wenn Kinder nach Hause kommen und online gehen und Sachen lesen, die über sie geschrieben wurden, untergräbt das wirklich ihr Selbstwertgefühl.“

Soziale Medien begünstigen große Emotionen, denn sie bringen Klicks und Kommentare. Hass eignet sich besonders gut, um Reaktionen zu erzeugen, und genau darauf scheinen Algorithmen trainiert zu sein.

Für eine Studie des University College London erstellten Forscher auf TikTok Profile für verschiedene Archetypen von Jungen, die jeweils unterschiedliche Interessen zeigten. Den Archetypen, die sich für Inhalte wie Männlichkeit, Selbstverbesserung und Einsamkeit interessierten, schlug der Algorithmus bald Videos vor, die Wut auf Frauen thematisierten. Diese Inhalte wurden von Tag zu Tag extremer, mit Videos über Objektifizierung, sexuelle Belästigung oder Diskreditierung.

Eine der bekanntesten Figuren in der Manosphere ist der britisch-amerikanische Influencer Andrew Tate, der sich selbst als frauenfeindlich bezeichnet und dem Vergewaltigung und Menschenhandel vorgeworfen werden. In Großbritannien gaben 45 Prozent der jungen Männer zwischen 16 und 24 Jahren an, einen positiven Eindruck von Tate zu haben, laut einer Studie der Wohltätigkeitsorganisation Hope not Hate. Tate ist einer von vielen Influencern in diesem Bereich.

„Je mehr man in jüngerem Alter damit konfrontiert wird – und das fängt heute schon bei Acht- und Neunjährigen an –, desto mehr beginnt man, das alles zu glauben, auch wenn man vielleicht nicht immer damit einverstanden ist“, sagt Psychologin Lotey. Da diese Inhalte dermaßen verbreitet sind, würden sie Teil der Weltsicht der Teenager.

Wie viel Macht Tech-Firmen über Jugendliche wirklich haben, zeigt das kürzlich erschienene Enthüllungsbuch Careless People von Sarah Wynn-Williams, Facebooks ehemaliger Direktorin für Global Public Policy. Sie verrät, dass Meta, der Mutterkonzern von Facebook und Instagram, auf seinen Plattformen 13- bis 17-Jährige gezielt mit Werbung ansprechen kann, wenn die Teenager Zeichen von psychischer Verletzlichkeit zeigen. Meta kann die Internetaktivität von Jugendlichen innerhalb und außerhalb seiner Plattformen analysieren und diese Daten nutzen, um Jugendlichen Werbung zuzuspielen.

Laut der Whistleblowerin können die Plattformen sogar erkennen, wenn eine Teenagerin ein Selfie hochlädt und dann wieder löscht, und diese Information an Firmen leiten, die Schönheits- oder Diätprodukte verkaufen. Unsicherheiten werden zu Geld gemacht; suchtfördernde Strategien sorgen dafür, dass das Handy immer in Reichweite ist. Wenn dazu eine Pandemie mit Lockdowns kommt, werden Bildschirme zur einzigen Flucht aus dem Alltag. Kann man es jungen Menschen übelnehmen, dass sie ihr Leben online verbringen? Hatten sie überhaupt eine Chance?

In der Tat wünschen sich viele Jugendliche eine andere Welt. „Ich wäre lieber in einer anderen Generation aufgewachsen“, sagt ein britischer Teenager in dem sehr hörenswerten BBC-Podcast „About the Boys“. Er wünsche sich, das Haus verlassen zu müssen, um seine Freunde zu treffen. „Auch wenn es 15 Minuten entfernt wäre, es wäre ein kleines Abenteuer“, so der Junge. „Wenn es soziale Medien nicht gäbe, wäre die Welt ein viel besserer Ort. Ich finde, sie sind wirklich schädlich“, so ein anderer Jugendlicher.

Wie so oft hinkt die staatliche Regulierung der Tech-Welt hinterher. Obschon in Luxemburg und in vielen anderen europäischen Ländern das Nutzen von Smartphones in Schulen verboten oder eingeschränkt ist, hat bisher nur Australien Smartphones für Kinder unter 16 Jahren ganz verboten. Doch was können Eltern unternehmen, die sich um ihre Kinder sorgen?

„Es geht nicht darum, das Smartphone zum Problem zu machen, sondern zum Beispiel zu sagen: Hey, ich mag es, wenn wir zusammen kochen“, erklärt Gursharan Lotey. „Dann sagt man nichts übers Handy, sondern schlägt Aktivitäten vor, die man anstelle machen kann.“ Hobbys außerhalb der Online-Welt seien sehr wichtig; sie könnten Jugendlichen helfen, ihre Stärken zu entdecken und Gleichgesinnte zu finden. Doch Hobbys kosten Geld und beanspruchen die Zeit der Eltern. Deshalb sei es wichtig, junge Menschen aus allen sozialen Schichten zu unterstützen.

Kinder aus ärmeren Verhältnissen nutzen soziale Medien, „um Kontakte zu knüpfen und mit den Trends Schritt zu halten. Während junge Leute, die über mehr Geld verfügen und Privatschulen besuchen, oft nach der Schule Aktivitäten haben“, so Lotey. „Ich glaube, dass diese Jugendlichen den sozialen Medien weniger ausgeliefert sind.“

Gursharan Lotey rät Eltern aber vor allem, die Verbindung zu ihren Kindern zu pflegen und sich für deren Welt zu interessieren. Das sollte ein offener, nicht urteilender Dialog sein, denn wer zu seinen Kindern ein Basis-Vertrauen aufbaut, kann sie durch schwierige Zeiten begleiten.

„Jugendliche, die gute eine Verbindungen zu ihren Eltern haben, wissen, dass sie immer wieder zurück nach Hause kommen können“, so Lotey. „Diese Kinder lassen sich weniger von Dingen außerhalb ihres Zuhauses beeinflussen.“

Jack Thorne und Stephen Graham, die Autoren von Adolescence, wollen, dass die Serie in Schulen gezeigt wird. Das sei entscheidend, meint Thorne, „denn es wird nur noch schlimmer werden“.

Claire Barthelemy
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