Wer als Tourist vor einem Besuch in Luxemburg auf Google Maps nachsehen will, wo er etwas essen kann oder welche Einkaufsmöglichkeiten es gibt, könnte vielleicht überlegen, doch nicht zu kommen. Denn obwohl sich an der Place d’armes und der Place Guillaume an jeder Hausnummer ein Restaurant drängt, und in der Grand-Rue und der Rue Philippe II ein Laden, sieht das auf Google Maps nur bedingt so aus. „Ein Eintrag auf Google Maps, ein paar Bilder, die Öffnungszeiten, ein Link zur Webseite – das wäre das Minimum“, sagt Claude Bizjak, Direktionsmitglied der Luxemburger Handelskonföderation (CLC). Denn wie er fortfährt: „Wer nicht im Internet ist, den gibt es nicht mehr.“
Steht es um den Luxemburger Handel so schlecht? Vergangenes Frühjahr gab es große Aufregung um die angekündigte Schließung des Buchhandels Alinéa. Regierungs- und Oppositionspolitiker eilten in die Rue Beaumont, als sei das Bücherkaufen patriotische Pflicht, obwohl der Feind Nummer eins des weltweiten Buchhandels, Amazon, seit Jahren von den Vorzügen des Luxemburger Steuersystems Gebrauch macht. Als vor ein paar Wochen die Schließung zweier Libo-Buchhandungen angekündigt wurde, blieb der Entrüstungssturm aus.
Bereits im April 2016 unterzeichnete die Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium, Francine Closener (LSAP), mit der Handelskammer und der CLC den Pakt Pro Commerce, so als ob der Einzelhandel höchst rettungsbedürftig wäre. Zwischen 2000 und 2014 sei der Umsatz um 20 Prozent angestiegen, hieß es, eine Entwicklung, die mit der allgemeinen Dynamik in der heimischen Wirtschaft nicht Schritt gehalten habe. Im Pakt Pro Commerce war auch die Digitalisierung ein Thema. Denn wenn, wie Bizjak sagt, zwischen 90 und 95 Prozent aller KMU im Lande „irgendetwas haben, das man eine Webseite nennen könnte“, so böten nur sieben bis neun Prozent eine webbasierte Dienstleistung an. Da laut Statec rund 70 Prozent der Verbraucher regelmäßig im Netz auf Einkaufstour gehen, auch weil sie dort nach Produkten suchen, die sie in hiesigen Geschäften nicht finden, kann man davon ausgehen, dass dem Luxemburger Handel ein großes Stück Umsatz flöten geht.
Doch wer einmal den Aufbauprozess einer kommerziellen Online-Präsenz begleitet hat, weiß, dass sich dabei eine ganze Menge Fragen stellen. Und das nicht nur im Bezug darauf, wie die Webseite visuell gestaltet werden soll. „Wie bezahlen die Kunden? Auf Rechnung, mit Kreditkarte, mit Paypal?“, fragt Bizjak. „Wie liefere ich meine Produkte aus? Kosten sie online das Gleiche wie im Laden? Was mache ich, wenn ein Kunde im Ausland bestellt?“
Um dem Luxemburger Einzelhandel beim Sprung ins Internetzeitalter behilflich zu sein, soll im Rahmen des Pakt Pro Commerce eine Art Amazon für den Luxemburger Einzelhandel aufgebaut werden, wo sie gegen eine Jahresgebühr von 500 Euro ihre Waren anbieten können. Im November wurde eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft (GIE) gegründet, der neben allen größeren Gemeinden von Wiltz im Norden bis Esch im Süden, das Wirtschaftsministerium, die Handelskammer und die CLC angehören. Sie soll die Plattform Letzshop.lu betreiben. Dazu war schon Anfang des Jahres eine europaweite Ausschreibung erfolgt, in der erklärt wurde: „The ministry of the economy wishes to make available to the retailers of the Grand Duchy of Luxembourg a common e-shopping application in order to support the digital transformation and development of the e-commerce skills for this sector. The project aims at maintaining and strengthening the attractiveness of city centres.“
Denn ohne lebendigen Einzelhandel, unterstreicht Bizjak, verlieren die Innenstädte an Attraktivität. Diskussionen darüber, ob beispielsweise das Angebot in der Oberstadt noch für Durchschnittsbürger erschwinglich sei oder sich nur an die ausländische Privatkundschaft der Banken richte, gab es in den vergangenen Jahren zuhauf. Gewonnen hat die Ausschreibung die deutsche Firma Atalanda, die mit der Luxemburger Agentur Vanksen zusammenarbeitet. Atalanda hat für den Einzelhandel in deutschen Städten solche gemeinsamen Handelsplattformen entwickelt. Zum Beispiel für Hamburg, Dortmund und Wuppertal, aber vor allem für kleinere Städte wie Attendorn, Bedburg, Freilassing, Heilbronn oder das nur 130 Kilometer von Luxemburg entfernte Homburg.
Wer auf Atalanda Homburg klickt, wird dort mit einem Angebot begrüßt, das zum Basteln für Weihnachten einlädt. Im Veranstaltungskalender wird auf den Weihnachtskalender des FC 08 Homburg hingewiesen, das Weihnachtsdorf, eine Vorstellung der Verlorenen Ehre der Katharina Blum in der Universitätsstadt und auf die Epiphany Thunderstorm - Die hard’n’heavy Party. Als aktuelles Angebot wird ein Lautsprecher von Sonos für 299 Euro angeboten, als Tipp des Tages eine Edelstahlkette für Coeur de Lion für 109 Euro. Darunter können Verbraucher zwischen den „Top-Kategorien in Homburg“ Kunst und Unterhaltung, Heim und Garten, Bürobedarf, Geschenke und Anlässe, Gesundheit und Schönheit, Bücher und Medien, Spielzeuge und Spiele und Elektronik wählen. Unter Heim und Garten kann man „Holz Streuteile Sterne“ zur Weihnachtsdekoration für 2,99 Euro in den Warenkorb legen, und nach einigem Navigieren durchs Menü im gleichen Zug einen der Lautsprecher erwerben. Der Verbraucher wird von Artikel zu Artikel, nicht von Anbieter zu Anbieter geführt, nur eine kleine Ikone unter dem Produktfoto zeigt, wer hier eigentlich verkauft. Beim Draufklicken wird man zu einer neuen Seite geführt, mit Details zum Geschäft, samt Adresse und Google-Maps-Eintrag zur Orientierung, Öffnungszeiten, einer Notiz „Über uns“ und einem Foto der lächelnden Ladeninhaber. Einen „Imagefilm“ mit Bildern aus lokalen Geschäften und der Innenstadt gibt es dort auch. Das „Umpf“ der elektronischen Bässe, mit denen die Bilder unterlegt sind, soll über den Provinzstadtcharakter hinwegtäuschen. Äußerst sauber und ausführlich ausgeführt, erweckt die Seite auf den ersten Blick den Eindruck, als gebe es in der 43 000-Seelen-Stadt Homburg ein größeres Einkaufsangebot als in der EU-Hauptstadt Luxemburg. Erst bei genauen Hinsehen, eröffnet sich, dass nur drei der vielen dort referenzierten Läden überhaupt Produkte online anbieten. Sogar auf Atalanda Hamburg bieten nur 40 Läden Produkte an, wovon zehn verschiedene Niederlassungen zweier Schuhketten sind. Dabei steht ihnen theoretisch ein Markt von 80 Millionen Verbrauchern in einer Sprache offen, während in Luxemburg ein Markt von einer halben Million Einwohnern am besten in drei Sprachen bedient werden muss, wie Bizjak zu bedenken gibt. So bestätigt sich schon auf den deutschen Atalanda-Seiten, was manche für die größte Herausforderung für Letzshop halten: Die Geschäftsleute dazu zu motivieren, mitzumachen.
„Internet“, warnt Jacques Lorang, Teilhaber des Online-Supermarktes Luxcaddy, „ist kein Wundermittel zum Geldverdienen“. Sondern sei, wie er erklärt, mit erheblichem Aufwand verbunden. Produktinformationen müssen zusammengesucht, Beschreibungen – fehlerfrei – geschrieben, professionelle, anständig belichtete und hochauflösende Fotos der Produkte geknipst, das Sortiment angepasst und gepflegt werden. Wenn sich dann nicht gleich Verkaufserfolge einstellten, riskierten die Geschäftsleute nach ein paar Monaten den Mut zu verlieren, befürchtet er.
Für diesen Fall will das GIE vorsorgen. Laut Wirtschaftsministerium sollen drei Leute eingestellt werden, die den Geschäftsleuten bei der Produkterfassung zur Hand gehen, damit Letzshop nachher ein sauberes, einheitliches Bild abgibt. Lorang macht aber auf einen weiteren Aspekt aufmerksam. Denn vor allem, gibt er zu bedenken, müsse das Inventar elektronisch geführt und mit der Onlineplattform kompatibel sein. Allein ein solches System zu erwerben, kann mehrere tausend Euro kosten. Ob sich dieser Schritt für kleine Einzelhändler lohnt, bezweifelt er. „Die zahlen schon vergleichsweise hohe Mieten für ihr Geschäft in den Innenstädten“, überlegt er. „Sie müssten Geld und Zeit in den Aufbau eines zweiten Verkaufskanals investieren, der im Endeffekt nicht ihrem Kerngeschäft entspricht.“ Lorang weiß, wovon er spricht. Luxcaddy ist seit zehn Jahren im Geschäft, startete 2007 als epicerie.lu und hat sogar die Online-Offensive des Lokalmatadors Cactus überlebt, dessen Online-Angebot Cactus@home 2016 nach knapp vier Jahren mit einem „Äddi a Merci“ den Stecker zog. Luxcaddy war von Anfang nicht nur reine Online-Plattform, ohne physisches Geschäft, sondern ein eigenständiger Lieferdienst zum Ausfahren der Bestellungen. Daher weiß Lorang, dass die Paketzustellung eine weitere große Herausforderung darstellt. Das GIE soll laut Angaben des Wirtschaftsministeriums mit Paketzustellungsdiensten ein Vorzugsabkommen aushandeln. Demnach sollten auf der Plattform getätigte Einkäufe spätestens tags drauf, innerhalb der teilnehmenden Gemeinden vielleicht sogar am selben Tag geliefert werden. Doch die Kunden, weiß der Internet-Supermarktbetreiber, möchten nicht nur einen möglichst genauen Lieferungszeitpunkt auswählen können, sondern auch noch mit Tracking-System verfolgen können, wo sich ihre Bestellung befindet. Und wenn es Probleme gibt, eine Telefonnummer haben, unter der sie einen Menschen aus Fleisch und Blut anrufen können, um Auskunft zu erhalten.
Dass es damit aber nicht getan ist, weiß Patrick Schmit*, der selbst ein Geschäft betreibt und nebenbei viel online verkauft hat. Denn stellen sich Verkaufserfolge ein, beanspruche das Personal, um die Bestellungen versandfertig zu machen. „Das kann man nicht einfach hinter der Ladentheke abziehen. Das fehlt dann dort.“
„Das ist wie die Frage, was zuerst da war: die Henne oder das Ei?“, resümiert Lorang die Erfolgsaussichten von Letzshop. Damit die Plattform für die Verbraucher interessant sei, müsse sie ein großes Angebot bieten. Damit sie für möglichst viele Geschäftsleute attraktiv sei, die ihre Waren anbieten, müsse die Webseite viel Verkehr verzeichnen. Wenn das klappt, habe er prinzipiell nichts dagegen, mitzumachen.
Gelungen ist dieses Kunststück bereits im Gastronomiebereich. Ganz ohne staatliche Intervention ist es Steve Edwards gelungen, eine Vielzahl von Restaurateuren auf seiner Webseite Foostix zusammenzubringen. Die Firmenzentrale befindet sich im Gebäude eines ehemaligen Karosseriebetriebs in Monnerich, nahe der abgerutschten Deponie. Sie könnte unscheinbarer nicht sein: drei Schreibtische mit großen Computermonitoren, ein kleiner Konferenztisch. Um drei Uhr nachmittags entschuldigt sich Edwards, dass es nach Nahrung rieche, offensichtlich ist er nach dem Hochbetrieb in der Mittagszeit eben erst selbst zum Essen gekommen. Im Regal steht eine Tiffin-Box, eine der mehrstöckigen stahlfreien Essensdosen, in denen die Dabbawalas genannten Lieferer in Mumbai jeden Tag zur Mittagszeit hunderttausende von Ehefrauen und Müttern gekochte Mahlzeiten zuhause abholen und zu Fuß, auf dem Rad, Moped, im Auto, mit Bahn und Bus rechtzeitig zu Ehemännern oder Kindern in Büros oder Schulen bringen. „Faszinierend!“, sagt Edwards. Als er im Januar 2012 anfing, hatte er keine Handvoll Restaurants als Kunden, Freunde, bei denen er selbst oft zahlender Gast war. Er hatte Software einkauft, die nicht gut funktionierte und überlebte das erste Geschäftsjahr finanziell fast nicht. Dann kam sein Sohn ins Unternehmen, programmierte eigene Software und der Betrieb fing an, zu laufen. Der Einstieg der Internet-Pioniere von Linc 2014 gab Foostix zusätzlichen Schub. Online-Marketing-Wissen kam ins Unternehmen, über das er selbst nicht verfügte. „Google-Ads, Facebook-Werbung“, zählt Edwards auf, „das hat viel ausgemacht“. Inzwischen hat er fast 200 Restaurants im Sortiment, „jede Woche kommen zwei hinzu“. Foostix hat 19 700 registrierte Nutzer, die 300 bis 400 Lieferungen täglich bestellen. Auch Foostix ist nicht nur eine Online-Plattform, auf der die Verbraucher bestellen könnene, sondern vor allem ein Lieferdienst. 14 Fahrer beschäftigt die Firma, und demnächst sollen zehn weitere eingestellt werden.
Über die Luxemburger Geschäftsleute sagt der gebürtige Texaner: „They need to get online, or else they lose their pants.“ Sein Geschäft fördere das seiner Kunden, erklärt er. Indem er ihnen die umständliche Verwaltung von Bestellungen von außerhalb abnehme, könnten sie sich auf die Kunden im Restaurant kümmern. „Und die kommen immer zuerst.“ Weil die anderen übers Internet bestellten, klingele im Restaurant nicht dauernd das Telefon. Weil Foostix ausliefere, stünden dort nicht ständig Kunden zwischen den Tischen, um ihre Take-Away abzuholen.
Bei Foostix können die Restaurants zwischen zwei Kommissionstarifen wählen. Im ersten Tarif werden nur die Bestellungen über die Webseite abgewickelt und das Restaurant liefert selbst aus, oder das Rundum-Paket mit von Foostix gewährleisteter Zustellung. Auf letzterem nimmt Edwards 25 Prozent Kommission. „Die Kunden sagen erstmal: ‚Das ist viel.’ Ich erkläre ihnen dann, dass sie nicht 25 Prozent weniger Einnahmen haben, sondern 75 Prozent mehr, weil sie Umsatz machen, den sie ohne uns nicht hätten.“ Aber auch er hatte Restaurants, die sich wieder abgemeldet haben, weil die Bestellungen nicht schnell genug dem gewünschten Niveau entsprachen. „Bei 99 Prozent war es ein Erfolg.“ Die Webseite bietet visuell einen einheitlichen Auftritt, aber den Aufbau der jeweiligen Menükarten übernimmt Foostix von den Restaurants. „Es ist so, als würden die Kunden am Tisch beim Kellner bestellen.“
Obwohl die Idee aus dem Ausland importiert ist, hält er das eigene System im Vergleich zu großen Konkurrenten wie Lieferheld und Co. für innovativ. Nicht nur, was die optimale Auslastung der Fahrer innerhalb ihrer jeweiligen Lieferzonen angeht, sondern auch, was die Anwendungen betrifft. Eltern können dort beispielsweise Beträge in eine Geldbörse vorstrecken, damit sich die Kinder in den Ferien etwas zu essen bestellen können, wenn sie bei der Arbeit sind. Das System ermöglicht Vorbestellungen, während die Restaurants noch nicht geöffnet haben, oder auch Tage im Voraus. Foostix, erzählt Edwards, spreche auch eine ältere Kundschaft an, die nicht mehr selbst kocht. Er erzählt von einem 90-Jährigen, der auf dem Laptop vom Küchentisch aus viermal die Woche bestelle, oft zweit Tage im Voraus. „Wenn er Besuch erwartet, bestellt er einfach ein bisschen mehr.“ Das im Restaurant zubereitete Essen schmecke anders, als Essen auf Rädern, und via Foostix sei es genauso schnell bestellt. Reich ist auch der Internet-Unternehmer Edwards bisher mit seiner Firma nicht geworden. Ein knappes finanzielles Gleichgewicht habe sie erst vergangenes Jahr erreicht.
Angesichts des Erfolges von Foostix oder der Möglichkeit bei Amazon zu verkaufen, die auch Luxemburger Geschäftsleuten offensteht, fragt sich, wieso der Staat hilft, eine separate Initiative zu finanzieren. Patrick Schmit hat das Amazon-Experiment vor zwei Jahren erstmals versucht und zieht mittlerweile eine gemischte Bilanz. Das Hochladen der Produkte geht blitzschnell: Via Smartphone-App scannt er den Barcode, Amazon liefert ein sauberes Bild und die Produktinformationen. Preis bestätigen – das wars! Anfangs, erzählt er, war der Erfolg gigantisch. Als er an einem Herbstabend einen ersten vorsichtigen Versuch mit einem Produkt startete, war beim Aufstehen morgens alles restlos ausverkauft. Innerhalb eines Monats machte er in der Vorweihnachtszeit 200 000 Euro Umsatz, was einem Sechstel seines Jahresumsatzes entsprach. Hektik entstand. Die Zulieferer konnten nicht schnell genug neue Ware liefern, er fuhr selbst wochenends mit dem Laster mehrere hundert Kilometer, um Ware abzuholen und wieder zurück, verbrachte dann Stunden damit, sie versandfertig zu machen. Irgendwann wechselte er zum Prime-Abo, was heißt, dass die Waren bei Amazon eingelagert werden und dort versandfertig gemacht werden. Aber je nach Produktsegment sind die Margen klein und die Tücken im System vielfältig, wie er feststellte. Denn der Preisdruck für die Anbieter ist enorm, Unterschiede im Cent-Bereich führen zu einer besseren Positionierung in den Suchresultaten der Einkäufer, die bei der großen Auswahl auf kleinste Preisvariationen achten. Manchmal sind Produkte auf Amazon billiger zu haben, als sie Schmit bei seinen Zulieferern einkaufen kann. So kommt es, dass die Kommissionen, die Amazon zurückbehält, gerne mal die Marge auffressen. Irgendwann erklärte ihm der Zulieferer seines Bestseller-Produktes, ohne weitere Erklärungen, er könne ihm keine Ware mehr verkaufen. Ungefähr zeitgleich nahm es Amazon ins eigene Sortiment auf. Er zählte eins und eins zusammen.
Was Schmit von den Kunden berichtet, bietet Stoff für einen ganzen Roman über den (schlechten) Zustand der Gesellschaft. Bei Internet-Einkäufen haben Kunden prinzipiell zwei Wochen Zeit, Waren zurückzuschicken – Schuhe, die nicht passen, andere Geräte, die nicht den Erwartungen entsprachen. Amazon, erklärt Schmit, gewährt ihnen oft länger Zeit zum Umtausch und erstattet das Geld zurück, ohne den Zustand der zurückgegebenen Ware zu kontrollieren, beziehungsweise bei Beschwerden über Zustand oder Funktionstüchtigkeit zu prüfen, ob die Geräte tatsächlich beschädigt oder kaputt sind.
Schmit hat alles erlebt: Kunden, die einfach ein altes Gerät anstelle des von ihm verkauften neuen zurückschickten. Kunden, die das Etikett mit der Seriennummer von einem aufs andere Gerät geklebt haben. Solche, die vor den Sommerferien neue Fotoapparate gekauft, damit in den Urlaub gefahren sind, sie danach zurückgegaben – ohne die Memory- Card mit den Schnappschüssen zu entnehmen. In diesen Fällen, erklärt er, habe Amazon den Kunden ihr Geld zurückgegeben. Beziehungsweise seines, das sie von seinem Amazon-internen Händlerkonto abzogen. Auf den Kosten und der unverkäuflichen Ware blieb er sitzen.
Wehren können sich die Händler schlecht, denn wer gegen allzu dreiste Kunden vorgeht, riskiert Vergeltung in Form von schlechten Ratings oder der gefürchteten „A-Z Garantie“. Die Beschwerden könnten dazu führen, dass die Händler vom Verkauf einiger Produkte oder eine zeitlang ganz ausgeschlossen werden.
Was Schmit erzählt, klingt alles ein wenig übertrieben nach Verschwörungstheorie.** Aber es gibt gute Gründe, ihm zu glauben, zahlreiche Hinweise, dass er die Wahrheit sagt. Im vergangenen Mai erhob United States Attorney Josh Minkler im Southern District of Indiana gegen das Ehepaar Erin und Leah Finan sowie gegen Danijel Glumac Anklage, wegen des staatenübergreifenden Transports gestohlener Güter und Geldwäsche. Zusammen hatten sie das von Schmit beschriebene System auf die Spitze getrieben und auf dies Art Elektronikwaren im Wert von 1,2 Millionen Dollar zusammengeklaut und weiterverkauft. Ihnen drohen bis zu 20 Jahren Haft. Daraufhin entstand auf dem Amazon-eigenen Verkäufer-Forum eine Diskussion unter dem Titel: „Wow so it takes 1,2 million in stolen merchandise before Amazon catches on?“ Darin fragten Händler, ob der Betrug Amazon selbst aufgefallen sei oder der Internetriese erst durch den Hinweis der Ermittlungsbehörden darauf aufmerksam wurde. „Imagine if there was a marketplace where sellers were trusted at least as much as customers“, meinte ein Händler. Ein anderer bemerkte: „As they immediately dock our transfer payments for unsettled A-Z cases – it is a relief to know that they also credit back accounts they have been awarded, and were completely at fault in debiting from (the collective) us in the first place.“
Schmit erzielt mittlerweile auch ohne Amazon wesentlich mehr Umsatz. Die Online-Plattform nutzt er nur noch, um ältere Lagerbestände abzusetzen, jeweils mit Seriennummer auf der Rechnung. Sein Prime-Abo hat er aufgegeben, weil er glaubt, dass unehrliche Kunden die Wendungen dieses Systems besonders heimtückisch nutzen – dann nämlich erhält Amazon, nicht der Händler, zurückgeschickte Ware und er kann gar nichts kontrollieren. Dennoch beschäftigt der Versand einen Mitarbeiter mehrere Stunden wöchentlich. Im eigenen Webshop verkauft er an manchen Tagen ein oder zwei Produkte, an manchen gar nichts. Das Projekt Letzshop sieht er kritisch. „Der Aufwand ist zu groß und der Markt ist zu klein.“
Diese Woche kündigte Amazon Medienberichten zufolge an, in Deutschland Buchläden eröffnen zu wollen. Das sei keine Frage des „Ob“, sondern des „Wann“, berichtete beispielsweise die Welt. So schließt sich der Kreis.