Ein patriotisch beflaggter Fahnenmast, akkurat gezogene Wäscheleinen und abgezirkelte Gemüsebeete, ein gepflegter Rasen. Jemand schimpft lautstark mit renitenter Progenitur.
Das kleinbürgerliche Inventar gehört zu den Nachbarhäusern; die Terrasse hinter Claude D. Conters Haus geht in eine rettungslos verbrannte Rasenpartie über, aus der lediglich ein paar Kräuterbeete ragen. Für Gartenarbeit hatte der Leiter des Centre national de littérature dieses Jahr offensichtlich keine Zeit. Im nächsten Sommer sollen hier Obstbäume wachsen, jetzt sitzen die Katzen der Nachbarn auf dem verdorrten Gras. Der Gast möge die Tiere bitte nicht streicheln, damit sie nicht auf die Idee verfallen, als nächstes das Haus zu kapern.
Bedauernd erklärt sich der Gast mit dieser Regelung einverstanden; ohnehin will man arbeiten. Die Fragen stehen fein säuberlich vorbereitet auf einem Blatt; es könnte gleich losgehen, aber dann hat es ganz unversehens schon angefangen. Die „Verankerung des ästhetischen Denkens in der Gesellschaft“ sei ein wichtiges Thema für ihn, sagt Claude D. Conter. Unter diese idealistische Zielvorstellung ließen sich die verschiedenen Aufgabenbereiche des CNL unterordnen. Um zu erklären, was er damit meint, nämlich ein „Denken in Relationen“, holt er etwas weiter aus. Die Literatur sei eine Art Experiment: Anhand der Gesamtkonzeption des Textes setze die Narration einen Rahmen, innerhalb dessen ein Problem verhandelt werde. Sie ermögliche so dem Leser, Ersatzhandlungen und ein Ersatzdenken zu vollziehen, sich in einen Bezug zu den unterschiedlichen Entwürfen der Literatur zu setzen, verschiedene Sichtweisen zu erproben und auf seine Welterfahrung zu übertragen. Der entscheidende Vorteil der Literatur vor der filmischen Erzählweise sei dabei, dass Lesen anstrengender sei. „Lesen ist ein entschleunigter Prozess“, die Zeit und Intensität, derer es bedürfe, um sich mit Literatur zu beschäftigen, mache eine passive Rezeption dessen, was in der Literatur verhandelt wird, weniger plausibel. Das sei, grob gesprochen, der Hintergrund der Arbeit des CNL.
Moment, das wäre doch ein guter Zeitpunkt für die erste Frage. Er lacht und entschuldigt sich. Auch wenn man Claude D. Conter eine gewisse Routine im Geben von Interviews durchaus anmerkt, – er weiß im Vorhinein schon ziemlich genau, was er sagen will – , so ist vor allem das typisch für ihn: seine Beflissenheit, sich selbst hinter seiner neuen Funktion zurückzustellen. Immerhin gab es in den vergangenen Wochen und Monaten ein gesteigertes Interesse an seiner Person. Ist das legitim? Inwiefern beeinflusst die Persönlichkeit des Leiters die Arbeit des Archivs?
Für jemanden, der seine Persönlichkeit gerade nicht öffentlich ausstellen will, muss die Frage etwas unangenehm sein. So schränkt er zunächst ein: Funktion und Mission des CNL seien gesetzlich verankert. Es gehe also in erster Linie nicht darum, wer die Leitung des Archivs innehabe. Auch habe zwar die Person an der Spitze gewechselt, doch das Team sei ansonsten dasselbe geblieben. Das spreche eher für Kontinuität. Lediglich in der Handhabung der einzelnen Aufgaben des Archivs, dadurch etwa, welche Projekte er vorziehe, könne er einen persönlichen Einfluss nehmen.
Auf die Nachfrage, welche Ziele er sich denn als Leiter des Archivs gesetzt habe, weiß er sofort mehrere Antworten: Im Bereich der Grundlagenforschung sei durch das Autorenlexikon, das mittlerweile in zwei Sprachen online und bald auch als App verfügbar sei, eine wichtige Basis gelegt worden. Damit sei der Weg zu einer luxemburgischen Literaturgeschichte geebnet. Sein Ziel sei eine Literaturgeschichte als Sinngeschichte, die die Literatur in den drei Sprachen umfasse. Das stelle eine große Herausforderung dar, die nur in einer Gruppe bewältigt werden könne, eigentlich die „Königsdisziplin“ für Literaturwissenschaftler und eine Arbeit, die auf mindestens zehn Jahre angelegt werden müsse.
Eine der Katzen schlunzt um den Tisch und spekuliert miauend auf Salami oder Schinken. Der Hausherr lässt sich nicht irritieren. Als weiteres Ziel bezeichnet er die Literaturvermittlung, vor allem in den Schulen. Als Student sei es ihm peinlich gewesen, nichts über Literatur und Geschichte seines Landes erzählen zu können; so ginge es mit Sicherheit immer noch vielen Studenten. Während es zum Beispiel im Deutschunterricht an luxemburgischen Gymnasien völlig normal sei, österreichische und schweizerische Autoren als Teil der deutschen Literatur zu behandeln, blieben Luxemburger Autoren gewöhnlich außen vor, – sogar wenn sie in Deutschland lebten und publizierten. Das CNL wolle in Zukunft Lehrer zur Behandlung Luxemburger Autoren im Unterricht anregen, etwa durch die Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien.
Die dritte große Herausforderung bestehe in der Digitalisierung. Man wolle sich im CNL darauf einstellen, in absehbarer Zeit Nachlässe nicht nur in Form von Manuskripten auf Papier zu verwalten, sondern auch in Form von Festplatten. Man arbeite in dieser Hinsicht bereits eng mit Archiven aus dem Ausland zusammen.
Es ist nicht leicht, ein Gespräch mit Claude D. Conter zu führen, wenn ständig der Leiter des Literaturarchivs antwortet, zumal, wenn einem beim Schreiben mittlerweile eine fremde Katze über die Schulter linst. In einem Interview wolle er sich auf eine solche Trennung lieber nicht einlassen, sagt er. Alles, was er über seine private Lektüre preisgebe, werde fast unweigerlich offiziell, im Sinne einer Empfehlung wahrgenommen. In einer solchen Rolle gefalle er sich nicht.
Da sich der Gastgeber durch ein Übertreten des Streichelverbots nicht aus der Ruhe bringen lässt, kann man vielleicht auch eine forschere Frage anbringen: Will er denn, wenn er seine literarischen Vorlieben für sich behalten will, wenigstens ein paar Bildungslücken beichten? – Kein Problem. Den Mann ohne Eigenschaften und den Ulysses habe er nicht gelesen. „Aber ist das schlimm?“ fragt er zurück. Elias Canetti sage sinngemäß, man lese das Richtige immer zum richtigen Zeitpunkt. Darüber hinaus faszinierten ihn Kanondebatten. Der Kanon verspreche ja einerseits Orientierung, mache aber andererseits ein schlechtes Gewissen. Er habe sich in seiner Laufbahn immer wieder bewusst mit Autoren befasst, die vom Kanon in die zweite oder dritte Reihe verfrachtet worden seien, die seien genauso interessant wie die so genannten Klassiker.
Diese Einschätzung verhindere nicht seine Überzeugung, dass man in Luxemburg einen Kanon etablieren müsse, um mehr Leser für die einheimische Literatur zu gewinnen. Da müsse man sich im Vorhinein allerdings Gedanken über die angemessenen Kriterien machen. Meist gelangten ja nicht unbedingt die Werke in den Kanon, die bei ihrem Erscheinen am erfolgreichsten gewesen seien. Er finde das bedenklich.
Ganz schnell schweift das Gespräch wieder in die Richtung seiner Funktion als Archivleiter. Da gilt es jetzt, ganz schnell einzuhaken. Ob es ihn nicht reize, auch einmal die produktive Seite der Literatur zu erkunden? Nein, wehrt er ab, momentan könne er sich das wirklich nicht vorstellen. Von den Autoren sei er „grundverschieden“. Er habe Ehrfurcht vor dem kreativen Prozess, bedauere aber nicht, ihn nicht selbst vollziehen zu können.
Spaßeshalber beenden wir das Interview mit dem Fragenkatalog von Bernard Pivot, den James Lipton immer am Ende seiner Gespräche mit berühmten Schauspielern in der Sendung Inside the Actors Studio anbringt. Als Lieblingswort fällt „indes“, als persönliches Unwort „bestimmt irgendein wissenschaftliches“. Auf die Frage allerdings: „Which sound or noise do you hate?“ antwortet der Gastgeber prompt: „Katzenmiauen“.