Ein Kauz ruft hoch oben aus dem finsteren Wald und sein Klagen ist in der Stille des Tals zu hören. Wenn es dunkel geworden ist, liegt Lasauvage noch mehr aus der Welt oder wenigstens aus dem Großherzogtum. Lange galt das Dorf als einzige Ortschaft des Großherzogtums, in der Französisch gesprochen wurde, und nach dem deutschen Überfall 1940 wollte sich die Großherzogin in das fast schon in Frankreich liegende Lasauvage zurückziehen, um eine französische Gegenoffensive abzuwarten, die nie kam. Das stattliche Kasino, die solide Schule, die Villen erzählen vom Reichtum einer Zeit, als Grafen und Barone Schmelzen und Bergwerke op der Zowaasch besaßen.
In dem jahrelang leerstehenden Pfarrhaus neben der Dorfkirche ist heute ein Hotel untergebracht, das Lasauvage dem Fremdenverkehr erschließen soll. Der millionenteure Bau und die Wahl der Pächterin hatten für Kritik am damaligen Differdinger DP-Bürgermeister Claude Meisch gesorgt. Deshalb fuhr die Differdinger DP-Sektion am Dienstagabend fast trotzig nach Lasauvage zu ihrer Jahresversammlung.
Aber allzu viele Mitglieder sind nicht erschienen, kaum mehr als die 29, die alle Vorstandsmitglieder werden wollten und es, vielleicht nicht ganz statutenkonform, werden sollten. Die Geschäftsleute, Lehrer, Selbstständigen, der eine oder andere ehrgeizige Student sitzen an vier kurzen Tischreihen im moderat modernen Versammlungssaal unter dem Dach, einige versinken in schweren Sitzgarnituren entlang der Wände, andere hören neben der unvermeidlichen Topfpflanze an der Rückwand zu.
Eine Kellnerin verteilt Mineralwasser, einige Vorstandsmitglieder legen Wahlzeitungen, Kugelschreiber und Notizblöcke aus, dann begrüßt Sektionspräsident François Meisch die Anwesenden. In den jungen Mann mit dem gegelten Haar setzen die Differdinger Liberalen und die Landespartei all ihre Hoffnungen. Er muss die Schmach rächen, die sie vor vier Jahren erlebt hatten. Er soll am 8. Oktober Bürgermeister der drittgrößten Stadt des Landes werden. Das wünscht die Partei so und das wünscht vor allem seine Familie so.
Denn ihm gegenüber in der zweiten Reihe sitzt sein Vater Marcel Meisch. Der Juwelier aus der Freiheitsavenue und Lokalpatriarch der DP ist müde geworden und offiziell nur noch Kassenrevisor der Sektion. Er war bis vor drei Jahren deren Präsident, bis zur Implosion des liberalen Differdingen, während Jahren landesweit der Stolz der DP. Dann trat er den Sektionsvorsitz kurz an Gemeinderat Pascal Burger ab, bis die Familie Meisch ihn wieder übernahm. Sektionspräsident François Meisch bereitet sich nun darauf vor, als Bürgermeisterkandidat der größten Differdinger Partei in den Wahlkampf zu ziehen. Zu diesem Zweck ist er auch nicht mehr Gemeindebeamter unter dem neuem Bürgermeister, sondern Gemeindesekretär in Garnich.
Aber wird François Meisch den ihn gestellten Erwartungen gerecht werden können? Angestrengt liest er seine Ansprache von einer Vorlage ab. Wenn er sich entrüstet oder energisch gibt, die Stirn in Falten legt, dann wirkt das nur aufgesetzt. In einem Zitat verheddert er sich gleich. Er soll Bürgermeister werden, ohne jemals dem Gemeinderat angehört zu haben. Sein einziges Kapital ist der Markenname Meisch, die Ähnlichkeit mit seinem älteren Bruder, der als Minister nicht kandidieren kann.
Minister Claude Meisch, der eigenhändig die Kandidatenliste für die Gemeindewahlen aufzustellen versucht, kam seinem Bruder am Dienstag zu Hilfe. Er winkte mit dem Zaunpfahl, dass „die DP auch in der Regierung Politik für Differdingen macht“, wie das internationale Lyzeum, die Umgehung Foussbann und die Gemeindefinanzreform zeigten, die der Stadt sieben Millionen Euro mehr einbrächte.
Doch bis vor kurzem interessierte sich François Meisch weniger für Politik als für Schlagermusik und sang sich als Robbie-Williams-Imitat in die Herzen seines Publikums. Nun muss er Wort für Wort herunterlesen, wie dynamisch sich Differdingen unter seinem Bruder entwickelt, wie er die Stadt modernisiert habe. Ohne die DP hätte es kein neues Fußballstadion, keinen neuen Stadtkern und kein Erlebnisbad gegeben. „In der Kreativfabrik 1535“, der für Jungunternehmer der Werbe- und Designbranche eingerichteten Werkhalle der Stahlindustrie und Symbol liberaler Modernisierung, „arbeiten bald mehr Leute als im Stahlwerk“.
Tatsächlich gehört das für seine riesigen Grey-Träger bekannte Differdinger Walzwerk bis heute zum Stolz der Luxemburger Stahlindustrie. Zur Tradition der Stahlindustrie und des Bergbaus, zur Arbeiterbewegung in der „Cité du fer“ gehörte, dass sie einst von einer Linkskoalition aus Sozialisten und Kommunisten geführt wurde. Bis der Arbeitsplatzabbau in der Stahlindustrie begann, die LSAP keinen Nachwuchs fand und die KPL von den umherfliegenden Trümmern der Berliner Mauer getroffen wurde. So begann der Abstieg der LSAP, die binnen 30 Jahren ihren Stimmenanteil halbierte, und der Aufstieg der DP.
2002 wurde der damals 30 Jahre alte Bankangestellte Claude Meisch Bürgermeister und mit seiner jugendlichen Dynamik und seinem modischen Dienstleistungsliberalismus vermittelte er die sehnlichst erwartete Aufbruchstimmung in der Verdrießlichkeit des industriellen Niedergangs. 2005 bekam er es gedankt, als die im Süden oft als Mittelstandspartei marginalisierte DP mit 43 Prozent ihren Stimmenanteil verdoppelte. Auch wenn er später den Rang von seinem Kumpan Xavier Bettel abgelaufen bekam, nutzte Claude Meisch seinen kommunalpolitischen Erfolg für den nationalpolitischen Aufstieg – der den Differdinger Liberalen dann zum Verhängnis wurde, als er 2013 Minister wurde.
Denn es war der DP nicht möglich, den Bürgermeister zu ersetzen und die Koalition fortzusetzen. Hinter der modischen Kulisse des New public management in der Arbeiterstadt zeigte die DP wieder ihr altes Gesicht als Notabelnpartei, die die Gemeinde zwar als Dienstleistungsunternehmen, aber auch als Familienbetrieb führte. Monatelang stritten die Liberalen um das Bürgermeisteramt und die Posten im Schöffenrat. Der Siebtgewählte, der Hausarzt John Hoffmann, wurde nur von der Hälfte der Sektion zum Bürgermeisterkandidat vorgeschlagen. Der Neuntgewählte, Vater Marcel Meisch, konnte nur mit Unterstützung des neuen LSAP-Innenministers in den Gemeinderat kommen und Anspruch auf einen Schöffenposten erheben. Schöffe sollte auch der Zehntgewählte, Pascal Burger, werden, Bessergewählte sollten wieder leer ausgehen. Martine Goergen löste ihren Pacs mit François Meisch auf, um neben dessen Vater Marcel Meisch in den Gemeinderat nachrücken zu können. Mit ihr, Arthur Wintringer und Jos Glauden als neue Räte bleiben der Partei nur noch zwei Ersatzkandidaten bis zum Jahresende übrig.
Als das dynastische System der Familie Meisch zu schwächeln begann, trauten sich seine Opfer plötzlich zu meutern oder traten zurück, ein Überläufer machte sich wieder aus dem Staub. Dass der Streit bis heute nicht beigelegt ist, musste Marcel Meisch zugeben, als er am Dienstag beklagte, dass einige DP-Räte sich weiter weigerten, ihr Sitzungsgeld an die Partei abzuführen, natürlich „immer dieselben“. Dabei waren Parteipräsidentin Corinne Cahen, Minister Claude Meisch sowie die Südabgeordeten Eugène Berger und Gusty Graas zur Versammlung gekommen, um besorgt der zerstrittenen Sektion Mut zuzusprechen.
Als die DP sich nach dem Abgang des Bürgermeisters als handlungsunfähig erwiesen hatte, schlug wieder die Stunde des grünen Koalitionspartners. Er hatte einst der DP geholfen, die LSAP auszubooten, nun bot er der LSAP und der CSV eine Koalition zum Preis an, dass er als drittstärkste Partei mit Roberto Traversini den Bürgermeister stellen durfte. Seither ist die größte Partei des Gemeinderats in der Opposition – so wie in der Hauptstadt die größte Partei des Parlaments. Doch nach den Wahlen dürfte sie nur schwer zu umgehen sein.
Sektionspräsident François Meisch nannte den von der Familie Meisch und ihren Rivalen begangenen politischen Selbstmord am Dienstag einen „Putsch“. Der Abgeordnete Gusty Graas wollte sich da vorsichtiger ausdrücken, weil er in Bettemburg an ähnlichen Manövern beteiligt war. Doch mit einer kleinen blauen Parteifahne im Rücken zog François Meisch stolz „Bilanz von 20 Jahren DP in Differdingen“, so als hätten die vergangenen vier Jahren nie richtig stattgefunden, als sei die DP nie richtig in der Opposition gewesen.
Aber vielleicht hat der liberale Nachwuchspolitiker nicht ganz Unrecht. Denn so wie die DP mehr den Schöffenrat als seine Politik in Frage stellt, tut auch Bürgermeister Roberto Traversini so, als setzte er nur die Politik fort, die er schon als Schöffe mit dem Koalitionspartner DP begonnen hatte. Die DP verzeiht es ihm jedenfalls nicht und wirft ihm in ihrer Wahlzeitung noch einmal seitenlang vor: „Gelder, die Roberto Traversini im Juni 2014 eigenhändig entgegennahm, hatten bis zum 31. Januar 2017 den Weg noch immer nicht in die Gemeindekasse gefunden.“