Der Rundgang beginnt mit der detaillierten Handzeichnung einer Übersichtskarte des tunesischen Flüchtlingslagers Choucha, die großformatig auf die Wand reproduziert wurde. Die Einbeziehung verschiedener Darstellungsformen spielt in der Ausstellung Empire des französischen Fotografen Samuel Gratacap im Mudam eine wichtige Rolle. Kuratiert von Café-Crème und Christophe Gallois ist dies die erste einer Vielzahl von Ausstellungen, die im Rahmen des diesjährigen European month of photography zu sehen sind. Gratacaps Bilder sind das Resultat eines Langzeitprojekts, bei dem der Fotograf in den Jahren 2012 bis 2014 mehrfach in das UNHCR-Flüchtlingslager Choucha reiste. Nachdem das ursprünglich als Notlager gedachte Camp 2013 offiziell geschlossen wurde, blieben hunderte Flüchtlinge, die unter menschenunwürdigen Umständen dort weiterlebten. Auch Gratacap blieb und dokumentierte. Sein erklärtes Ziel ist es, „den individuellen Erfahrungen der Menschen angemessen Ausdruck zu verleihen“. Ob das bei dem gerade in der Darstellung so sensiblen Thema gelingt?
Den Hauptteil der Serie bilden großformatige Farbfotografien von reduzierter Bildsprache, gehängt in verschiedenen Höhen und Abständen. Die fragmentierte Hängung spiegelt den Inhalt der Bilder: Sieht man doch ganz verschiedene Szenen aus dem Lager, wie etwa Zelte und Plastikplanen, die Hände einer Runde Kartenspieler oder Essen, das zubereitet wird. Dazwischen sind immer wieder Menschen zu sehen, zumeist in Ganzkörperaufnahmen vor dem warmen blass-beigen Hintergrund der tunesischen Wüstenlandschaft. Gratacap ist die respektvolle Darstellung der Flüchtlinge ein Anliegen. Statt sie zur Schau zu stellen, werden sie oft von hinten oder im Profil gezeigt. In einzelnen, besonders herausstechenden Bildern sind Körper oder Gesicht durch schmuckvolle Tücher verhüllt. Diese ungewöhnliche Darstellung verleiht den Bildern eine starke Wirkung und anonymisiert die Gezeigten auf würdevolle Weise. Die Personen stehen oder bewegen sich auf verlorene Weise im Wüstensand. Die Ungewissheit des bangen Wartens auf den Asylentscheid wird so ersichtlich. Die ruhigen, hellen Bilder sind mit den pastelligen Farben von einer bestechenden Schönheit, wobei der Druck auf mattes Papier und der Verzicht auf Glas und Rahmung die reduzierte Ästhetik in der Reproduktion konsequent fortsetzen.
Einen methodisch interessanten Teil bilden die beiden Gruppen an Polaroid-Aufnahmen, auf denen jeweils ein Bewohner des Lagers oder eine Behausung zu sehen sind. Quadratisch gruppiert und von hell nach dunkel sortiert, fügen auch diese Bilder sich in die angenehm unkonventionelle Hängung der Ausstellung ein. In ihrem minimalistischen Bildaufbau stellen sich die kleinformatigen Sofortbilder dabei als Miniaturskizzen der großen Fotografien heraus und zeugen, wie die Übersichtskarte, von der sorgsamen Beschäftigung Gratacaps mit seiner Umgebung und deren Darstellung.
Doch der Künstler belässt es nicht beim rein fotojournalistischen Blick auf die Flüchtlinge, sondern lässt ihnen Raum, selbst zu Wort kommen. Neben einer kleinen Videoinstallation, die eindrucksvoll die hektische Anlandung mehrerer vollbesetzter Schlauchboote dokumentiert, befindet sich im Nebenraum eine größere Filmprojektion mit persönlicheren Szenen aus dem Camp. An den Wänden sind Augenzeugenberichte nachzulesen, in denen die Betroffenen ihre Hoffnungen schildern, die sie zur Flucht aus ihrer Heimat bewegt haben. Frust und Wut treten darin deutlich zutage, wenn etwa Omar insistiert, er bliebe „nicht mal eine Viertelstunde, um hier in diesem Elend zu leben“, hätte er nur eine sichere Heimat, in die er zurückkehren könnte. Das lange Warten auf Flüchtlingsstatus oder Ablehnung, die Gängelei der Befragung zehren an den Lagerbewohnern: „Es geht darum, uns zu unterdrücken [...]. Sie wollen, dass wir verschwinden.“ Schwer wiegt ihre Enttäuschung über das UNHCR, dem vorgeworfen wird, es habe sich nicht um die Zustände gekümmert und die Diskriminierung innerhalb des Lagers durch die strenge Statusvergabe gefördert.
So ist schließlich auch eine Wand beklebt mit Fotografien einzelner Details eines großen Protestplakats. Die Fragmentierung setzt eine konzentrierte Betrachtung voraus, um aus den einzelnen Wort- und Satzfetzen die Gesamtaussage herauszulesen. Gratacap fordert hier vom Betrachter beispielhaft ein, was ihm die Ausstellung im Ganzen dank der intermedialen Verschränkung von Zeichnung, Fotografie, Text und Video bietet: eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Thematik, die in ästhetisch ansprechender Weise mit ausgesprochen starkem dokumentarisch-künstlerischem Potenzial repräsentiert wird.
Samuel Gratacaps Austellung Empire dauert noch bis zum 14. Mai im Mudam. Donnerstag bis Montag: 10 bis 18 UhrMittwoch: 10 bis 23 Uhr; www.mudam.lu Begegnung mit Samuel Gratacap am 28 April um 11 Uhr im Mudam.