Wahlen 2013 und Bildungspolitik: Die Sekundarschulreform ist tot, es lebe die Sekundarschulreform

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d'Lëtzebuerger Land vom 20.09.2013

Bis November hofft Mady Delvaux-Stehres noch zu haben, um ihre bildungspolitischen Hausaufgaben zu erledigen. Ihre schwierigste, die Reform der Sekundarstufe, wird sie nicht mehr machen. „Das bedauere ich am meisten“, sagte die Unterrichtsministerin im Gespräch mit dem Land. Mit den Neuwahlen im Oktober wurde der legislative Prozess gestoppt und damit ist ihr umstrittener Gesetzentwurf auf Eis gelegt.

Was aber nicht heißt, dass ihre Ideen komplett vom Tisch sind. Sie erleben vielmehr eine überraschende Auferstehung. Wer die Wahlprogramme zumindest der vier großen Parteien liest, wird feststellen, dass insbesondere die Opposition vieles, was die Ministerin in den vergangenen Jahren angestoßen hat, in ihren Programmen übernommen hat. Zwar wird geschimpft über „zahlreiche unausgegorene Reformen“ (DP) oder „zu viele tiefgreifende“, parallel losgetretene Reformen (Déi Gréng), aber dass Luxemburgs Schullandschaft erneuert werden muss und auch die Sekundarschulen davon nicht ausgespart werden dürfen, darüber herrscht allgemeiner politischer Konsens.

So treten die Grünen ein für ein Tutorat, ebenso wie die DP, die „gegen Experimente an Kindern“ zetert, sich aber ebenfalls für die Einführung eines Tutorats ausspricht, möglicherweise sogar auf den oberen Klassen. Erstaunlich bescheiden: Déi Lénk wollen lediglich „Inhalte und Methoden“ auf der Sekundarstufe ändern. Auf ihrer Kandidatenliste stehen etliche aktive SEW-Gewerkschafter.

Es gibt auch programmatische Unterschiede: Die von den Liberalen geforderte Alphabetisierung auf Französisch stand unter der liberalen Unterrichtsministerin Anne Brasseur bereits im Programm, ohne jedoch umgesetzt zu werden. Mittlerweile haben selbst die Sozialisten diesen Vorschlag übernommen. Wenngleich weniger aus Überzeugung – Mady Delvaux-Stehres und Ben Fayot standen dem skeptisch gegenüber, „weil man das zu Ende denken muss“, wie Delvaux meint, sondern eher als Zugeständnis an die Parteibasis – und aus wahltaktischen Gründen: dass der Sprachenunterricht gründlich überdacht werden muss, ist der politische Minimalkonsens, der sich nach Jahren mühseliger Reformdebatte herausgeschält hat.

Die DP setzt auf mehr Schulautonomie, betont die Rolle des Lehrers für Schulentwicklung und -qualität und fordert eine „hochwertige und komplette Lehrerausbildung“, in der die Didaktik gestärkt werden müsse. Déi Gréng wollen, wie déi Lénk, „alle schulpflichtigen Kinder nach dem Modell einer Gesamtschule möglichst lange gemeinsam unterrichten“. Grüne, DP und Linke wollen die Éducation différenciée in der Grundschule verankern, die beiden Erstgenannten befürworten Direktoren.

Die CSV stellt ihr komplettes Wahlprogramm an diesem Wochenende vor, im Vorfeld sorgte vor allem ihr Bekenntnis zur Einführung eines allgemeinen Werteunterrichts auf der Sekundarstufe (nicht in der Grundschule) für Aufmerksamkeit. Die CSV und die ADR sind die einzigen Parteien, die am Religionsunterricht in der Schule festhalten.

Dass die Christlich-Sozialen auf Grundschuldirektionen beharrten, war eine der wenigen offenen Meinungsverschiedenheiten mit der LSAP-Ministerin. Delvaux hat ihren Koalitionspartner bemerkenswerterweise nie öffentlich kritisiert; und dieser hatte sich all die Jahre auf dem bildungspolitischen Plan auffällig zurückgehalten. Sogar bei einem ihrer letzten Rentrée-Interviews im Radio 100,7 vergangene Woche umkurvte die scheidende Ministerin diplomatisch jedes politische Fettnäpfchen, indem sie lediglich sagte, sie hätte sich „von allen Seiten“ mehr Unterstützung gewünscht.

Das kann durchaus auch als Kritik an die eigene Partei gelesen werden. Denn obschon Parteiführung und -basis die Verdienste ihrer Kollegin auf Kongressen in den vergangenen Wochen mit Standing ovations bedachten: Im Herbst 2011, als es für Delvaux wirklich brenzlig wurde, war von Beifall wenig zu hören. Es war ihr alter Freund und Weggefährte Jean-Claude Juncker, der in Schröderscher Basta-Manier rumpelte, dass die Reform der Sekundarstufe kommen werde. Ihre eigenen Parteigenossen waren da, vom tapferen Soldaten Fayot abgesehen, feige abgetaucht.

Wenn die LSAP-Politikerin im Herbst das Ministerium am Aldringer Platz an ihren Nachfolger oder ihre Nachfolgerin abgeben wird und sie der aktiven Politik den Rücken zukehrt, geht sie den Genossen doch nicht ganz verloren: Der bildungspolitische Teil des aktuellen LSAP-Wahlprogramms trägt erkennbar ihre Handschrift – und die ihres politischen Mentors und treuesten Verbündeten Ben Fayot.

An der geplanten Reform der Sekundarschule halten die Sozialisten selbstverständlich fest – und sie schreiben sie ganz im Sinne Delvauxs fort: mehr Allgemeinbildung, weniger Spezialisierung, eine schülerorientierte Betreuung mit Tutorat und Ausbildungsprojekt stehen im Programm. Die Sonderschule soll „näher an die Grundschule herangeführt“ werden, was immer das heißen mag. In den Sekundarschulen sollen multiprofessionelle Teams Lehrer bei schwierigen Fällen unterstützen.

Doch obwohl sich die LSAP als „Vorreiterin im Bereich der pädagogischen Innovation und Schulentwicklung“ selber lobt: neue Ideen sucht man vergebens. Das mag daran liegen, dass die Beratungen zum Wahlprogramm bereits vor über einem Jahr begonnen haben, wie Delvaux betont. Entscheidender dürfte aber sein, dass die internen Diskussionen der Arbeitsgruppe Schule von Delvaux und Fayot maßgeblich geprägt wurden und ergo das entsprechende Kapitel im Wahlprogramm bekannte Schwerpunkte – und Schwachstellen – widerspiegelt: über die Lehrerausbildung beispielsweise, von Delvaux in ihrer Amtszeit vielleicht am ehesten vernachlässigt, steht wenig im Programm. Mady Delvaux-Stehres selbst verteidigt sich gegenüber dem Land: „Die Lehrerausbildung war immer wieder Thema. Wir haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass die Situation nicht zufriedenstellend ist.“

Ein anderes Herzensanliegen der Ministerin, mehr Flexibilität im Sprachenunterricht auch im Classique, fehlt im Wahlprogramm ebenfalls. Dort ist nur vom Technique die Rede. „Da muss etwas schief gelaufen sein“, sagte Delvaux-Stehres irritiert. Überzeugend klingt das nicht. Vielmehr scheint hier einmal mehr ihre pragmatische Seite Feder geführt zu haben: Die Kämpfe mit den Gewerkschaften sind so weit geschlagen, der zuletzt präsentierte Gesetzentwurf, der differenzierte Sprachenkompetenzen nur im Technique vorsieht, ist der Kompromiss, der wahrscheinlich am ehesten eine politische Mehrheit gefunden hätte.

Dass Delvaux eher realistische Ziele anstrebt, anstatt große Visionen zu entwerfen, hat sie selbst oft genug bekräftigt. Nach rund 20 Jahren in der nationalen Politik weiß die 62-Jährige, was im konservativen Luxemburg geht – und was nicht. „Ich habe genügend Erfahrungen gesammelt.“ Einschneidendes Erlebnis in ihrer bildungspolitischen Laufbahn dürfte der Streit um die Sekundarschulreform gewesen sein: Großdemonstration, monatelangen Streit mit der der LSAP ideologisch an sich nahe stehenden OGBL-Lehrergewerkschaft SEW, der schließlich im offenen Bruch endete – und in einem deutlich abgespeckten Kompromiss mündete. Auch eine sich erneuert gebende LSAP unter einem kämpferischen Spitzenkandidaten Etienne Schneider hat offenbar nicht vor, darüber hinaus zu gehen. Bloß keine schlafenden Löwen wecken.

Und wer hätte auch neue Ideen für die LSAP bringen sollen? Als die Beratungen in den internen Arbeitsgruppen begannen, waren viele Kandidaten noch nicht gesetzt. Die ehemalige RTL-Journalistin Francine Closener etwa, die in ihrem Blog Erziehung und Bildung als „zentrale Themen“ im Wahlkampf und als ihr „Dada“ nennt. Auf die programmatischen Inhalte hatte sie eigenen Aussagen zufolge keinen Einfluss, sonst hätte sie vielleicht andere Akzente gesetzt. „Die Ausbildung der Lehrer ist ganz wichtig, viele waren von den vielen Änderungen überfordert“, analysiert Closener, die die Schuldebatte „nicht alleine dem Lehrpersonal überlassen“ will und vor allem verständliche Zeugnisse in der Grundschule sowie eine qualitativ hochwertige Früherziehung fordert. Aber nicht gratis. „Das ist Quatsch. Guter Service kostet.“ Closener ist für eine soziale Preisstaffelung, Alleinerziehende sollten besonders unterstützt werden, findet sie. Ins LSAP-Team berufen wurde die 43-Jährige von Etienne Schneider persönlich, eine Frau mehr auf den sonst recht männerlastigen Kandidatenlisten der Sozis. Da schon hatte Closener keinen Hehl aus ihrem Interesse für Erziehungsfragen gemacht, auch bei RTL griff sie das Thema regelmäßig auf.

Die (ebenfalls männlich dominierte) Parteiführung und Fraktion haben eine Vorentscheidung jedoch bereits getroffen: Bei Anruf präsentiert sich Claude Haagen, Bürgermeister von Diekrich, als bildungspolitischen Nachfolger Delvauxs: „Ich bin der bildungspolitische Sprecher meiner Partei. Das hat die Fraktion so entschieden“, betont Haagen. Bisher ist der Sozialist, der für seine Partei im parlamentarischen Schulausschuss sitzt, nicht durch große Aktionen aufgefallen, zu sehr stand er im Schatten Fayots. In den kommenden Wochen ist Haagen Gast diverser Rundtischgespräche, ein erstes wird am Samstag auf 100,7 ausgestrahlt. Gefragt, warum er die Chance nicht nutzt und beispielsweise weitergehende Änderungen für die fällige Sekundarschulreform fordert, von der die Ministerin selbst sagt, sie sei „eigentlich keine Revolution“, antwortet Haagen: „Ich bin Lehrer. Es muss auch realisierbar sein.“ Was wohl heißen soll, dass von Lehrern keine großen Entwürfe zu erwarten sind? Oder er sich als der ideale Nachfolger für die sozialistische Bildungspolitik in Szene setzen will.

Ines Kurschat
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