Großbritannien und die EU

Die Macht des Diffusen

d'Lëtzebuerger Land du 21.06.2019

Er hat am Dienstagabend seine Pfründe abgesteckt: Im Rennen und das Amt des Tory-Parteichefs und künftigen britischen Premiers hat der ehemalige Ex-Außenminister Boris Johnson bei der ersten Abstimmung einen Erfolg errungen. 126 der 313 Stimmen aus der konservativen Fraktion im Londoner Unterhaus konnte Johnson auf sich vereinen. Damit gilt er als kaum noch zu schlagen. Gefährlich werden könnte ihm nur noch Überraschungskandidat Rory Stewart, der immerhin 37 Stimmen erhielt. Stewart hat sich als Mann der Vernunft und Kandidat der Mitte positioniert.

Für Brüssel bedeuten die ersten Signale aus London, dass sich die EU wohl auf Johnson als künftigen Premier einstellen muss. Und das heißt: auf gar nichts. Denn Johnson will, falls die EU den Brexit-Deal nicht doch noch nachverhandelt, auch ohne Vertrag am 31. Oktober Großbritannien aus der EU austreten lassen. Oder vielleicht doch mit Vertrag? Wichtigstes Druckmittel für ihn: Geld. Er möchte die vereinbarten Ausstiegszahlungen in Milliardenhöhe so lange nicht bezahlen, bis es bessere Bedingungen und „mehr Klarheit“ über das weitere Vorgehen gäbe. „Für den Abschluss eines guten Deals ist Geld ein großartiges Lösungs- und ein großartiges Schmiermittel“, sagte Johnson. Er habe es immer merkwürdig gefunden, den gesamten Scheck zu unterschreiben, bevor ein endgültiges Abkommen unterzeichnet sei.

Brüssel hingegen pocht darauf, dass London eine Schlussrechnung zu begleichen habe in Höhe von 44 Milliarden Euro für seinen Anteil an gemeinsam getroffenen Finanzentscheidungen – etwa für den EU-Haushalt, gemeinsame Fonds und Pensionslasten. Auf der anderen Seite möchte Johnson – sobald er zu den Verhandlungen in Brüssel empfangen wird – der EU mit „größtmöglicher Freundlichkeit begegnen“, „mit Optimismus“ und mit „Elan“. Doch die Zeit wird knapp. Erst Ende Juli wird die entscheidende Wahlrunde stattfinden, dann beginnt in London wie in Brüssel die Sommerpause und erst Anfang September könnten Gespräche mit der Europäischen Union aufgenommen werden.

Boris Johnson in Brüssel. Da kommt kein Unbekannter, auch wenn er gerne über seine Zeit als Außenminister schweigt, so hat er doch einen bleibenden Eindruck an Pleiten, Pech und Pannen hinterlassen. Um diese Bilanz wett zu machen, wird er seine Markenzeichen ausspielen: überwältigende gute Laune, grenzenloser Optimismus und vor allen Dingen wenig politische Substanz. Es kommt ein Hoffnungsträger, der den Tories zugesagt hat, dass sie wieder Wahlen gewinnen wird, ein Getriebener, der liefern muss, was er großspurig versprochen hat, und ein Gehetzter, dem Nigel Farage mit seiner Brexit-Partei die politische Agenda vorgibt. Um alle diese Erwartungen zu erfüllen, hat sich Johnson in den letzten Wochen mit seinen berüchtigten Knalleffekten auf dem politischen Parkett zurückgehalten.

Die Verantwortlichen in Europa müssen sich aber auch auf einen Mann der „gespaltenen Zunge“ einstellen, der sich selten „um sein Geschwätz von gestern“ kümmert. So heißt es am Montag, dass ein No-Deal-Brexit für ihn unausweichlich sei, am Dienstag sieht er Bewegung bei allen, denn schließlich wolle Brüssel selbst einen harten Brexit genauso wenig wie er. Um als Verhandlungspartner jedoch ernst- und wahrgenommen zu werden, müsse sich Großbritannien jetzt schnell und gründlich vorbereiten. Für einen harten Brexit. Ohne Vertrag. Doch dann kursiert da eine Kabinettsvorlage, die von der Financial Times in Umlauf gebracht wurde, die verdeutlicht, dass es so schnell mit dem flotten Ausstieg aus der EU eben gehe. So rechne beispielsweise die Pharma-Industrie mit einem Zeitraum von sechs bis acht Monaten bis sie sich auf die neuen Grenzen in Europa eingestellt habe.

Dennoch: Die Tories glauben ihm. Beinahe alle Tories: Den Hardlinern bietet er scharfe Sprüche zum Brexit, den Reichen und Schönen hat er bereits kräftige Steuersenkungsversprechungen gemacht, den Moderaten gibt er den Traditionalisten vor, den Städtern erzählt er von einem neuen „konservativen Europäismus“, was immer das auch sein mag. Ihnen allen gilt er aber wieder als starker Mann, der das Land führt, das vom Brexit zermürbt ist, desillusioniert, politikverdrossen und das dann gerne markige Sätze zum ehemaligen Empire hören mag. Dabei verzeiht das Volk Johnson viel, etwa die Lüge von 2016 über den britischen EU-Beitrag von 350 Millionen Pfund, die anderweitig für das marode Gesundheitssystem bereitstünden. Davon ist, wie von vielen anderen Versprechen, längst keine Rede mehr.

Doch es gibt auch auf dem Kontinent mehr als einen Politiker, der bewundernd nach London schielt, wie schnell sich ein vermeintlich starker Mann etablieren kann und wie unilateral es sich dann regieren lässt. Doch es gibt keine schnellen, einseitigen Lösungen für die großen Fragen dieser Zeit – sei es die soziale Gerechtigkeit, die Migration oder die nationale Selbstbestimmung in einer durch internationale Organisationen verwobenen Welt. Der Streit über Europa spaltet das Land zutiefst. Und auch hier ist keine schnelle Heilung in Sicht. Denn, wenn es auch Ende Oktober zum Brexit kommen sollte, beginnt dann erst der eigentliche Ausstieg, in dem Brüssel und London ihr Verhältnis neu ordnen, in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik etwa, wie im Handel oder bei Forschungskooperationen.

All das muss Boris Johnson dann stemmen. Doch mit welcher Legitimation reist er nach Brüssel, Berlin oder Paris? Das durchschnittliche Tory-Mitglied ist weiß, fast 60 Jahre alt und lebt finanziell weitgehend sorgenfrei abseits der multikulturellen Städte idyllisch auf dem Land. Gegen diese Eliten richtete sich eigentlich das Brexit-Versprechen vor drei Jahren, gegen die ewig Privilegierten. Genau diese bleiben mit Johnson jedoch an der Macht. Ein unberechenbarer, lauter, gut gelaunter Allesversprecher. Diese Rolle wird er auch in Brüssel bedienen.

Martin Theobald
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