Fehler einzugestehen, ist nicht gerade die Stärke von Justiz- und Hochschulminister François Biltgen (CSV). Vergangene Woche verurteilte der Europäische Gerichtshof die Niederlande, weil sie, ähnlich wie Luxemburg, nur Ortsansässigen Studienbeihilfen gewähren. Die Zweite Kammer des Europäischen Gerichtshofs entschied: „Das Königreich der Niederlande hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 geänderten Fassung verstoßen, dass Wanderarbeitnehmer und die von ihnen weiterhin unterhaltenen Familienangehörigen ein Wohnsitzerfordernis erfüllen müssen, die sogenannte ‚Drei-von-sechs-Jahren‘-Regel, um für die Finanzierung eines Hochschulstudiums außerhalb der Niederlande in Betracht zu kommen.“
Luxemburg droht nun eine ähnliche Verurteilung, nachdem das Verwaltungsgericht den Europäischen Gerichtshof angerufen hat, um die Rechtmäßigkeit der Kindergeld- und Studienbeihilfenreform von 2010 zu prüfen, und die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren angedroht hat. Doch der Minister machte am Montag gute Mine zum bösen Spiel: Das Urteil stärke in Wirklichkeit seine Position „erheblich“, weil es erstmals das Prinzip einer Residenzklausel für rechtmäßig halte. Denn es befindet unter anderem: „Daher ist festzustellen, dass das Wohnsitzerfordernis nach Art. 2.14 Abs. 2 WSF 2000 zur Verwirklichung des Ziels der Förderung der Mobilität der Studierenden geeignet ist. Zu prüfen ist noch, ob dieses Erfordernis nicht über das hinausgeht, was für die Erreichung des genannten Ziels erforderlich ist.”
Flugs dekretierte der Minister also, dass „die Mobilität das Hauptobjekt der Hochschulpolitik“ sei, dass er „eine Hochschulpolitik der Mobilität“ betreibe, dass der Regierung nichts wichtiger sei, als die Mobilität der Studierenden, dass es um „eine Frage der nationalen Hochschulpolitik“, eine „extrem wesentliche Frage für das Hochschulsystem“ gehe. Weil Luxemburg die Mobilität fördern wolle, statt eine riesige Universität zu bauen, gehe es am Ende um die Güterabwägung zwischen Freizügigkeit der Personen und Hochschulpolitik.
Doch in Wirklichkeit vergaß der Minister, dass es gar nicht um Mobilität und nicht einmal um Hochschulpolitik geht, sondern um die Kürzung des Kindergelds, wie Finanzminister Luc Frieden nach dem Scheitern der Tripartite am 13. April 2010 erklärt hatte. Im Kommunikee über das Sparpaket der Regierung hieß es damals: „Vu les problèmes de financement de l’État, des ajustements devront également être opérés au niveau des transferts aux ménages. Le gouvernement entend veiller à une meilleure sélectivité sociale et propose ainsi de supprimer l’allocation de rentrée scolaire, sauf pour les bénéficiaires de l’allocation de vie chère; de supprimer les allocations familiales à partir de l’âge de 21 ans, mais de revoir à la hausse les bourses et prêts pour universitaires [...].“
Wenig später hatte Frieden auch in einem Interview für das Télécran keinen Zweifel daran gelassen, dass es der Regierung gar nicht um Hochschulpolitik geht: „Das System der Studienbörsen bleibt national. Die Studenten, die in Frankreich leben, können in ihrem Land ein Stipendium beantragen. Die Idee, dass man sparen kann, ohne dass jemand es spürt, geht natürlich nicht!“
Und es war eben der Beschluss der Regierung, dass es jene 44 Prozent der Erwerbstätigen „spüren“ sollen, die hierzulande kein Wahlrecht haben, die Grenzpendler. Wie schon zuvor, als eine mögliche Kindergeld[-]erhöhung durch die Einführung der Dienstleistungsschecks ersetzt wurde, von der die Grenzpendler ebenfalls ausgeschlossen sind. Auf die Frage des Télécran, wie viel der Staat auf Kosten der Grenzpendler spare, antwortete Frieden: „Diese Maßnahme spart dem Luxemburger Staat 40 Millionen.“ Inzwischen hat sich aber herausgestellt, dass die Gesamtkosten nicht gesunken, sondern gestiegen sind.
Was heute als Förderung der „Mobilität“ der Studenten dargestellt wird, war in Wirklichkeit der Kampf gegen die „Exportabilität“ von Sozialleistungen. Sie war als „selektive Sozialpolitik“ gerechtfertigt worden. Doch bezieht sich die seit einigen Jahren betriebene Selektivität der CSV/LSAP-Koalition nicht, wie angekündigt, auf die Bezieher niedriger Einkommen, sondern auf die Wohnbevölkerung, sie diskriminiert nicht die Besserverdienenden, sondern die Grenzpendler. Wobei die Koalition von der DP mit der Forderung nach einem nationalen Wohngeld und von den Grünen mit der Forderung nach einem nationalen Ökobonus unterstützt wurde. Im Fall der Kindergeldreform werden nun sogar einheimische Studenten aus besserem Haus, die zuvor beinahe leer ausgingen, mit fünfstelligen Summen bezuschusst und kinderreiche Familien mit niedrigen Einkommen benachteiligt.
Dass das nun zu einem europäischen Rechtsstreit wird, dafür hat der Hochschulminister auch Schuldige in seiner Not gefunden: die Gewerkschaften, welche ihren zahlreichen im nahen Ausland wohnenden Mitgliedern, die durch die Reform benachteiligt wurden, Rechtshilfe anboten. Denn auf diese Klagen hin habe sich das Verwaltungsgericht mit seiner Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof gewandt, um die Rechtsmäßigkeit der Residenzklausel prüfen zu lassen. Biltgen will sich aber von der Europäischen Kommission versichern haben lassen, dass erst diese Klagen und die Vorlagefrage die Kommission bewogen haben, ihr Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Denn die Kommission werde in solchen Dingen „nur aktiv, wenn eine Klage vorliegt“. So aber haben anscheinend die Vaterlandsverräter von OGBL und LCGB „eine politische Debatte auf die juristische Ebene verlagert“ und dadurch die schlafenden Hunde in Brüssel geweckt, was dem Minister seither viel Kopfzerbrechen bereitet. Für den Herbst erwartet die Regierung, dass die Kommission ihr weiteres Vorgehen festlegt und wahrscheinlich ein Urteil in der Vorlagefrage abwartet, bevor sie ihr Vertragsverletzungsverfahren einleitet.
Doch für den OGBL ist die ganze Argumentation der Regierung bereits mit der Verurteilung der Niederlande zusammengebrochen. Alle Argumente, welche die Regierung aufgeführt habe, seien widerlegt worden: Studienbeihilfen stellten einen Teil von Sozialleistungen dar, die auch Grenzpendler zustünden und selbst dann, wenn sie direkt den ausländischen Studierenden und nicht ihren hierzulande arbeitenden Eltern ausgezahlt würden. Die Urteile in den von der Regierung zitierten Fällen Bidar und Foerster seien nicht für Grenzpendler anwendbar; auch der Einwand, dass die Abschaffung der Diskriminierung unzumutbare Kosten für den Staat verursachten, sei abgewiesen worden.
Der LCGB warnt gar die Regierung, dass sich nach dem Urteil „die Schlinge zusammenzieht“, das Risiko einer Verurteilung Luxemburgs nehme zu und drohe, „dem sozialen Ansehen“ des Lands in Europa zu schaden. Deshalb ruft die christliche Gewerkschaft die Regierung auf, statt auf eine Verurteilung zu warten, lieber umgehend die ersten Schritte zu unternehmen, um eine gerechte Behandlung aller Beschäftigten beim Kindergeld und den Studienbeihilfen zu gewährleisten. Auch die Bankengewerkschaft Aleba findet, dass das Urteil vom 14. Juni ihre eigene Strategie stärke und ein weiteres Argument gegenüber dem Verwaltungsgericht liefere.
Doch für Biltgen „gibt es keine Alternative zu dem, was wir heute haben, es sei denn, wir würden die Mobilität in Frage stellen“. Deshalb „gibt es auch keinen Weg zurück zum alten System“, betont er mit Nachdruck, weil dieses „ebenfalls eine Residenzklausel“ enthalten habe. Und vergisst dabei, dass die Grenzpendler die Residenzklausel des alten Systems nie beanstandeten, so lange sie Kindergeld für ihre studierenden Kinder erhielten.
Verlöre der Staat und müsste er auch Grenzpendlerkindern Stu[-]dienbeihilfen gewähren, würde dies die Kosten um 128,7 Prozent steigern, von 88 Millionen Euro auf 201,3 Millionen Euro. Dann bestünde kein Verhältnis mehr zwischen den Kosten und dem volkswirtschaftlichen Nutzen der Hochschulpolitik, so der Minister.
„Wenn wir verlören, hätten wir riesige Probleme“, klagt Biltgen. Dann müsste er die ganze Politik ändern, die seit Jahrzehnten darin bestanden habe, die „wirtschaftliche und politische Elite“ weitgehend im Ausland auszubilden, was immer von diplomatischem und wirtschaftlichem Vorteil gewesen sei. Wahrscheinlich müsste das Land dann, wie andere Kleinstaaten, die eigene Universität zu einer großen Uni ausbauen, die alle Studiengänge anbiete, welche der nationale Arbeitsmarkt brauche. Was entschieden teurer würde, als etwas Kindergeld zu „exportieren“.