Besteht in Luxemburg ein Handlungsbedarf zu Pflanzenschutzmitteln, im Volksmund: Pestiziden? Landwirtschaftsminister Fernand Etgen nickt: „Der Handlungsbedarf ist imminent. Schon bis zum 14. Dezember 2012 hätte ein nationaler Aktionsplan zum nachhaltigen Pestizideinsatz an die EU-Kommission geschickt werden müssen, und schon ein Jahr vorher lief die Frist zur Umsetzung der EU-Richtlinie von 2009 über die Pestizide ab.“ Wegen der Nicht-Umsetzung hat die Kommission gegen Luxemburg ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof eingeleitet. Etgen seufzt: „Das ist so ein Dossier, das wir von der vorigen Regierung geerbt haben.“
Das Erbe, das der liberale Agrarminister hinterlassen bekam, besteht allerdings nicht nur aus nicht eingehaltenen Fristen. Sondern auch darin, dass er nicht so recht wissen kann, wie groß der Handlungsbedarf tatsächlich ist. Etgen erzählt, Luxemburg gehe „in eine ganz gute Richtung“. Und zwar „überall, wo Pestizide eingesetzt werden“; ob in der Landwirtschaft und im Weinbau, ob in den Gemeinden bei der Pflege von Parks und Grünflächen oder sei es bei CFL und Straßenbauverwaltung bei der Unkrautvertilgung an Bahndämmen, Straßen und Wegen. In den Bereichen, die ihm als Minister unmittelbar unterstehen, habe es „eine unwahrscheinliche Senkung“ der Pestizidnutzung gegeben.
Tatsächlich? Die Statistiken des Service d’économie rurale aus Etgens eigenem Ministerium lesen sich nicht gerade so. Wurden im Jahr 2005 für „Produits de protection des cultures et antiparasitaires“ 7,017 Millionen Euro ausgegeben, waren es im Jahr 2012 8,527 Millionen und 2013 – provisorisch geschätzte – 8,885 Millionen Euro. Falls die Pflanzenschutzmittelpreise nicht Jahr für Jahr gestiegen sind, scheint das nicht auf eine Senkung hinzudeuten.
Doch diese Zahlen sagen allein wenig aus. Eine Drehscheibe für den europäischen Pestizidhandel ist Luxemburg zwar nicht mehr. Eine amtliche Pestizidstatistik aber gibt es trotzdem nicht – noch nicht. Was der Service d’économie rurale (SER) publiziert, sind Wirtschaftsdaten aus einem „Testnetz“ von 900 landwirtschaftlichen Betrieben, die auf alle rund 1 500 Bauernbetriebe hochgerechnet werden. Da ist nicht nur eine Fehlermarge inklusive. Hinter einem Ausgabenanstieg für Pflanzenschutzmittel kann sich durchaus ein positiver Trend verbergen: Weniger toxische und umweltschädliche Produkte sind in der Regel teurer als die gefährlicheren Substanzen.
Auch Fernand Etgen muss feststellen, das „gute Daten Mangelware“ sind. Die Politik in Sachen Pflanzenschutzmittel macht das für ihn nicht leichter. Artikel 4 jener EU-Richtlinie, die Luxemburg umzusetzen sich nun mit einem Gesetzentwurf anschickt, schreibt vor, dass alle EU-Staaten sich Aktionspläne geben, „in denen ihre quantitativen Vorgaben, Ziele, Maßnahmen und Zeitpläne zur Verringerung der Risiken und der Auswirkungen der Verwendung von Pestiziden auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt festgelegt werden“. Wie aber soll ein Aktionsplan quantitative Vorgaben und Ziele festlegen, wenn der Ist-Zustand unbekannt ist?
Etgen seufzt erneut, denn diese Frage haben ihm Umweltverbände schon gestellt. Der Aktionsplan sei „ein evolutives Dossier“, sagt er. „Wir haben den Plan, den unsere Vorgänger aufgestellt haben, nach Brüssel geschickt, damit dort was vorliegt.“ Luxemburg war der letzte der 28 EU-Staaten, der seinen Aktionsplan eingereicht hat. Dass er auf der Webseite der Generaldirektion für Gesundheit und Verbraucherschutz der Kommission noch immer nicht aufgeführt ist und dort stattdessen „available soon“ steht, kann er sich nicht erklären. Die neue Fassung des Plans soll Anfang September auch für die öffentliche Konsultation zugänglich sein. Dass die Öffentlichkeit beteiligt werden muss, schreibt die EU-Pestizidrichtlinie vor. Die CSV-LSAP-Regierung hatte ihren Planentwurf ohne die Öffentlichkeit aufgestellt. Am 16. August vergangenen Jahres war er fertig, mitten in den Sommerferien.
Was darin steht, wurde Anfang dieses Jahres publik, nachdem Etgen im Landwirtschaftsministerium das Ruder von Romain Schneider (LSAP) übernommen hatte – und seitdem auch das Verbraucherschutzressort innehat, dessen Einführung der DP so wichtig war. Für Greenpeace und die Naturschutzorganisation Natur an Ëmwelt war das ein wichtiger Anlass, im April eine Kampagne Save the Bees! zu lancieren. Die Kernaussagen der Kampagne – „Verbot bienenschädlicher Pestizide“ und „Förderung der biologischen Landwirtschaft“ – führten prompt zur Polarisierung in der Agrarwelt und zwischen Grünen- und DP-nahen Verbänden auf der einen und CSV-nahen auf der anderen Seite. Die Kampagne war weniger auf die Bienen als auf die Pestizide orientiert; der Verweis auf das Bienensterben sollte den Pestizid-Aspekt greifbarer machen. In einem Punkt hat Martina Holbach, die die Kampagne für Greenpeace betreut, aber auf jeden Fall recht, wenn es um den Pestizid-Aktionsplan der alten Regierung geht: „Da stehen keine konkreten Ziele drin, sondern jede Menge softe Maßnahmen.“ Der Plan legt den Akzent auf die „formation des utilisateurs professionnels“ von Pestiziden zu deren „emploi raisonné“ sowie eine Sensibilisierung nicht-professioneller Anwender über die Risiken von Pestiziden. Anschließend soll eine „généralisation“ einer guten Praxis beider Anwendergruppen erfolgen. Eine „réduction de l’utilisation“ besonders besorgniserregender Pestizide, die entweder krebserregend oder erbgutschädigend sind oder giftig auf ungeborene Kinder wirken, ist in dem Plan zwar ebenfalls vorgesehen, aber nicht, in welchem Umfang und in welchem Zeitraum.
Doch wie will man Reduktionen durchsetzen und sie vorher als politisches Ziel formulieren, wenn man nicht weiß, von welchen Pflanzenschutzmitteln wie viel verwendet wird? Beim Service d’économie rurale arbeitet man daran, die Wissenslücken zu füllen: Nächstes Jahr soll eine Pestizidstatistik vorliegen, für die nicht nur der Einsatz jeder aktiven Substanz aufgeschlüsselt wird, sondern auch das Zusammenspiel aktiver Substanzen in einem Produkt, das dieses eventuell noch gefährlicher macht. Bis diese Herkulesaufgabe zu Ende geführt ist, gibt der SER keine Daten heraus. Ebenso wenig wie das Statistikamt Statec die von ihm gesammelten Angaben über die Pestizid-Verkäufe publiziert: Die Thematik sei „sensibel“, man müsse die Statec-Daten noch mit den SER-Daten abgleichen. Vor Anfang 2015 sei damit wohl nicht zu rechnen.
Gut möglich, dass dieser Punkt zu einer größeren Auseinandersetzung führt, wenn Etgens Aktionsplan im September öffentlich wird. Auf vorläufige Pestiziddaten hat der Minister natürlich Zugriff. Und kündigt an: „Wir sind jetzt in der Phase der Reduktion, darauf folgt die Phase der Verbote.“ Denn: „Pestizidpolitik ist auch Verbraucherschutzpolitik.“
Was genau er damit meint, ist allerdings noch nicht klar. Fest steht, dass ab 1. Januar 2016 im öffentlichen Raum keinerlei Pestizide mehr eingesetzt werden dürfen. So sieht es der Pestizid-Gesetzentwurf vor, den noch Romain Schneider für die CSV-LSAP-Regierung im Parlament eingereicht hatte. Damit würde jede Gemeinde „pestizidfrei“. Fest steht auch – und das hatte ebenfalls noch das CSV-LSAP-Kabinett beschlossen –, dass in Zukunft das Sprühen von Pestiziden per Hubschrauber über Weinanbaugebieten generell nur nach Zustimmung einer interministeriellen Kommission erlaubt und in der Nähe von Wohngebieten generell verboten sein soll. Die blau-rot-grüne Koalition hat zudem verschärfte Wasserschutzkriterien für das Sprühen hinzugefügt.
Bestimmte Pflanzenschutzmittel zu verbieten oder ihren Einsatz in der Landwirtschaft schrittweise zurückzufahren, weil ihre aktiven Substanzen zu gefährlich sind, wäre dagegen eine Entscheidung von anderem Kaliber. Dergleichen müsste der Aktionsplan zum Ziel erklären. Es wäre ein Eingriff in den Pflanzenschutzmittelmarkt und die bäuerliche Praxis mit Aufwand und Ertrag. Darauf will der Landwirtschaftsminister sich zumindest derzeit nicht festlegen. Lieber spricht er von der „Lenkungswirkung“ auf die Landwirte und die Winzer, die von einer kompetenten Beratung zum einen ausgehen sollen und zum anderen von einem überarbeiteten Beihilfensystem für Agrar-Umweltmaßnahmen, das der Entwurf zum neuen Plan du développement rural enthält, zu dem die Konsultation vor kurzem begonnen hat.
Und noch ist der überarbeitete Pestizid-Aktionsplan der Entwurf des federführenden Landwirtschaftsministers, nicht aber der gesamten Regierung. Derzeit liegt das Dokument dem Umweltministerium zur Begutachtung vor. Und womöglich werden von dort noch Verschärfungen verlangt: Das nun dem Umweltministerium unterstellte Wasserwirtschaftsamt hat Ende 2013 in einem État de lieu zur Qualität des Grundwassers unter anderem bilanziert, dass rund drei Viertel der Trinkwasserquellen mit mindestens einem Pestizid belastet sind und zwischen 17 und 55 Prozent mit Pestiziden, von denen das Wasserwirtschaftsamt eine „origine agricole“ ausgemacht haben will.
Den Aktionsplan zu verschärfen könnten Umweltministerin Carole Dieschbourg und Staatssekretär Camille Gira aber vielleicht auch aus politischen Erwägungen verlangen. Beide leiten ihr ur-grünes Ressort bislang ziemlich konsequent. Da fällt auf, dass das Umweltministerium sich auf seiner Webseite im Kapitel „Gefährliche Pflanzenschutzmittel in Luxemburg?“ die Bilanz von Greenpeace und der NGO Pesticide Action Network (PAN) zu eigen macht. Man liest dort, dass „derzeit etwa 440 in Luxemburg zugelassene Pflanzenschutzmittel etwa 220 Wirkstoffe [enthalten], von denen rund 60% auf den Listen von Greenpeace oder PAN aufgeführt sind“. Und in anderen Worten: „Rund die Hälfte der in Luxemburg zugelassenen Mittel enthalten Wirkstoffe, die aufgrund ihrer human- und umwelttoxikologischen Einstufung auf der Schwarzen Liste stehen oder als hochgefährliche Pestizide eingestuft werden.“
Am Ende könnte der Pestizid-Aktionsplan zum Test werden, inwiefern DP und Grüne in der Koalition umweltpolitisch auf einer Wellenlänge liegen. Und ob sie agrarpolitisch am selben Strang zu ziehen vermögen. Nach den noch nicht ausgestandenen Konflikten um die Biotope auf Agrarflächen ist Fernand Etgen um gute Stimmung bemüht. Er vermeidet zu viele ökologische Anklänge seiner Politik und verkauft nach außen hin auch eine Entscheidung wie die Aufnahme pilzfester Rebsorten in den Katalog für den Weinbau in erster Linie als Maßnahme für mehr Wettbewerbsfähigkeit der Winzer denn als Weg, den Pestizidverbrauch zu senken (siehe: „Ein Beispiel geben“). Dagegen sucht Umweltstaatssekretär Gira auch schon mal den Konflikt mit allem, was nicht Biolandbau ist. Wie vor zwei Monaten, als er auf einem Treffen mit der Bauernzentrale zu deren Entsetzen erklärte, angesichts der von der konventionellen Landwirtschaft verursachten Umweltschäden müsse man sich fragen, „wie sinnvoll es ist, weiterhin so viele öffentliche Beihilfen in die Branche zu schaufeln“.
Doch was Pestizide angeht, scheinen Wirtschaftsinteressen politisch im Allgemeinen durchsetzungsfähiger zu sein als Umwelt- und Gesundheitsschutz. Das verdeutlicht vielleicht am besten die Analyse durch das Pesticide Action Network im vergangenen Jahr zu den damals von 24 der 28 EU-Staaten vorliegenden Aktionsplänen (ohne Belgien, Italien, Luxemburg und Rumänien): Lediglich Dänemark hatte sich ein klar quantifizierbares Ziel gegeben: die Senkung des Pestizideinsatzes bis 2015 um 40 Prozent gegenüber 2011 ohne Wenn und Aber.