Man kann ihr am Donaukanal begegnen, an jenen trüben Tagen, von denen es in Wien so viele gibt. Manchmal im November, wo sie hin gehören, auch im Dezember oder Januar, auch noch Februar. Tage, an denen es nicht richtig hell wird an der Donau, trotz all der Punschhütten allüberall in der Stadt mit ihren illuminierten Gästen. Am Donaukanal stehen keine Hütten, dahin trauen sich nur die unverbesserlichen Läufer, die unvermeidlichen Hundeausführer und die hartnäckigsten Radfahrer.
An diesen zähen grauen Tagen ist der nebelige Donaukanal ein Zeitloch, das alles verschluckt, was ein paar Meter weiter zählt. Der Vor- oder Nachweihnachtsrummel, das eifrige Modelle-Analysieren an der nahen Wirtschaftsuni, die große Politik der Ölstaaten in der ebenso nahen Opec-Zentrale, alles. In diesem grau verhangenen Zeitloch kann man ihr schon mal begegnen, der luxemburgischen Schriftstellerin Michèle Thoma. Sie lebt im Karl-Marx-Hof in Heiligenstadt im Norden Wiens, Symbol des Februar-Aufstandes der Kommunisten gegen das austrofaschistische Schuschnigg-Regime. Zwischen Stadt und Heiligenstadt liegt entweder die gemütliche U4 oder der weniger gemütliche Radweg am Donaukanal.
Im Zweifel also ungemütlich - das liegt Michèle Thoma eindeutig näher als die viel besungene Wiener Gemütlichkeit, der neblige Kanal liegt näher als die weihnachtsfreudig blinkenden Einkaufsstraßen. Beißende Ungemütlichkeit ist auch der Tenor ihrer Texte, die jetzt bei ultimomondo erschienen sind. Mobil Home heißt der Band, ein literarischer Dreisprung zwischen Lyrik, Dramatik und Feuilleton. Ein auf den ersten Blick sorgfältig gestaltetes Buch, das bei näherer Lektüre jedoch ärgerliche Nachlässigkeit im Lektorat zeigt. Ein paar Punkte zum Zeichen "Satzende" hier oder da, eine geschlossene Klammer, ein wenig mehr Sorgfalt in Sachen Zitate hätte der ansonsten sehr ansprechenden Publikation gut getan.
Derlei reißt einen mitunter unangenehm aus der Lektüre, denn Michèle Thoma schafft mit ihrer unbedingten, verspielt-unbarmherzigen Sprache einen Sog, der den Leser in ein unergründliches Zeitloch zieht. Ihre Themen sind dabei unmittelbar lebensnah, sind aus dem Alltag gestanzt mit einer Sprache, die in ihrer Schärfe manchmal körperlich schmerzt und dabei eine große Zärtlichkeit für dieses Leben weckt.
Eine lyrische Höllenhimmelfahrt zwischen Lust und Verzweiflung, Sehnsucht und Verletzung, Schmerz und Freude eröffnen ihre Gedichte - dünnhäutig empfunden und immer balancierend auf der Kippe zwischen Erschrecken und Erheitern. "Eckig/ vor Einsamkeit" ist sie in "Singlé", in "Longing for Landleben" hört man förmlich den ersehnten Regen ans Fenster prasseln. Die Banalität, mit der der Selbstmord einer jungen Frau - "kein Wunder bei diesem Wetter" - phrasendreschend vom Tisch gewischt wird, erschreckt fast mehr als der Sprung in den Tod selbst.
Michèle Thoma versteckt sich nicht hinter poetischer Verbrämung und ist wohltuend immun gegenüber political correctness. Ein überdreht-hysterisches Szenario entwirft sie im Titel gebenden Dramolett "Mobil Home", in dem sie eine Proletenfamilie hoffnungsfroh-verzweifelt gegen die Welt der New Economy anrennen lässt. Der dritte Abschnitt der 126 Seiten umfassenden Textsammlung bringt für Land-Leser zum Teil eine Wiederbegegnung mit literarischen Feuilletons. Vergnügliche, dabei mitunter sezierende, ironisch ausgemalte Alltagsbeobachtungen.
Vom Luxemburger Kirchberg, der sich als schlechter Platz für Zen-Buddhisten oder von menschlichen Bedürfnissen geplagten Karrierejägern erweist, bis zur genormten Kinderfreundlichkeit rescher Pensionswirtinnen im idyllisch-oststeirischen Hügelland mit alptraumträchtigem "Kinderschnitzel" im Angebot - Michèle Thomas Waffe, den Zumutungen des Lebens Paroli zu bieten, ist scharfer Zynismus gepaart mit einer genauen, achtsamen Beobachtung. Souverän ausgespielt, fantasievoll geführt und völlig unberührt von Moden oder Trends, zeitlos im besten Sinn.
Michèle Thoma: Mobil Home. Ultimomondo 2003, 126 Seiten; 17,35 Euro; ISBN 2-919933-05-1