Bereits vor Jahrzehnten erzählten Biologielehrer ihren Schülern, der menschliche Körper gleiche einer „riesigen Fabrik“. Gemeint waren damit weniger die genetischen Prozesse in den Zellen, denn die sollten erst später in immer rasanterem Tempo entschlüsselt werden, sondern der Stoffwechsel. Ihn kann man sogar in sämtlichen lebenden Zellen mit einer großen Chemiefabrik vergleichen: Zellen brauchen sowohl während des Wachstums als auch während der Ruhe ständig Energie. Gewonnen wird sie durch eine gesteuerte Umsetzung von Stoffen innerhalb der Zelle. Die Energiequellen sind die aufgenommenen Nahrungsstoffe. Sie werden durch eine Reihe hintereinander geschalteter Reaktionen umgesetzt. Dadurch wird Energie bereitgestellt und es werden Bausteine für weitere energieaufwändige Prozesse gewonnen.
Gesteuert werden diese Reaktionen durch Enzyme. Das sind Super-Katalysatoren, die eine chemische Reaktion um den Faktor von bis zu tausend Milliarden beschleunigen können. Die Bildung von Alkohol und Kohlendioxid aus Zucker zum Beispiel vollenden Enzyme in Hefezellen in Sekundenschnelle. Ohne sie würde das Tausende von Jahren dauern, so dass ohne Enzyme organisches Leben kaum möglich wäre. Hinzu kommt, dass Enzyme hoch spezifisch sind und nur an ganz bestimmten Reaktionen teilnehmen – wie ein Schlüssel, der nur in ein bestimmtes Schloss passt.
„Weil Enzyme eine derart zentrale Rolle spielen, die vor allem auf ihrer Spezifizität beruht, schien es lange undenkbar, dass viele von ihnen ständig Fehler begehen“, sagt Carole Linster, Biochemikerin und Leiterin eines Forschungs-Teams am Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB). Man weiß zwar seit den 1930-er Jahren beispielsweise, dass bei einem Mangel an dem B-Vitamin Nicotinsäure bestimmte Enzyme im Körper nicht mehr aktiv arbeiten können. Die Erkenntnis, dass viele Stoffwechselenzyme nicht perfekt funktionieren, ist dagegen ziemlich neu. Mehr noch: Die Fehlreaktionen scheinen in allen Organismen ständig aufzutreten, werden aber normalerweise behoben.
Carole Linster war mit der Thematik vor 15 Jahren in einem anderen Institut in Kontakt gekommen. Den Forschern lagen Fälle von an Hirnleiden erkrankten Kindern vor, in deren Urin und Blut sich außerdem eine bestimmte Säure ansammelte. Allem damals über den menschlichen Stoffwechsel Bekannten zufolge, war diese Säure kein Bestandteil davon. Aus Intuition tippten die Wissenschaftler darauf, dass dennoch ein Enzym an der Bildung der merkwürdigen Substanz beteiligt sein konnte. „Nach langen Analysen im Labor stellten wir fest, dass die Säure tatsächlich das Produkt einer Enzymreaktion ist, aber eine Art Nebenprodukt. Eine weitere Enzymreaktion verwandelt das Nebenprodukt in einen normalen Stoffwechselbestandteil zurück. Probleme entstehen, wenn das nicht klappt.“
Zusammenhänge wie dieser würden seit etwa zehn Jahren zunehmend aufgedeckt, erklärt Carole Linster. Auch kompliziertere Mechanismen sind mittlerweile bekannt: Oft sind für Stoffwechselreaktionen noch weitere Substanzen nötig – so genannte Ko-Faktoren. Sie fungieren wie spezialisierte chemische Handwerkzeuge. Bereits in den 1950-er Jahren fand man heraus, dass Ko-Faktoren „spontan“ chemisch verändert werden können. „Heute mehren sich die Hinweise, dass auch die Veränderung der Ko-Faktoren ein Teil ganz normaler Prozesse im Körper ist, zu denen aber ebenfalls gehört, diese Veränderung wieder rückgängig zu machen.“
Möglicherweise existiert ein Wechselspiel von, wie Carole Linster es nennt, „Damage and Repair“, wie es von der DNA schon länger bekannt ist: Damit sich im genetischen Material keine Fehler anhäufen, gibt es nicht nur Mechanismen, die dafür sorgen, dass bei der Übertragung genetischer Informationen aus einer Zelle nichts schief geht, sondern auch Reparaturprozeduren, die Fehler beheben sollen. Versagen sie, kann das zum Beispiel Krebs auslösen.
„Im Stoffwechsel scheinen ähnliche Prozesse zu wirken“, sagt Carole Linster. Anscheinend gibt es sogar „präemptive Reparaturen“. Bisher seien jedoch erst ungefähr 30 derartige Zusammenhänge beschrieben. Theoretisch könnte es mehrere tausend geben.
Was vielleicht der Grund ist, dass zurzeit nur wenige Erkrankungen auf eine gestörte Stoffwechsel-Reparatur zurückgeführt werden können. Sie gehören zu den so genannten „seltenen Erkrankungen“, von denen nur wenige Menschen auf der ganzen Welt gleichzeitig betroffen sind. Solche Erkrankungen seien aber meist schwer, sagt Carole Linster, der Körper vergiftet sich dann regelrecht selbst. Die Krankheitsbilder sind nicht leicht zu deuten, weil ein Arzt ihnen in seiner ganzen Laufbahn vielleicht nur zwei Mal begegnet, vielleicht auch nie. Vor allem neurologische Schäden, aber zum Beispiel auch Schäden an den Muskeln oder dem Herzen sind häufig. Oft sind Kinder betroffen, die sich zunächst ganz normal entwickelten, ehe eine Fieberepisode oder ein anderes außergewöhnliches Ereignis den Stoffwechsel massiv belastete. Die Reparaturfunktionen sind in diesen Fällen besonders gefordert, aber nicht zur Stelle, und die Ansammlung schädlicher Substanzen kann beginnen.
Ursache für die gestörte Enzym-Reparatur sind offenbar Gendefekte. Denn Enzyme sind Proteine; ihre Bildung ist in der DNA kodiert. „Theoretisch käme zur Behandlung der Erkrankungen eine Gentherapie infrage, doch diese Technik beginnt sich erst zu entwickeln“, sagt Carole Linster. Zum Glück kann, ist der gestörte Prozess identifiziert, manchmal durch Gabe bestimmter Vitamine oder anderer Ergänzungsmittel in hohen Dosen Abhilfe geschaffen werden.
Doch auf die Identifikation dieser Mechanismen kommt es zunächst an. Carole Linster und ihr Team am LCSB versuchen solche Zusammenhänge systematisch aufzuklären. Sie gehen dabei teilweise von Krankheitsbildern aus, teilweise von Hypothesen über Enzyme und ihre Rolle im Organismus, teilweise von Stoffwechselprodukten, die einen Rückschluss auf Enzyme und deren Funktion zulassen. In allen Fällen ist das eine Detektivarbeit.
Carole Linster nennt das „ein Paradox der post-genomischen Forschung“: „Wir kennen die Sequenz des Genoms, wir wissen, dass es rund 20 000 Gene enthält, und wir kennen die Sequenz all dieser Gene. Wir können die Sequenzen der Proteine, die sie kodieren, daraus ableiten.“ Doch danach werde es schwieriger: „Haben wir die Protein-Sequenz, erkennen wir verschiedene Motive und können sagen, das da sieht aus wie ein Enzym, das da wie ein Antikörper des Immunsystems, das da wie ein Rezeptor auf einer Zellmembran, und so weiter.“ Die spezifische Funktion der Proteine aber lasse sich trotzdem nicht vorhersagen. „Dazu sind wir weiterhin auf gezielte Hypothesen angewiesen und auf die Analyse im Labor.“