Als in Großbritannien das Office for National Statistics die Bürger befragte, welche Parameter für sie im „Wohlfühl-Index“ am wichtigsten seien, nannten viele spontan den freien Zugang zu lokalen Parkanlagen. Auch in der Hauptstadt schätzt der Brite seine Grünflächen, und neben den bekannten Stadtparks sind über die Jahre ungewöhnliche bis skurrile Naturoasen entstanden.
Es ist ungewöhnlich heiß an diesem Aprilsonntag in London, vom launischen Frühjahrswetter keine Spur. Mare Street, im östlichen Bezirk Hackney, ist bereits am späten Morgen sehr belebt. Wie überall in der Hauptstadt kann man nun ein sehr britisches Phänomen beobachten: Unter wolkenlosem Himmel begeben sich kleine Gruppen und Familien mit Frisbees, Faltgrill, Camping-stühlen, Picknickdecke und einem meist beträchtlichen Getränkevorrat in Richtung Park. Der brasilianische Metzger Boi Gordo in der Mare Street hat geöffnet; er weiß, ihm würde ein Riesenumsatz durch die Lappen gehen, wenn er gerade an diesem sonnigen Tag geschlossen hätte.
Bevor man den 13 Hektar großen Park erreicht, riecht man, dass wohl einige von Boi Gordos Würsten und Steaks bereits auf den Kompaktgrills brutzeln. Vereinzelte Rauchschwaden steigen bis in die Baumkronen der Allee. Die Grünflache sieht man vor dem Meer an sommerlich bekleideten Londonern fast nicht mehr, und die Geräuschkulisse, aus der man Musik von akustischen Gitarren und batteriebetriebenen Boomboxen heraushört, übertönt jeglichen Vogelgesang.
London Fields ist wegen seiner Lage im trendigen East End bei jungen Stadtbewohnern sehr beliebt. Cristina Manoso ist mit ihrer kleinen Nichte Lucia da. Die Spanierin lebt bereits seit mehreren Jahren in London, eine Zeit lang wohnte sie sogar in einem der Häuser am Rande des Parks. „Vor ein paar Jahren war es hier ganz anders, der Park war noch nicht so voll, wie es heute an sonnigen Tagen üblich ist. Damals kam man mehr zum Trinken hierher, heute ist Picknick sehr angesagt“, bemerkt sie. Doch auch die Besucherschaft hat sich stark verändert. „London Fields ist ein Hipster-Park geworden, vor allem der südliche Teil.“ Christina zeigt auf eine sehr beschäftigte Ecke des Parks. An superengen Jeans, Hornbrillen und Eingangrädern sieht man, dass neben Würsten und Dosenbier hier vor allem die richtige Mode einen hohen Stellenwert beim Parkbesuch hat.
Viel lästiger sind jedoch Bandenkriege. „Letztes Jahr wurde hier im Park am helllichten Tage ein Mann von Bandenmitgliedern angeschossen“, erinnert sich Christina. Ob die London Fields Boys, eine Gang der Nachbarschaft, hinter der Tat steht, ist nicht bekannt. Jedenfalls berichtete der Bürgermeister, dass hunderte von Besuchern den Tag im Park trotzdem weiterhin genießen konnten. Für Cristina ist das jedoch Grund genug, ihren Lieblingspark vorerst ein wenig zu meiden. „Ich gehe seitdem wieder öfters in den Victoria Park, der ist ein wenig gepflegter und familienfreundlicher.“ Denn ohne Parkbesuche kommt man als Londoner nicht über den Sommer, behauptet sie. „In Spanien scheint die Sonne fast immer, ein Parkbesuch ist da nichts besonderes. Doch in London hat man bei gutem Wetter sofort den Drang, mit Kind und Kegel die nächstbeste Grünfläche aufzusuchen“, lacht sie.
Die Wahl an Parks in der Hauptstadt ist groß, überfüllte Garden Squares im Zentrum, poshe botanische Gärten, endlos erscheinende Stadtwiesen (auch Heath, „Heide“ genannt) und Parkanlagen sorgen dafür, dass der nächste Rasen nie weit weg ist, egal in welchem Stadtteil man sich gerade befindet.
Am bekanntesten sind die acht Royal Parks, die insgesamt fast 20 Quadratkilometer im Großstadtdschungel ausmachen. Fünf liegen im unmittelbaren Zentrum der Stadt: Hyde Park, Green Park, die Kensington Gardens, St James’ Park, und Regent’s Park. Sie gelten als die grüne Lunge Londons. Die einstigen königlichen Jagdgründe sind heute Freizeithochburgen und Touristenattraktionen: neben historischen Denkmälern und Museen kann man Tretboote und Strandstühle mieten, an jeder Ecke parken bunte Eisverkaufswagen.
Im Hyde Park, wo die Londoner im 17. Jahrhundert aus Angst vor der Großen Pest übernachteten, sieht man heute so manchen Besucher mit einem Stadtplan in der einen Hand und einem tropfenden Eis in der anderen, auf dem Weg zum Speakers’ Corner, den angeblich einst Karl Marx, Lenin und George Orwell frequentierten. Prinzessin Dianas Gedenkbrunnen im Hyde Park, sowie der Kensington Palast und die Peter Pan Statue in den am Hyde Park anliegenden Kensington Gardens ziehen ebenfalls Touristenscharen an.
Doch auch Royal Parks außerhalb des Zentrums sind bei Besuchern beliebt. In Greenwich, im Südosten der Hauptstadt kann man seinen Campingstuhl quasi genau am Nullmeridian aufklappen. Denn in der Sternenwarte auf dem Hügel wurde 1884 während der Internationalen Meridiankonferenz die geografische Länge des Greenwich-Meridians festgelegt. Im umliegenden Park, der als älteste der Royal Parks gilt, erholen sich Besucher vom Erklimmen des steilen Hügels.
Noch südlicher von Greenwich befindet sich Crystal Palace Park, ein große Parkanlage mit skurrilen Attraktionen. Benannt wurde der Park und die umliegende Gegend nach dem Crystal-Palace-Ausstellungsgebäude, das zur Weltausstellung 1851 ursprünglich im Hyde Park errichtet wurde. Später versetzte man den riesigen viktorianischen „Vergnügungsdom“ nach Sydenham, wo er schließlich in einem Feuer im Jahre 1936 fast gänzlich abbrannte. Doch im Park überlebten kuriose Gestalten: aus dem Dickicht ragen Dinosaurier-Köpfe, und am Ufer der kleinen Inseln kriechen übergroße Reptilien. Diese steinernen Kreaturen sind die ersten Dinosaurierskulpturen der Welt. Sie wurden von dem Bildhauer und Naturwissenschaftler Benjamin Waterhouse Hawkins im Jahre 1854 angefertigt, noch vor Darwins Entstehung der Arten.
Der geschichtliche Wert dieser Bildnisse ist immens, denn die Tiere zeigen, wie sich die Wissenschaft die damals neu entdeckten Dinosaurier vorstellte. Der bipede Iguanodon kriecht im Crystal Park zum Beispiel noch auf allen Vieren, und vom Mosasaurus, einem Meeresreptil, ragt nur der Kopf und Rücken aus dem Wasser, denn zur Zeit der Erstellung hatte man nur ein Schädel des Tieres gefunden. Auf diese Art vermied Hawkins in seinem Kunstwerk geschickt die Körperteile, die noch entdeckt werden mussten.
In London wird jede Möglichkeit genutzt, dem hektischen Treiben der Großstadt zu entfliehen. Dies merkt man nicht nur an den dicht besiedelten Garden Squares im Stadtzentrum sondern auch in unmittelbarer Nähe der City. Mit den Wolkenkratzern des Finanzdistrikts im Hintergrund wirkt das Blöken und Grunzen der Bewohner der Spitalfields City Farm sehr unwirklich. Doch die kleine Farm, die im dicht besiedeldsten Stadtbezirk Londons liegt, beherbergt auf einem hal-ben Hektar nicht nur Schafe und Schweine, sondern auch Ziegen, Esel, Enten, Hühner und Kaninchen. Außerdem kann man an kostenlosen „Pflücken und Kochen“-Kursen teilnehmen, als Freiwilliger beim Mästen und Füttern der Tiere helfen oder einfach neben dem Gemüsegarten in der Picknickwiese entspannen.
Freie Angebote, jedoch in einem weniger lebhaftem Rahmen, bieten die Freunde des Tower Hamlets Cemetery Park. Der stark verwucherte Friedhof wurde durch die Wohltätigkeitsorganisation zum freundlichen Waldgebiet in dem heute nicht nur Naturschutzprojekte und Grabrecherchen, sondern auch gelegentlich Dreharbeiten und Fotoshootings stattfinden. Der Friedhof ist seit 2001 Naturschutzgebiet und wohl einer der stillsten Orte des East End.
Großbritannien hat sich immer noch nicht von der Wirtschaftskrise erholt. Es ist folglich zu erwarten, dass auch diesen Sommer viele Urlauber die Insel nicht verlassen und zu einheimischen Küsten und Naturparks reisen. Und diese unbeschwerten Kurzurlaube in einheimischen Anlagen will sich keiner nehmen lassen. So begegnete David Cameron einer Welle der Empörung, als er letzten Sommer ankündigte, 150 000 Hektar nationaler Waldgebiete zum Verkauf an Privatunternehmen oder lokale Organisa-tionen freizugeben. Es ging hier um eine weitere Sparaktion der Tory-Regierung, schick verpackt als „großer Schritt zur Big Society“.
Doch die Gesellschaft war überhaupt nicht begeistert: Umfragen zufolge waren 84 Prozent der Briten dagegen, eine Organisation allein sammelte in kurzer Zeit eine Million Unterschriften. Als dann neben sämtlichen Politikern auch Vivianne Westwood und der Erzbischof von Canterbury sich empörten, sah Cameron ein, dass er diesen Plan nie durchbringen könnte. Die Regierung nahm das Vorhaben zurück, die Umweltministerin entschuldigte sich offiziell, und auch der Premier weiß nun, dass mit der Naturverbundenheit der Briten nicht zu spaßen ist.