Die Europäische Union ist politisch ein schönes und wirtschaftlich ein notwendiges Projekt, dessen Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Deshalb hatte die Union in dem zurückliegenden Jahrzehnt zwei herausragende wirtschaftspolitische Ziele: die Lissabon-Strategie und die Währungsunion.
Heute, im Jahr 2010, sollte die Europäische Union die „wettbewerbsfähigste Wirtschaft“ der Welt sein. Außerdem sollte EU-weit Vollbeschäftigung herrschen. Das hatten die Staats- und Regierungschefs im März 2000 auf einem Gipfeltreffen in Lissabon so beschlossen. Doch schon 2005 hatte der ehemalige niederländische Premier Wim Kok in einer Zwischenbilanz festgestellt, dass diese Versprechen ein wenig zu großspurig waren. Und heute, wenn das Programm in die Tat umgesetzt sein soll, zeigt nicht nur der fulminante Aufstieg Chinas, dass andere Regionen der Welt, mit oder ohne „Wissensgesellschaft“, wettbewerbsfähiger als Europa sind – was genau das auch immer heißen mag. Statt der für 2010 versprochenen Vollbeschäftigung meldet Eurostat über neun Prozent Arbeitslose in der Europäischen Union; mit den drastischen neuen Sparprogrammen in vielen Staaten dürften es demnächst mehr sein. Die Lissabon-Strategie ist auf ziemlich blamable Weise gescheitert,
Gleichzeitig befindet sich die Währungsunion in einer Krise. Nicht weil der Euro-Kurs gesunken ist, was dem Außenhandel dienlich ist, sondern weil mehrere Staaten unter ihren Schulden zusammenzubrechen drohen. Der Versuch, eine Währungsunion ohne gemeinsame und solidarische Finanzpolitik zu betreiben, erlitt erwartungsgemäß in der ersten Wirtschaftskrise Schiffbruch. Die sträflich vernachlässigten Kriseninstrumente müssen rasch improvisiert werden. Kaum ein Land ist noch willens oder fähig, sich an die Maastrichter Stabilitätskriterien zu halten. Das gilt sogar für das selten mit Haushaltsproblemen geplagte Luxemburg, dessen Staatsdefizit mehr als die erlaubten drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt. Bei jedem Krisengipfel der letzten Wochen wurden weitere als unumstößlich gefeierte, eherne Regeln der Währungsunion und der Zentralbank als verzichtbare Ideologie entlarvt und geopfert.
Angesichts des doppelten Fiaskos der Lissabon-Strategie und des Regelwerks der Währungsunion könnten Zweifel am wirtschaftspolitischen Sachverstand der ausgerechnet in solchen Fragen nicht gerade von Selbstzweifeln geplagten Staats- und Regierungschefs, der Brüsseler Kommission oder der Zentralbanker aufkommen. Aber die tieferen Ursachen dürften in einem doppelten und leicht absurd klingenden Widerspruch liegen: Einerseits im Widerspruch einer Politik, die versucht, mit beachtlichem bürokratischem Aufwand die ungehemmten Marktkräfte freizusetzen. Und andererseits im Widerspruch zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, welche die europäische Integration in den Dienst ihrer jeweiligen nationalen Interessen zu stellen versuchen.
Dieser doppelte Widerspruch führt zwangsläufig zu ineffizienten Konstrukten wie der „offenen Koordinationsmethode“ der Lissabon-Strategie und den Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrags. In diesen Tagen erweisen sich beide nicht als der wirtschaftspolitischen Weisheit letzter Schluss, sondern als politische Kompromisse und damit eher als Probleme denn als Lösungen. Doch die legendären Krisengipfel zeigen zum Glück immer wieder, dass die normative Kraft des Faktischen allen hohlen Methoden und Kriterien überlegen ist. Auch wenn das Lehrgeld die Kleinigkeit von 750 Milliarden Euro ausmachen könnte.