Die Freiheit steht Kopf

d'Lëtzebuerger Land du 07.02.2025

„Niemand ist mehr Sklave, als der sich für freihält, ohne es zu sein“ lautet gleich zu Beginn ein Zitat von Johann Wolfgang Goethe. Fanfaren kündigen feierlich eine Ankunft an, dann steht plötzlich in schwindelerregenden Bildern die Freiheitsstatue auf dem Kopf: Etwas stimmt mit diesem Amerika nicht, das The Brutalist abbildet. In dem dritten Film des US-amerikanischen Regisseurs Brady Corbet versucht ein Architekt in der unmittelbaren Nachkriegszeit seinen Traumata zu entkommen, indem er auswandert: Adrien Brody spielt Laszlo Tóth. Er ist der jüdische Stararchitekt, ein erfolgreicher Bauhaus-Schüler aus Ungarn, der in die Vereinigten Staaten übersetzt, sich in Pennsylvania niederlässt, um dort ein neues Leben zu beginnen. Und in diesem vielversprechenden Land wartet der mephistophelische Tycoon van Buren (Guy Pearce), eine Abwandlung des Musikproduzenten aus Vox Lux, Corbets vorherigem Spielfilm, eine reine Kapitalistenfigur. Er wird das Talent des visionären Künstlers schnell erkennen und eigennützig fördern. Es geht zunächst um einen aufstrebenden Bauarchitekten und die Dekonstruktion der ikonischen Idee von Freiheit – The Brutalist ist nach kleineren Produktionen wie Childhood of a Leader (2015) und Vox Lux (2019) einmal mehr eine Aufsteigerphantasie, die Corbet diesmal sehr aufwändig in Szene setzten kann. Alles an diesem Film ist der Idee von Größe verschrieben: Die Laufzeit des Films ist mit seiner epischen Breite von nahezu vier Stunden überwältigend. Die Kostümierung, die Ausstattung, die Requisiten, die Musik sind detailreich und verleihen dieser großen Americana, die die Künstlerbiographie über dreißig Jahre umspannt, ihren beanspruchten Wahrheitsgehalt, der keiner ist: Das Leben von Lázlo Tóth wird so eindringlich in Inhalt und Form vermittelt, dass man meinen möchte, es handle sich hierbei um eine historische Persönlichkeit der Kunstgeschichte. Lázlo Tóth soll für van Buren zu Ehren von dessen verstorbenen Mutter auf einem Hügel nahe des Familiensitzes ein großes Gemeindezentrum errichten, das eine Bibliothek, eine Sporthalle und eine Kapelle in sich vereinen soll. Groß und ambitioniert ist der Gedanke, modernistisch die Umsetzung, im Stile des Brutalismus – Stein auf Stein, reinstes Mauerwerk, glatte Oberflächen, roh und pur.

Laszlo Tóth hat in Ungarn den Holocaust überlebt – das Rollenbild von Brody aus dem Roman Polanskis The Pianist (2002) spielt in die Filmwahrnehmung freilich mithinein –, er wandert in die Vereinigten Staaten aus, um dort den amerikanischen Traum zu leben. Seine Frau Erzsébet (Felicity Jones) wird ihm bald folgen. Tóth und seine Frau werden ihn leben, den Traum, und auch nicht. Das macht die Anfangsszene des Filmes unmissverständlich klar: Aus der Rückenansicht folgen wir diesem Mann, wie er aus dem Innern eines Schiffes nach oben steigt und die Freiheitsstatue erblickt. Da tritt jemand aus dem Schatten ins Licht, um die Freiheit zu finden. Und doch nicht. Die Freiheitsstatue steht Kopf, mittels Kippbewegung der Kamera ist das Trügerische dieses Traums bereits artikuliert. Corbet baut entsprechende Formspiele virtuos in seinen Film ein, eine doppeldeutige Qualität ist ihnen immerzu eingeschrieben. Da gibt es den Zug, der Baumaterial transportiert, eine kleine Holzbaracke, die zu van Burens Anwesen führt, es sind diese stark aufgeladenen Bilder, die die KZ-Erinnerungen Tóths ins Bewusstsein heben – es sind Ambivalenzen, die Corbet bewusst setzt, der Klassizität seiner Mise-en-scène aber keinerlei Abbruch tun. Es sind in die Form eingeschriebene Verweise, die davon berichten, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nie voneinander zu trennen sind. Die Vergangenheit gräbt sich beständig in die unmittelbare Gegenwart und wirkt in die Zukunft. So wie The Childhood of a Leader und Vox Lux zwei sehr unterschiedliche Aufsteigergeschichten waren, so spiegeln sich der kleine Diktator und die aufstrebende Popsängerin auf vielfältige Weise in dem ungarischen Architekten Lázlo Tóth: Einmal in die Machtposition gerückt, reproduziert er Schikanen und verbale Gewalt, die er so vermutlich selbst im Konzentrationslager Buchenwald hat erleben müssen. The Brutalist ist mithin auch ein Film über die Shoah, ohne den ikonisch gewordenen Bildkatalog aus Filmen wie Schindler’s List (1993) oder Shoah (1985) von Claude Lanzmann zu bemühen.

Corbet nimmt sich für die Einführung der Figur viel Zeit, entfaltet deren Werdegang entlang vieler Gesprächsszenen, die Beziehung zu seinem Mäzen ebenso herausstellend, wie die zu seiner Frau. Adrien Brody spielt sehr in der Zurücknahme, Felicity Jones mit einem Hauch Angriffslust – ihre Hoffnungen, Wünsche, Rückschläge und Desillu- sion immerzu offenlegend. Corbet gilt vielen als der amerikanische Filmemacher, der eine europäische Autorensensibilität in sich trägt und dieser historischen Phase des Kunstkinos frönt: Das Ingmar Bergman-Zitat aus Das siebtente Siegel (1957) ist vielleicht Corbets bisher deutlichste Bekundung dieser Haltung. The Brutalist erzählt vielschichtig und ein wenig zynisch von der Unergründbarkeit der Kunst. In einer Szene am Esstisch van Burens artikuliert Corbet diese Idee deutlich: Den Krieg zu erklären, nachzuerzählen sei unmöglich, meint Tóth, der Holocaust unfassbar. So auch muss die Kunst Tóths zunächst für sich stehen: „Nothing is of it’s own explanation. Is there a better description of a cube than that of it’s construction?“ heißt es an einer Stelle. Wenn am Ende der Epilog einsetzt und anlässlich einer Retrospektive bei der Biennale in Venedig 1980 über das Werk des brutalistischen Architekten nachgedacht wird, entfaltet sich erst Corbets virtuoser Kunstgriff vollends. Die vierstündige Erzählung bringt den Kunstakt im Bauvorhaben nicht wirklich näher. Allein die jeweiligen Kapitelnamen, die den Film gliedern, – The Enigma of Arrival, The Hard Core of Beauty – klingen vielversprechend und demonstrativ, wahrhaftig Aufschluss über den Kunstwillen Tóths geben sie aber nie. Seiner Kunst ist nicht beizukommen, zu sehen sind die Bauten ohnehin nicht, es sind letztlich unvollendete Werke, so wie auch Tóths Wesen unergründlich bleibt. The Brutalist beschreibt den Weg eines Menschen aus der Dunkelheit ins Licht – die Anfangsszene bildet diesen Weg in der Kameraführung meisterlich nach – einem heimatlosen Getriebenen, dessen Traumata ihn nie loslassen und neue entstehen lassen. Es geht um den Mythos des Freiheitsgedankens, die Kluft zwischen Europa und Amerika, ja: es ist ein nahezu europäischer Film über Amerika, um die Perversion des „rags to riches“-Narrativs. Corbet beobachtet in seinen bisher drei Filmen überaus klarsichtig, wie Aufsteigerfiguren Machtsysteme reproduzieren unter neuen Verhältnissen. Dabei ist zu vermuten, dass der Regisseur selbst, mit der Auszeichnung des Silbernen Löwen in Venedig für die Beste Regie und der nun bekannt gegebenen Nominierung für zehn Oscars, gute Erfolgschancen hat. Im Vista-Vision-Format der 1950er-Jahre und auf analogem Filmmaterial gedreht, wird im Übrigen auf die organische Qualität des Mediums abgezielt. Dass Corbet sich als Purist des Kinos versteht, ist mit The Brutalist offenkundig geworden: Mit seiner fast vierstündigen Laufzeit richtet sich sein neuer Film, mitsamt seiner Ouvertüre und der fünfzehnminütigen Intermission, direkt gegen die gegenwärtige Unterhaltungsindustrie, die auf kurze Aufmerksamkeitsspannen setzt.

Marc Trappendreher
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