Neun Monate nach Luxleaks hapert es immer noch an der Auswertung der Datenflut. Das hindert die Sonderkommission Taxe aber nicht daran, Schlussfolgerungen zu ziehen

Dünne Datenlage

d'Lëtzebuerger Land vom 21.08.2015

Es ist wahrlich nicht viel, was die Europa-Abgeordneten der Sonderkommission Taxe, die als Reaktion auf die Luxleaks-Veröffentlichungen eingesetzt wurde, um die Praxis der EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf die Unternehmensbesteuerung zu untersuchen, in sieben Monaten an konkreten Informationen über den Inhalt der Rulings herausgefunden haben. Das liegt nicht etwa an mangelndem Eifer der Kommissionsmitglieder, die damit zu kämpfen haben, dass die EU-Mitgliedstaaten die von ihnen geforderten Informationen nur in homöopathischen Dosen weiterreichen. Außerdem kann man getrost davon ausgehen, dass sie Schwierigkeiten haben, die in den Steuervorbescheiden beschriebenen Strukturen zu durchblicken – immerhin halten sie fest, dass es den nationalen Steuerbehörden, die wahrscheinlich einiges mehr an Sachkompetenz aufzubieten haben, genau so ergeht. Das hält die Mitglieder der Sonderkommission allerdings nicht davon ab, in ihrem vorläufigen Bericht Schlussfolgerungen zu ziehen.

Nicht nur im Europaparlament (EP) gibt es Probleme, die komplexen Inhalte der mehreren hundert Rulings auf insgesamt 28 000 Seiten aufzuarbeiten, die vergangenen Herbst ins Netz gestellt wurden, und auch nur annähernd zu beziffern, welchen finanziellen Schaden der europäische Musterschüler Luxemburg anderen EU-Ländern zugefügt hat. Das zeigt sich auch daran, dass die Wettbewerbsbehörden der EU-Kommission ihre eigenen Untersuchungen im Rahmen der Staatsbeihilfeverfahren (gegen Fiat Finance and Trade und Amazon in Luxemburg, gegen Apple in Irland und Starbucks in den Niederlanden) trotz höchster Prioritätsstufe noch nicht abgeschlossen hat. In Deutschland, wo Luxemburg wegen seiner Steuerpraxis nach Luxleaks besonders heftig in der öffentlichen Kritik stand, tut man sich ebenfalls schwer damit, die Luxleaks-Datenflut auszuwerten.

Im Bundesfinanzministerium hat man in den Luxleaks-Akten 140 Fälle mit Bezug auf Deutschland identifiziert. In 22 davon werden Betriebsprüfungen durchgeführt, informiert Staatssekretär Jens Spahn in seiner Antwort auf die parlamentarische Frage des Grünen-Abgeordneten Thomas Gambke. Wie hoch der eventuelle Schaden ist, der dem deutschen Fiskus entstanden ist? „Ob und in welcher Höhe tatsächlich Gewinne von Deutschland nach Luxemburg verlagert wurden und hier somit ein Steuerschaden entstanden ist, konnte aufgrund der vorliegenden Informationen noch nicht abschließend festgestellt werden. Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand war eine Änderung der deutschen Steuerfestsetzung in den betroffenen Fällen bislang nicht notwendig. Teilweise gehen die Länder im Rahmen von Betriebsprüfungen noch offenen Fragen nach.“ Konkret heißt das: Bisher hat kein Unternehmen einen korrigierten Steuerbescheid bekommen.

Obwohl die Luxleaks-Akten für jedermann zugänglich im Internet stehen, ist Jens Spahn sehr zurückhaltend, wenn es um die Identität der betroffenen Firmen geht – auch in Deutschland gibt es ein Steuergeheimnis. Er beschränkt sich eher darauf, die am häufigsten beobachteten Arten der „Steuergestaltung“ zu nennen: „Vermeidung der Begründung einer Betriebsstätte in Deutschland, Inanspruchnahme einer präferenziellen Regelung für Einkünfte aus immateriellen Werten (sog. Patentbox), Geltendmachung von Holdingprivilegien und gezielte Ausnutzung von Qualifikationskonflikten (sog. Hybride Gestaltungen).“

Die Sonderkommission Taxe hat ebenfalls die Patentbox als häufig benutztes Steuergestaltungsinstrument ausfindig gemacht und festgestellt, dass multinationale Konzerne den Spielraum bei der Anwendung der Transferpreise, zu denen sich die Gesellschaften einer Firmengruppe Dienstleistungen und Lieferungen gegenseitig in Rechnung stellen, maximal ausreizen: „According to the (EU-) Commission, 72 per cent of profit shifting takes place in the EU through the channels of transfer pricing and location of intellectual property.“

Weil die Sonderkommission keine Angaben zu den im Detail analysierten Fällen macht, sind die wirklich interessanten Inhalte vielleicht anderswo zu suchen. Beispielsweise, beim direkten Zusammenhang, den die Berichterstatter Elisa Ferreira und Michale Theurer zwischen den Grundprinzipien der Europäischen Union und schädlichen Steuerpraktiken herstellen. „Whereas in a completed internal market, no distortion should affect investment decisions and business location; whereas, however, globalisation, digitalisation and free movement of capital create the conditions for more intense tax competition between Member States, and with third countries, to attract investments and businesses; whereas this can take the form of potentially harmful tax schemes“, schreiben Elisa Ferreira und Michael Theurer. Der freie Kapitalverkehr innerhalb der EU, der neben dem freien Personenverkehr als eine der obersten Errungenschaften der EU gilt, ermöglicht, ja fördert demnach den schädlichen Steuerwettbewerb.

Ob man es als Kritik an der Niederlassungsfreiheit werten kann, wenn die Berichterstatter schreiben, dass: „the few ‚winners’ of global tax competition, which are those countries with very attractive corporate tax policies inside and outside the EU, present some disproportionate economic fundamentals as compared with their size and real economic activity especially when looking into, for instance, the number of resident companies per inhabitant, the amount of foreign profits booked, FDI (Foreign direct investments, Anmerkung der Redaktion) or outgoing financial flows as compared to GDP, etc; (...) this demonstrates the artificial nature of their tax base and incoming financial flows and the disconnection which the current tax systems allows between where value is generated and where taxation is operated“?

Kleines Land mit überproportional hohem Anteil an den Flüssen ausländischer Direktinvestitionen? Die Beschreibung passt gut auf den Finanzplatz Luxemburg, der vom freien Kapitalverkehr und der Niederlassungsfreiheit auf dem EU-Binnenmarkt profitiert. „One country’s tax incentive is another’s base erosion“ – Ferreira und Theurer müssen feststellen, dass Recht und Gerechtigkeit, beziehungsweise Solidarität auch in Steuerfragen in der liberalen Wirtschaftszone EU nicht deckungsgleich sind. Eine Problematik, die ihrer Ansicht nach ob der immer noch ungelösten Schuldenkrise in der Eurozone von den Verantwortungsträgern in der EU nicht nur durch den automatischen Austausch von Rulings oder der Schaffung einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung angegangen werden müsste, wie es die EU-Kommission tun will. Die Berichterstatter bedauern, dass Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Juncker, Präsident der EU-Kommission, Jeroen Dijsselbloem, Präsident der Eurogruppe, Donald Tusk, EU-Ratspräsident und Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments in ihrem Bericht über die Vollendung der Währungsunion nicht wirklich darauf eingegangen sind, dass „these tax systems lag far behind when compared with coordination efforts at EU level, in particular in the framework of the European Semester“.

Deshalb schlagen die Berichterstatter vor, im Rahmen der alljährlichen Analyse der makroökonomischen Ungleichgewichte – bisher hat Luxemburg eine Prozedur wegen solcher Ungleichgewichte ebenso vermeiden können wie eine Defizitprozedur – die Unternehmensbesteuerungspraxis und ihre Wirkung auf andere Länder als neues Bewertungskriterium einzuführen.

Neben kleinen Ländern mit überproportional hohem Steueraufkommen hat die Sonderkommission Taxe noch weitere Schuldige identifiziert: Die Steuerberater der vier großen Firmenberatungsunternehmen PWC, KPMG, Deloitte und Ernst&Young. Sie unterstreicht in ihrem vorläufigen Bericht „the crucial role of the four biggest accounting firms (the ‚Big Four’) in the design and marketing of rulings and tax avoidance schemes exploiting mismatches between national legislations; (...) that those firms, which seem to derive a considerable amount of their revenue from tax services, to dominate most Member States’ auditing markets and to prevail in the global tax advising services constitute a narrow oligopoly; (...) the conflict of interest resulting from the the juxtaposition, within the same firms, of tax advice and consulting activities intended, on the one hand, for tax administrations and, on the other, for multinational corporations tax planning services.“ Sie bedauert zudem, dass das Joint Transfer Pricing Forum, das im Rahmen der Platform for Tax Good Governance, technische Richtlinien zum Thema Transferpreise ausarbeitet, hauptsächlich mit Mitarbeitern der Big Four besetzt ist, sie also nicht nur die Konzerne, sondern auch die Regierungen beraten. In Luxemburg war der Managing Partner von Ernst&Young, Alain Kinsch, bekanntlich als DP-Mitglied bei den den Koali­tionsverhandlungen dabei.

Während die Sonderkommission Taxe kommenden Monat noch den EU-Kommissionspräsidenten anhören will, bevor im Herbst im Europaparlament über ihren Bericht abgestimmt werden soll, und ohnehin fraglich ist, welche ihrer Empfehlungen, die über die von der Exekutive bereits geplanten Änderungen – automatischer Ruling-Austausch, gemeinsame Bemessungsgrundlage – hinausgehen, überhaupt Gehör finden, verweist sie auf die möglichen Folgen für die „free riders“ im internationalen Steuerwettbewerb, die sich aus den laufenden Staatsbeihilfeverfahren ergeben könnten. „Ongoing investigations could lead, in the event of infringement of EU rules, to the recovery, by the Member State which approved the considered tax measure, of the amount corresponding to the illegal State aid granted to the beneficiary undertakings (...) although this may have a significant negative effect on that specific Member State’s reputation, it constitutes de facto a bonus for non-compliance, which is unlikely to discourage Member States, in case of doubt, from granting abusive tax benefits, rather the contrary.“ Dass Finanzminister Pierre Gramegna erst einmal ausgesorgt hätte, wenn die Luxemburger Steuerverwaltung die zwei Milliarden Euro, die der Online-Händler Amazon in Luxemburg angespart hat, neu, zum nominalen Steuersatz von nahezu 30 Prozent, besteuern müsste, ist den Berichterstattern nicht entgangen.

Michèle Sinner
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