Wer beim Gesundheitsminister nachfragt, wie sich die Roadmap Sein entwickelt, erhält keinerlei Reaktion. Weil Mars Di Bartolomeo (LSAP) zu den Politikern gehört, die sehr gut wissen, wie das Spiel mit den Medien funktioniert, müssen die Probleme groß und jedes Wort aus Ministermund könnte womöglich das falsche sein.
Dabei wird über die Roadmap Cancer du sein 2012 - 2015, wie das Projekt voll ausgeschrieben heißt, schon seit über einem Jahr diskutiert. Im Grunde begann alles schon 2010, während der Debatten um die Gesundheitsreform. Damals hatte der Minister zwei Schweizer Experten mit einem Audit der Brustkrebsbehandlungen hierzulande beauftragt. Es betraf nicht nur das Mammografie-Programm für Frauen zwischen 50 und 69, über das regelmäßig Bericht erstattet wird, sondern alle Altersgruppen und die gesamte Brustkrebs-Behandlungskette: von der Diagnose über die Therapie durch chirurgische Eingriffe, Chemo- oder Strahlenbehandlung bis hin zur psychologischen Betreuung der Patientinnen und der Nachsorge.
Im März 2011 war das Audit fertig. Seine Ergebnisse sind bis heute nicht öffentlich. Halb öffentlich ist eine Bemerkung der Gesundheitsdirektion vom Dezember 2011 dazu: „Cet audit a permis d’identifier une grande diversité dans les modalités de prise en charge des femmes atteintes d’un cancer du sein et un système de documentation fragmentaire des actvités et des performances liés à cette prise en charge.“ In anderen Worten: Zumindest im Jahr 2010 war es offenbar nicht egal, wo eine an dem bei Frauen am häufigsten auftretenden Krebs Erkrankte sich behandeln ließ und von wem, und falls doch, wusste das dafür zuständige System nicht wirklich, was es eigentlich tat.
Mit der Roadmap Sein soll sich das Schritt für Schritt ändern. In dem Papier, das Di Bartolomeo am 7. Dezember letzten Jahres allen Beteiligten, vor allem Krankenhausleitun-gen und Ärzten, vorstellte, steht als „Vision“, Luxemburg solle sich innerhalb der Großregion bis zum Jahr 2015 den Ruf erwerben, dass die Brustkrebsbehandlungen hierzulande internationalen Standards genügen. Wie das geklappt hat, soll 2014 ein zweites großes Audit ermitteln. Und in diesem Jahr soll es losgehen mit den Reformen. Eigentlich.
Denn als der Minister im Februar ein „Begleitkomitee“ zur Umsetzung der Roadmap zusammenrufen wollte, winkten die Fachgesellschaften der Gynäkologen, der Radiologen und der Onkologen ab. Die Krebsfachärzte waren noch am wohlwollendsten: Man verstehe die Roadmap nur als „Arbeitsdokument“; in der vorliegenden Form könne man sie nicht in jedem Punkt unterstützen. Die anderen beiden Gesellschaften erklärten ihre Totalopposition. Sie lehnten jede weitere Diskussion um die Umsetzung der Roadmap ab und beauftragten den Ärzteverband AMMD, ihre Interessen zu verteidigen. Damit hat die AMMD auch schon begonnen. Anfang April schrieb sie dem Minister, sie werde „mit allen Mitteln“ dagegen vorgehen, dass die Roadmap sich an dem Grundsatz vergreife: „Le patient libre devant un médecin libre“.
Stein des Anstoßes ist nicht alles, was in der Roadmap steht. Dass die Behandlungen detailliert dokumentiert werden müssen, ist ebenso acquis wie der Vorsatz, die multidisziplinären Tumorkonferenzen in den Spitälern zu vereinheitlichen, oder die Idee, spezialisierte Breast Nurses zu engagieren. Aber: Die Roadmap schreibt für die an Brustkrebsbehandlungen beteiligten Ärzte jährliche Mindest-Fallzahlen vor. Zum Teil sollen sie mit den Jahren verschärft werden. So soll, wer Brustkrebs operiert, bis Ende dieses Jahres mindestens zehn Eingriffe vorgenommen haben, nächstes Jahr mindestens 20 und 2014 mindestens 30. Radiologen wiederum sollen in der Diagnostik, die mehrstufig in zwei bis drei „Lesungen“ erfolgt, falls ein Tumorverdacht besteht, pro Jahr mindestens 1 000 Erst-Lesungen nachweisen.
Ist das viel verlangt? Schon möglich. Im Herbst 2010 löste der Gesundheitsminister einen Sturm der Entrüstung unter den Gynäkologen aus, weil er in einem Interview Zahlen nannte, die aus dem Mammografie-Programm gesammelt worden waren: Über die Jahre 2005 bis 2008 hinweg betrachtet, hatten 57 Ärzte knapp 1 600 Brustkrebse operiert, aber nur vier brachten es auf mehr als 20 Operationen pro Jahr. 24 Ärzte dagegen nahmen nicht mal fünf jährliche Operationen vor. Dabei verlangen die Richtlinien des Europäischen Verbands der Brustkrebspsezialisten Eusoma wenigstens 50 Operationen pro Arzt in spezialisierten Brustzentren.
Zwar geben Zahlen aus dem Mammografie-Programm allein nicht das ganze Bild wieder. Brustkrebs ist unter den 50- bis 69-Jährigen besonders häufig, doch 2008 zum Beispiel wurden von 343 Neuerkrankungen 111 bei jüngeren oder noch älteren Frauen entdeckt. Aber die Gynäkologische Gesellschaft konterte damals prinzipiell: Fallzahlen seien „kein Qualitätsindikator“. Man solle sich besser daran orientieren, dass die Brustkrebs-Sterblichkeit hierzulande im Europa-Vergleich vorbildlich gering ist. Das würde auch dem Umstand gerecht, dass eine Krebsbehandlung immer im Team erfolgt. 2008 lag die Sterblichkeitsrate in Luxemburg bei 21,3 Todesfällen pro 100 000 Einwohner. Noch kleiner war sie nur in Finnland und in Norwegen.
So ähnlich argumentieren die Gynäkologen auch heute. Ebenfalls der Ärzteverband AMMD, der sich gegenüber Di Bartolomeo vor sechs Wochen unter anderem auf eine Untersuchung durch das Pariser Institut de recherche et documentation en économie de la santé (Irdes) berief. Darin waren 206 wissenschaftliche Studien neu gelesen worden, die zwischen 1996 und 2007 den Zusammenhang von Behandlungsvolumen und Qualität zum Gegenstand hatten. Resümee des Irdes: Für komplizierte Operationen habe die Quantität durchaus Einfluss auf die Qualität; das gelte nicht zuletzt für Krebs-OPs. Brustkrebs-Eingriffe aber nennt die Irdes-Studie nicht explizit „kompliziert“. Weil auch noch andere Studien zu dem Schluss kommen, von Quantität auf Qualität zu schließen, sei zumindest nicht immer einfach, kommt es für die AMMD bei einer so „mageren“ wissenschaftlichen Basis auf keinen Fall in Frage, die freie Berufsausübung des Arztes einzuschränken. Damit ruht das Vorhaben Roadmap erst einmal – und die AMMD wartet darauf, dass der Minister einlenkt.
Fragt sich nur, ob Luxemburg es sich leisten kann, auf die Stückzahl-Kriterien zu verzichten. In Belgien zum Beispiel sind seit 2008 nicht 30, sondern 50 Brustkrebs-Operationen pro Gynäkologe und Jahr in einem spezialisierten Brustzentrum Pflicht; so, wie es die Guidelines der Eusoma vorsehen. Ebenso im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo seit 2010 Brustkrebs nur in Spitälern operiert werden darf, die von der Landesregierung als Brustzentrum oder Teil davon anerkannt sind. Qualitäresultate werden dort auch ermittelt; aber parallel zu den Stückzahlen, und wer Letztere nicht erbringt, muss ausscheiden.
Was im Ausland vorgeht, ist für Luxemburg nicht zuletzt deshalb nicht belanglos, weil ab 25. Oktober nächsten Jahres die EU-Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung umgesetzt sein muss. Ihr zufolge muss in jedem Mitgliedstaat an „Kontaktpunkten“ darüber informiert werden, welche Gesundheitsleistungen erbracht werden, welcher Qualität sie genügen und welchen Preis sie haben. Zwar schreibt weder die Richtlinie noch die EU-Kommission vor, was genau den Patienten mitzuteilen ist. Welchen Standards und Leitlinien welche Behandlungen an welchen Krankenhäusern unterliegen, muss jedoch mitgeteilt werden. Und falls Luxemburg sich seine Standards lieber selber definiert und sich das herumspricht, könnte mit der Zeit vielleicht sogar die einheimische Bevölkerung auf den Gedanken kommen, sie sei im Ausland besser versorgt.
Die Opposition aus der Ärzteschaft bringt aber noch ein weiteres, viel grundsätzlicheres Problem zum Vorschein. Denn die AMMD argumentiert auch juristisch und hält Di Bartolomeo vor, welche Artikel im Deontologie-Kodex der Mediziner, im Krankenversicherungsgesetz und im Gesetz über den Arztberuf die ärztliche Therapiefreiheit festlegen. Und sie betont, zumindest die freiberuflichen Belegärzte in den Krankenhäusern – und das trifft auf die meisten Spitalmediziner zu – seien unabhängig von der Spitaldirektion. Wer sollte einem Arzt also untersagen zu tun, was seine Approbation und seine Fachqualifikation ihm gestatten und wofür ihn ein Dienstleistervertrag, aber kein Arbeitsvertrag, mit einem Spital verbindet?
Damit könnte die AMMD Recht haben. Dann aber fragt sich, ob jener Vorschlag zur Güte, der jetzt informell zwischen dem Minister und den drei Facharztgesellschaften zirkuliert, eine gute Lösung wäre: ein „virtuelles“ Brustkrebszentrum. Die Idee geht auf die Gynäkologische Gesellschaft zurück und würde bedeuten, ein großes, alle fünf Krankenhäuser übergreifendes multidisziplinäres Gremium zu schaffen, das jeden einzelnen Krebsfall bespricht und die beste Behandlungsstrategie festlegt. Die würde dann im jeweiligen Krankenhaus exekutiert.
Doch wenn schon eine Krankenhausdirektion einem freiberuflichen Klinikarzt nicht viel zu sagen hat, würden mit einem virtuellen Entscheider die Organisationsprobleme noch größer. Wer wollte dann die bestmögliche Versorgung der Patienten garantieren?
Und eine unbequeme Wahrheit hinter der ganzen Roadmap-Debatte lautet, dass der Brustkrebs zwar der häufigste in Luxemburg neu entdeckte Krebs ist, aber pro Jahr nur zwischen 300 und 350 neue Fälle gezählt werden. Nimmt man die einschlägigen Guidelines ernst, dürften hierzulande nicht fünf, sondern höchstens zwei Spitäler Brustkrebs behandeln, denn die Mindestmenge pro Brustzentrum liegt bei 150 Fällen im Jahr. Die Frage muss also heißen: Wer macht was? Sie lautet in Luxemburg aber auch: Wie soll die Krankenhausmedizin organisiert sein, und welche Rolle sollen darin die „liberalen“ Mediziner spielen?