ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Blutige Nase

d'Lëtzebuerger Land vom 07.02.2025

Die Regierung sucht Unterstützung für Änderungen an der Rentenversicherung. Sie versprach, „d’impliquer largement la population“. So Sozialministerin Martine Deprez am 4. Oktober. Im Internet forderte sie Interessierte auf: „Teilen Sie uns Ihre Vorschläge für eine nachhaltige Altersversorgung mit.“ Denn „[c]e type de démarche participative est essentiel pour garantir que les décisions prises reflètent au mieux les besoins et attentes des citoyens“.

Seit zwei Monaten ist der Ideenwettbewerb „Schwätz mat“ beendet. Die Ergebnisse liegen vor. Doch die Regierung macht wenig Aufhebens darum. Vielleicht blieb der Erfolg hinter den Erwartungen zurück. Insgesamt waren 2  022 Beiträge eingegangen. Bei 650 000 Versicherten ergibt das eine Beteiligung von 0,31 Prozent. Zehn Monate vor den Wahlen hatte die Handelskammer die neue Rentenpanik verbreitet. Die Leute scheinen das für übertrieben zu halten.

Der Ideenwettbewerb kostete laut Reporter.lu 138 400 Euro. Weil ab 140 810 Euro öffentliche Ausschreibungen notwendig werden. Das macht 68 Euro pro Beitrag aus. Bei maximal 500 Zeichen beträgt das Zeilenhonorar stattliche zehn Euro. Das Geld ging allerdings nicht an die Autorinnen. Sondern an die lokale Stieftochter Snakke der deutschen Beraterfirma Zebralog.

Die Privatfirma wertete die Beiträge für die Regierung aus. Ihre Kenntnisse der Sozialversicherung erweisen sich als beschränkt. Die Lektüre vertraute sie der Künstlichen Intelligenz Claude 3.5 Sonnet der Amazon-Firma Anthropic an.

Der Auswertungsbericht listet 34 Arten von Vorschlägen auf (S. 13). Fünf Arten von Vorschlägen kommen In 66,9 Prozent der Beiträge vor: An der Spitze liegt eine „Anhebung der Mindestrente“ in 20,3 Prozent der Vorschläge. Gefolgt von der Beibehaltung der „Indexierung/Rentenanpassung“ (19,8%). 
Und „[a]lternative Finanzierungsquellen suchen“ (19,1%), wie „Steuern, Vermögensabgaben oder innovative Investitionen“ (S. 17).

Abgeschlagen folgt die „Deckelung hoher Renten“ (4,0%) „zwischen 5 000 bis 8 000 EUR pro Monat“ oder in Höhe des „3- bis 5-fachen Mindestlohns“ (S. 16). 3,7 Prozent der Vorschläge befassen sich mit einer „Anpassung der Beitragssätze“, „z.B. von 8% auf 9% oder 10%“ (S. 24).

Online-Befragungen entsolidarisieren. Mit der Bürgerbeteiligung wollte die Regierung die Gewerkschaften ins Abseits drängen. Doch ein Drittel aller Teilnehmenden bediente sich eines vorbereiteten Textes. Sie „schließe[n] [s]ich der Stellungnahme von OGBL und LCGB an“.

In keinem einzigen Beitrag fällt das Wort „Rentenmauer“ oder „700 000-Einwohnerstaat“. Eine „Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters“ fand keinen nennenswerten Zuspruch (1,9%). Auch der angestrengt geschürte Neid auf die Renten im öffentlichen Dienst blieb erfolglos. Obwohl ausgewalzt als „Systematische Vereinheitlichung“ (1,8%), „Harmonisierung der Leistungsgrundlagen“ (1,1%), „Harmonisierung der Beitragsgrundlage“ (1,1%), „Gleichbehandlung von Berufsgruppen“ (0,8%).

Die im Koalitionsabkommen (S. 101) geplanten Maßnahmen will kaum jemand. Etwa die „steuerliche Förderung privater Altersvorsorge“ (1,5%) oder die „betriebliche Altersvorsorge“ (0,6%).

Der Bericht bemüht sich redlich, das „quantitative“ Ergebnis des Ideenwettbewerbs in ein „qualitatives“ umzuwandeln (S. 7). Um die Häufigkeit der beliebtesten Vorschläge vergessen zu machen. Denn sie laufen den Absichten von Regierung und Unternehmerlobbys zuwider: Die immer wieder verlangte Erhöhung der Mindestrente, Beibehaltung der Rentenanpassungen, der Allocation de fin d’année. Ebenso die Gegenfinanzierung durch eine Vermögensabgabe, eine Anhebung der Beitragssätze. Die Regierung holte sich bei der Bürgerbeteiligung eine blutige Nase.

Romain Hilgert
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