Aufsteiger Er war eigentlich in allem recht erfolgreich. Claude machte sein Abitur mit 18 Jahren, studierte anschließend Betriebswirtschaftslehre und heuerte bei einer Bank in Luxemburg an. Er war in einer festen Beziehung, verbrachte seine Wochenenden bei den Pfadfindern und auf dem Fußballplatz eines Dorfvereins. Manche rieten ihm dazu, über eine Karriere als Politiker nachzudenken. Es lief gut bei Claude, dass er einmal Mobbingopfer werden könnte, hielt er für ausgeschlossen.
Er weiß nicht mehr genau, wann es anfing. Vielleicht nach ein paar Wochen, vielleicht schon am ersten Tag. Aber er weiß noch genau, dass ihm irgendwann klar wurde: Hier stimmt etwas nicht.
Claude fand seine Kollegen anfangs in Ordnung. Sie waren „nett“, vielleicht „etwas lethargisch“ und „laut“. Aber er dachte sich, man müsse ja nicht gleich beste Freunde werden, selbst wenn man acht Stunden gemeinsam in einem Großraumbüro verbringt. Er war mit 25 Jahren der jüngste im Team. Zu seinem Chef, einem Mann Anfang 50, hatte er ein vertrautes, „fast väterliches“ Verhältnis.
Claude war es gewohnt, Dinge zu erledigen. Und er tat dies gewissenhaft. Was auf seinem Tisch lag, arbeitete er ab. Ihm war bewusst, dass es ihm schwerfiel, nein zu sagen. Aber er dachte, er könne das aushalten. Er wollte gute Arbeit leisten und dafür wertgeschätzt werden. Und in der Regel erhielt er diese Wertschätzung auch. Gleich am Ende der ersten Woche sagte sein Chef, der nur selten im Büro war, vor versammelter Mannschaft: „Seht her! So wie Claude müsst ihr es machen!“
L’enfer, c’est les autres Rückblickend ist ihm natürlich klar, dass der Chef ihm damit keinen Gefallen getan hat. Der Parvenü galt von Beginn an als Bedrohung für die „netten Kollegen“. Und diese sollten ihm das schnell zeigen: Sie gaben ihm einen Spitznamen, den er nicht in der Zeitung lesen will, schleppten ihn täglich mit in die Kantine, ignorierten ihn jedoch und verlangten von ihm nach dem Essen Kaffee für das ganze Team. Claude erfüllte ihnen den Wunsch, er wollte ja nicht „unhöflich“ sein. Aber es war laut Claude vor allem sein direkter Vorgesetzter, der es auf ihn abgesehen hatte. Er gab Claude nach kurzer Zeit deutlich mehr Arbeitsaufträge als allen anderen. Er wolle den Neuen nur schulen, damit er besser werde, so dessen Begründung.
Claude nahm die Challenge an und schaffte es, die Arbeit zu erledigen. Allerdings musste er dafür Überstunden einlegen, was er anfangs noch nicht als Qual empfand. Das veranlasste den direkten Vorgesetzten, ihm noch mehr Arbeit zu geben. Claude musste sich entscheiden: Entweder er lehnte die Aufträge ab, oder er musste sie schneller bearbeiten. Da er nur ungern nein sagte, entschied er sich zunächst für Letzteres. Das ging jedoch zulasten der Akkuratesse. Und darauf schien der Vorgesetzte nur gewartet zu haben, der ihm detailliert alle Fehler aufzeigte. Claude hielt die Kritik damals für berechtigt, immerhin war er verantwortlich für die falschen Zahlen. Claude nahm sich vor, noch gewissenhafter und härter zu arbeiten.
Als ihm trotz Überstunden dennoch weiterhin Fehler unterliefen und er weiteren Tadel über sich ergehen lassen musste, begann er zaghaft einige Aufträge abzulehnen. Er hoffte auf das Verständnis des Vorgesetzten. Das suchte er jedoch vergebens: Claude müsse lernen, schneller zu arbeiten und solle sich doch nicht beklagen. Das würden andere ja auch nicht tun. Und immerhin sei er noch jung, da müsse er doch etwas mehr Ausdauer und Kritikvermögen mitbringen. Claude fühlte sich missverstanden, aber er nahm sich die Kritik dennoch zu Herzen.
Nach diesem Schema ging es laut Claude über Wochen in der Bank weiter. Claude redete sich ein, dass es sich um einen Lernprozess handele, der nun einmal dazu gehört, wenn man erfolgreich die Karriereleiter in der Privatwirtschaft hochsteigen will. Doch er begann die regelmäßige Kritik als „Demütigung“ und „Kränkung“ zu empfinden. Und er rang mit sich, ob er diese Gefühle auch zeigen sollte. „Die warteten doch nur darauf, dass ich Schwäche zeige. Ich wollte Ihnen diese Genugtuung nicht geben“, so Claude heute.
Doch irgendwann war es dann doch zu viel: Er suchte das Gespräch mit seinem „väterlichen“ Chef. Und dieser zeigte, laut Claude, auch Verständnis: Er nannte Claudes Vorgesetzten einen „Loser“, Claude solle dessen Kränkungen doch einfach ignorieren, den Inhalt der Kritik jedoch ernst nehmen. Claude war irritiert. Denn gerade in der unverhältnismäßigen Kritik lag doch die Kränkung. Als sein direkter Vorgesetzter von dem Gespräch erfuhr, stellte er sich vor die Abteilung und erklärte den Kollegen, Claude würde jetzt unter „Welpenschutz“ stehen. Gelächter.
Alltagsproblem Was der junge Bankangestellte erleben musste, ist in Luxemburg keine Seltenheit. Im Gegenteil. Laut offiziellen Statistiken ist Luxemburg das Land mit der zweithöchsten Mobbingquote in der Europäischen Union. Überall wird gemobbt. Es ist ein Phänomen, das sich in allen gesellschaftlichen Schichten und in allen Altersgruppen finden lässt: vom Kindergarten bis zum Altersheim. Und es ist in der Arbeitswelt im Privatsektor ähnlich weit verbreitet wie im öffentlichen Dienst. Mobbing kann jeden treffen, so der Konsens der Psychologen. Es ist ein weitverbreiteter Mythos, dass es ein bestimmtes Profil eines Mobbings-Opfers gibt. Kleine, Dünne, Dicke, Schwarze, Weiße, Kluge, Dumme, Männer, Frauen – es gibt kein charakterliches Merkmal oder sonstige Eigenschaft, die ein Individuum vor psychischer Gewalt schützt.
Dabei ist Mobbing seit Ende der 1990-er-Jahren zu einer Art Trendwort geworden. In Buchhandlungen finden sich etliche Mobbingratgeber, es vergeht wohl kaum eine Woche, in der die Presse nicht über das Thema berichtet. Aktuell gibt es auch in Luxemburg drei prominente Verdachtsfälle: Etwa im Max-Planck-Institut auf dem Kirchberg, wo die Rechercheplattform Buzzfeed News von strukturellem Mobbing spricht, da Forscher Jahrelang von ihrer Direktion gemobbt wurden. Oder auch am großherzoglichen Hof, wo knapp die Hälfte der Mitarbeiter innerhalb weniger Jahre kündigte oder sich versetzen ließ. Oder beim CIGR Syrdall, wo eine Klage gegen den Generalkoordinator der Beschäftigungsinitiative in erster Instanz abgewiesen wurde.
Das Thema ist dermaßen präsent, dass man sich fragt, ob Mobbing zur Ordnung von sozialen Gruppen nicht eher die Regel denn die Ausnahme ist. Denn Mobbing ist ein Machtinstrument, das hilft, Hierarchien innerhalb von Gruppen zu strukturieren. Es ist frei nach Heinrich von Popitz eine Form von Gewalt, die jeder ausführen kann, aber nicht muss. Und es hat eine Funktion, die für den Mobber auf den ersten Blick sehr gewinnversprechend ist. Das Opfer ist erniedrigt, der Mobber erhält einen sozialen Machtgewinn oder eine Befriedigung. Mobbing beschreibt dabei das wiederholte seelische Schikanieren eines einzelnen Menschen durch eine beliebige Gruppe oder eine Einzelperson. So hat der schwedische Mobbing-Forscher Heinz Leymann in den 1990-er-Jahren den Begriff definiert, und diese Definition gilt als Idealtypus noch heute.
Kein Gesetz Luxemburg ist dabei eines der wenigen Länder in der Europäischen Union, die noch kein entsprechendes Mobbinggesetz für die Arbeitswelt haben. Zwar gab es bereits Versuche gesetzgeberisch aktiv zu werden. Doch die Initiativen verliefen im Sande. Lucien Lux (LSAP) legte 2002 als Abgeordneter einen Gesetzesvorschlag gegen „Harcèlement moral“ am Arbeitsplatz vor. Kurze Zeit später reichte Arbeitsminister François Biltgen (CSV) einen eigenen Gesetzesentwurf nach belgischem Modell nach. Der Staatsrat ging jedoch mit seltener Entschlossenheit gegen Biltgens Entwurf vor („le Conseil d’Etat doit s’opposer formellement à un texte incomplet et incohérent qui ne remplit pas les qualités formelles neécessaires d’un acte juridique“) und bevorzugte die Initiative von Lucien Lux. Doch die Zeit verging, umgesetzt wurde nichts.
Arbeitsrechtler, Psychologen oder auch Gewerkschaftler zeigen deshalb seit Jahren mit dem Finger auf das Problem in Luxemburg. Zu ihnen gehört auch der Arbeitspsychologe Georges Steffgen, Professor an der Universität Luxemburg. Er führt seit 2014 den Quality of Work Index durch, eine Studie im Auftrag der Arbeitnehmerkammer, die auch das Thema Mobbing aufgreift. Die Ergebnisse seiner Forschung sind dabei geradezu erschreckend: „Wir können belegen, dass mindestens zehn Prozent der Arbeitnehmer in Luxemburg Opfer von Mobbing geworden sind.“ Steffgen gehört deshalb zu denen, die fordern, dass die Politik gesetzgeberisch aktiv wird. „Es ist die Aufgabe des Staates, seine Bürger zu schützen“, so Steffgen. Ähnlich wie physische Gewalt sollte deshalb auch psychische Gewalt unter Strafe gestellt werden.
Epilog Tatsächlich hat die aktuelle Regierung in ihrem Koalitionsprogramm ein Mobbinggesetz als Ziel aufgeführt. Und vergangene Woche kündigte Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) in einer Sitzung im Parlament an, bis zum Ende des Jahres einen Text vorzustellen. Er habe die Mobbing asbl damit beauftragt, einen ersten Text auszuarbeiten. Arbeitspsychologe Steffgen begrüßt Kerschs Ankündigung und spricht sich für ein Modell aus mit doppelter Beweislast. Sowohl die Arbeitgeber stehen demnach in der Pflicht, bei einem Mobbingfall nachzuweisen, dass sie alles Notwendige unternommen haben, um präventiv Mobbing zu verhindern. Allerdings sollte auch der Geschädigte nachweisen können, dass er ein Opfer von Mobbing geworden ist. Die ILO (International Labour Organization) spricht sich für das Modell einer umgekehrten Beweislast aus. Kersch hat sich im Parlament jedoch eher skeptisch dem gegenüber gezeigt– Details wollen die Beteiligten des neuen Gesetzes derzeit nicht mitteilen.
Der Bankangestellte Claude packte nach Monaten der Demütigungen die Gelegenheit beim Schopf und ließ sich in eine andere Abteilung versetzten. Damit war für ihn das Problem gelöst. Aber mit Missmut stellte er damals fest, dass sein früherer Vorgesetzter in seinem Nachfolger ein neues Opfer fand. All das liegt nun schon Jahre zurück, der Mobber ist mittlerweile in Rente. Aber das Mobbing-Problem besteht weiter täglich in Luxemburg. Und für Claude hat es deshalb eine große politische Priorität, dass Luxemburg potentielle Mobbingopfer nun endlich durch ein Gesetz schützt.