Es war ein Eklat – den kaum einer bemerkte. Als Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) vor zwei Wochen ihren Aktionsplan für Menschen mit Behinderungen vorstellte, berichtete die Presse am Tag darauf, als wäre alles reibungslos gelaufen, als hätten Behindertenorganisationen, Betroffene und Ministerien den 64-seitigen Aktionsplan einvernehmlich erarbeitet.
Für einen Teil der Vorbereitungen mag das zutreffen. Da keine Protokolle der Arbeitssitzungen zugänglich sind, Teilnehmer hatten diese zunächst veröffentlicht, waren aber vom Familienministerium dafür gerügt worden, ist es für Außenstehende schwierig, den Prozess der Meinungsfindung nachzuzeichnen. Die Pressekonferenz jedenfalls zu dem in elf Kapitel unterteilten Aktionsplan mit seinen 64 Maßnahmen, teils von den Betroffenen selbst vorgetragen, ging weitgehend störungsfrei über die Bühne, von Problemen mit dem Mikrofon abgesehen. Aber als der Sprecher der Arbeitsgruppe vier zum Kapitel Bildung sprechen sollte, wurde nicht das abgelesen, was im Aktionsplan auf zehn Seiten vermerkt war. Vielmehr verlas er mit fester Stimme ein zweiseitiges Posi-tionspapier, in dem sich die Mitglieder der Arbeitsgruppe ausdrücklich von dem Kapitel des Aktionsplans distanzierten. Die Ministerin quittierte dies mit einem angestrengten Lächeln.
Dem vorausgegangen waren anhaltende Meinungsverschiedenheiten (d’Land vom 16.03.12) und Kommunikationsprobleme zwischen den Teilnehmern der Arbeitsgruppe und den Regierungsvertretern. Ministerin Jacobs ließ zwar keine Gelegenheit aus, um die „erfolgreiche Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft“ zu loben und behauptete gar, „den Wünschen der betroffenen Interessengruppen konnte zum großen Teil entsprochen werden”. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.
Richtig ist: Etliche Vertreter äußerten sich zufrieden darüber, dass überhaupt erstmalig ein Aktionsplan zur Verbesserung der Lebensbedingungen von behinderten Menschen vorliegt. Das sagen auch Betroffene, etwa der Selbsthilfegruppe Nëmme mat eis. Mit der „kompetenten Unterstützung“ der Ministerin werde die Umsetzung schon klappen, freute sich ein Teilnehmer der Pressekonferenz überschwänglich.
Für die Mitglieder der Arbeitsgruppe Bildung gilt dieser Optimismus aber nicht. Schuld ist ihrer Meinung nach das Unterrichtsministerium, das trotz wiederholter Kritik durch Behindertenorganisationen weiterhin stur am zweigeteilten Schulsystem festhalte: hier die Regelschule, da die Sonderschulen der Éducation différenciée.
Der Konflikt ist nicht neu. Seit Jahren, ja Jahrzehnten schon kämpfen Eltern, aber auch einige Pädagogen behinderter Kinder darum, ihre Jungen und Mädchen gleichberechtigt am regulären Unterricht teilnehmen zu lassen. Ihre Kritik: Auch das neue Grundschulgesetz habe die Probleme nicht behoben.
Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass die Abteilung Éducation différenciée , ihre Dienste und Zentren restrukturieren und, so steht es im Aktionsplan, die Éducation différenciée als „Bestandteil der Regelschule“ aufbauen will. In einem umfassenden Reflexionspapier, das dem Land vorliegt, soll diese neue, alte Struktur subsidiarisch eingreifen, nämlich immer dann, wenn sonderpädagogische Kompetenzen benötigt werden.
Den Teilnehmern der Aktionsgruppe Bildung geht das aber nicht weit genug beziehungsweise sie will den Vorrang einer inklusiven Pädagogik, die grundsätzlich jeden Schüler da fördert, wo er steht, vor einer Sonderpädagogik. Sie warnen, mit dem Ausbau der Sonderpädagogik innerhalb der Regelschule werde „eine echte Innovation unseres Schulsystems im Sinne einer inklusiven Allgemeinschule erschwert, wenn nicht sogar verhindert“. Im offiziellen, maßgeblich von Vertretern des Unterrichtsministeriums verhandelten Text steht lediglich, dass Lehrer der Regelschule „in intensiver Zusammenarbeit mit dem Personal der Édiff den integrativen Prozess im Sinne aller Schüler fördern“. Von inklusiver Pädagogik ist im ganzen Kapitel keine Rede, lieber wird die besondere Rolle der Sonderpädagogik betont.
Das ist aber nicht die einzige Kritik an der Vorgehensweise der Regierung. Die Behinderten-Selbsthilfegruppe Nëmme mat eis blieb aus Protest der offiziellen Pressekonferenz fern, weil „am Ende viele Maßnahmen verschwunden oder sehr dürftig ausgefallen sind“, wie sie ihr Wegbleiben einen Tag später auf ihrer eigenen Pressekonferenz begründete.
Der Einwand ist berechtigt, denn viele der Maßnahmen und Ziele sind ziemlich vage gehalten. Der geforderte unabhängige Behindertenbeauftragte wurde vom Familienministerium nicht zurückbehalten, ebenso fehlt die persönliche Assistenz, die behinderten Menschen helfen würde, ihr Leben so eigenständig wie möglich zu gestalten. Und was genau bedeutet der Zeitraum „fortlaufend“ für die Zusage, ein Kommunikationszentrum für Menschen mit Kommunikationsschwierigkeiten zu errichten?
Auf die Frage, was es braucht, um die Gebärdensprache auch in Luxemburg als Sprache anzuerkennen, weiß das zuständige Ministerium keine Antwort, sondern verweist auf die Schwierigkeit, dass es ja die deutsche und die französische Gebärdensprache gebe. Ungenau lesen sich auch Maßnahmen, die den Weg behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt verbessern sollen: Unter dem Stichwort „Verbesserung der Möglichkeiten der Schul- und Berufsausbildung“ steht als Zeitpunkt „mittelfristig“. Auf die Bitte um präzisere Auskunft weiß der koordinierende Beamte nur zu melden, dass außer den bestehenden Gesetzen keine weiteren Maßnahmen in der Mache seien. Und wie soll wohl die Maßnahme umgesetzt werden, mehr (Zeitungs-)Beiträge in leichter Sprache zu veröffentlichen? Auf Kritik stößt bei den Betroffenen zudem der Gebrauch des Begriffs Behindertensport: „Wir hätten erwartet, dass Sportvereine ermutigt würden, Menschen mit Behinderungen als gleichberechtigte Mitglieder aufzunehmen“, sagte Danièle Flammang, Präsidentin von Zesummen aktiv, enttäuscht.
Selbst die Beteiligung an den Vorbereitungen zum Plan sei nicht immer gewährleistet gewesen, unterstrich Nëmme-mat-eis-Präsident Patrick Hurst. Denn obgleich 160 Interessierte sich für die diversen Arbeitsgruppen gemeldet hatten; die Art und Weise, wie sie sich tatsächlich in die Arbeit am Aktionsplan einbringen konnten, hing offenbar von der Zusammensetzung und den Forderungen der jeweiligen Arbeitsgruppe ab. Barrieren, wie das Fehlen eines Gebärdendolmetschers oder Dokumente in Brailleschrift oder auch der Transport zum Veranstaltungsort oder die persönliche Assistenz etwa bei Geistig Behinderten mögen für Nicht-Behinderte eine organisatorische Detailfrage sein, für die Betroffenen sind sie essentiell, um überhaupt an der Diskussion teilhaben zu können.
Immerhin: Beim Thema Vormundschaftsrecht, ein wichtiges Anliegen der Menschen mit Behinderungen, da es darum geht, inwiefern sie überhaupt über ihren Lebensentwurf selbst bestimmen können, bestätigt Jeannot Berg vom Justizministerium: „Das Timing wird zu hundert Prozent eingehalten“. Man sei dabei, „die Vorbereitungen für eine Reform des Vormundschaftsgesetzes zu treffen“. In welche Richtung genau diese gehen werden, kann Berg nicht sagen. Fest steht aber, dass Personen, die unter Vormundschaft stehen, nicht mehr automatisch vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen werden sollen. Das Innenministerium will nationale und kommunale (Katastrophen-)Alarmsysteme für Menschen mit Behinderungen zugänglich machen. Aber obwohl man sich dazu „zusammensetzen will“, wann genau dies geschieht, weiß der zuständige Koordinator nicht.
Auffällig ist zudem, dass gar kein Budget vorgesehen ist für all die Maßnahmen, die die Situation Behinderter hierzulande verbessern sollen, jedenfalls nicht in der offi-ziellen Version, die die Ministerin der Presse aushändigte. Ein Mangel, wie Nëmme mat eis unterstrich. Schulen und Kindergärten gegen Vorurteile zu sensibilisieren, Kinder mit spezifischen Bedürfnissen adäquat zu betreuen, Gebärdendolmetscher einzustellen, die Dienste von Verwaltungen auf die so genannte leichte Sprache umzustellen, die Internetpräsenz zu vereinfachen, Architekten über behindertengerechtes Bauen aufzuklären, all das kostet Geld. Weil aber im Plan keinerlei finanzielle Mittel vorgesehen sind, setzt sich die Familienministerin, ob zu Recht oder Unrecht, dem Verdacht aus, der Maßnahmenkatalog könnte am Ende sehr viel weniger Konkretes bewirken, als er auf den ersten Anschein verspricht.
Wie ernst es der CSV-LSAP-Regierung und ihren Ministerien wirklich ist, nach jahrelangem Schlendrian Nägel mit Köpfen zu machen und die Maßnahmen im Plan umzusetzen, wird man spätestens in zwei Jahren sehen, wenn der Aktionsplan ausgewertet werden und Luxemburg vor den Vereinten Nationen Rechenschaft ablegen soll. Die Behindertenselbsthilfegruppe Nëmme mat eis hat jedenfalls vorsorglich schon einmal angekündigt, diesen Prozess kritisch mit einem so genannten Schattenbericht begleiten zu wollen.