Ist es vermessen zu behaupten, dass die beiden Diskutanten fast interessanter sind als ihr Thema? Damit will ich nicht behaupten, dass die geführten Gespräche inhaltlich irrelevant sind. Es wäre auch ungerecht, denn das Thema wird auf beiden Seiten so ernst genommen und mit persönlichem Herzblut verarbeitet, dass eine Verharmlosung des Inhalts einer Verfälschung gleichkäme. Aber das Diskussionsniveau sowie die Brillanz der Formulierungen lassen vermuten, dass das Buch bei einem anderen Thema genau so spannend ausgefallen wäre.Ob wir auch einmal etwas zusammen schreiben?? Beginnen wir also bei den Protagonisten. Hermann Kurzke (Jahrgang 1943) ist Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz und Verfasser der wohl besten Thomas-Mann-Biografie. Daneben ist er Herausgeber der sechsbändigen Ausgabe der Essays Thomas Manns, Autor einer Biografie über Novalis sowie, und damit sind wir wieder beim Thema, der Spezialist auf dem Gebiet des deutschen Kirchenliedes. Jacques Wirion (Jahrgang 1944), Deutschlehrer im Ruhestand und Präsident des luxemburgischen Germanistenverbands, ist mit zahlreichen Essays und zwei Bänden mit Aphorismen an die Öffentlichkeit getreten, und es war mit Sicherheit die Plattform der Literatur, die beide Autoren zusammengeführt hat. Den eigentlichen Anlass dieses Buches aber stiftete nicht die Literatur, sondern eine Rezension von Kurzke über eine Neuausgabe der Bibel, auf die Wirion relativ verstimmt reagierte, weil er der Bibel nicht von vornherein Denkmalschutz gewähren will, sondern sie behandeln möchte wie jedes andere Buch. In dem Augenblick geht aber noch gar nicht die Rede von einer Publikation. Zwei "Fachbekannte" tauschen ihre "Produkte" aus und kommentieren sie über Brief oder E-Mail, während die Idee eines gemeinsamen Buches erst viel später auftaucht - genauer gesagt: auf Seite 152!Gottesvergiftung gegen Gemütswiderstand Da ich dem Ideenreichtum des Bandes ohnehin kaum gerecht werden kann, will ich lediglich versuchen, das Hauptanliegen vorzustellen. Der Christ Kurzke ist der Auffassung, dass eine gottlose Welt weniger Trost, aber auch weniger "Dimension" bietet, während der Skeptiker Wirion eine eher atheistische oder agnostische Haltung vertritt, die inhaltlich vom Leiden, vom Riss durch die Schöpfung und methodisch von stark zerebral-aufklärerischen Tendenzen geprägt ist. Für Kurzke sind biblische Geschichten oder liturgische Texte tiefsinnige Bilder und Metaphern, die dem Menschen eine notwendige mythische Dimension liefern und dort Trost spenden können, wo jede menschliche Hilfe an ihre Grenzen kommt. Für Wirion muss der Mensch mutig die Sinnlosigkeit der Welt anerkennen, die Zerstörung der Mythen durch die Wissenschaft gelassen hinnehmen und die kleinen Sinn- und Glücksmomente bescheiden genießen. Diese Grundpositionen werden im Verlauf der Gespräche vielfältig variiert und mit spannenden Diskussionen über Glück, Leiden, Fortschritt oder Altruismus angereichert, doch die beiden Positionen bleiben mehr oder weniger konstant, auch wenn der Glaube Kurzkes manchen zerebralen Erschütterungen Wirions ausgesetzt ist. Und es stellt sich langsam heraus, dass Kurzke eigentlich pädagogische Absichten hat, die auf den ersten Blick paradox anmuten. Da er wenig über Gott oder Glaubensinhalte sagt und trotzdem eine Restauration des Christlichen anstrebt, kommt er sich vor wie der Mann mit der Laterne auf dem Rücken. Seine Überlegungen beleuchten seinen eigenen Weg nicht, sollen aber die "erhellen", die hinter ihm gehen. Ziel ist ein "postmodernes Christentum", das jenseits einer dogmatischen Institution eine Neuentdeckung fast schon vergessener spiritueller Schätze anpeilt.Kollateralnutzen Es wäre müßig, die beiden "Kontrahenten" zu bewerten, da der Leser, hier der Rezensent, notgedrungen keine "höhere" Position einnimmt und das Ganze aus seiner subjektiven Perspektive betrachtet. Für mich liegt das Interessante nicht so sehr in den Einzelaussagen, sondern in dem, was es unbeabsichtigt anbietet: es ist schlicht rührend, wie aus einem religiösen Gefecht eine Freundschaft entsteht, es ist bewegend, wie und wann plötzlich das "Sie" fallen gelassen wird und das "Du" sich durchsetzt, und wie dann extrem persönliche Aspekte sich einschleichen wie schmerzhafte Jugenderfahrungen, Sexualität oder Krankheit. Wenn ich etwas bewerten sollte, dann die Sprache: Ich habe selten ein so brillant formuliertes Buch gelesen, man könnte pausenlos zitieren, die beiden Germanisten werfen sich die Aphorismen nur so um die Ohren (einige davon sind im Schlusskapitel kontrovers festgehalten). Das Niveau ist allerdings anspruchsvoll, besonders weil eine kleine "déformation professionnelle" bewirkt, dass stellenweise literarische Figuren, Allusionen und Zitate einen weniger geneigten Leser möglicherweise überfordern. Doch der Eifer des Gefechts bleibt ein bewährtes Mittel gegen Langeweile oder Gleichgültigkeit. Wirion schreibt nach einem Besuch bei Kurzke: "Ein Gefühl von reicher Fülle, kein Völlegefühl". Dem will ich mich anschließen.
Hermann Kurzke und Jacques Wirion: Unglaubensgespäch - Vom Nutzen und Nachteil der Religion für das Leben; Beck (München) 2005; 280 Seiten; 23 Euro; ISBN: 3406534872