Für einige Aufregung sorgte ein kurzer Kommentar, den Giorgio Agamben Mitte März unter der Überschrift „Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa“ in La Repubblica veröffentlicht hatte, oder vielmehr fand der Text erst Beachtung, als er eine Woche später unter dem kriegerischen Titel „Que l’Empire latin contre-attaque!“ in Libération übersetzt worden war. Darin beruft sich der Philosoph auf ein Strategiepapier, „Esquisse d’une doctrine de la politique française“, von Alexandre Kojève (1902-1968), einem geheimnisumwitterten politischen Philosophen, französischen Regierungsberater, OEEC-Sekretär, EGKS- und Gatt-Unterhändler. Unter dem Datum vom 27. August 1945, also gerade drei Monate nach Kriegsende in Europa, meinte Kojève, dass die Zeit der nationalen Politik vorüber sei und die Zukunft den aus verwandten Nationen gebildeten transnationalen Einheiten gehöre. Um weiter eine Rolle in der Welt zu spielen, solle Frankreich sich deshalb die beiden großen bestehenden Reiche, das britische Empire und die Sowjetunion, zum Vorbild nehmen, um zusammen mit Spanien und Italien ein „Empire latin“ zu gründen.
Neben manchen Betrachtungen, etwa zur Kolonialpolitik oder dem politischen Genie Stalins, die inzwischen überholt klingen, besticht Kojève dadurch, dass er wenige Monate nach Hitlers Tod in den noch rauchenden Ruinen Europas vorhersagt, dass der Westen an die Macht eines mehr oder weniger vereinten Deutschlands appellieren werde, um Russland zurückzudrängen, dass Deutschland, selbst wenn es nicht wieder eine militärische Gefahr darstelle, zur wirtschaftlichen Bedrohung für Frankreich werde, weil es ohne angelsächsische Kontrolle den Kontinent einmal hegemonial dominieren werde.
Vor dem Hintergrund der oft als Machtkampf zwischen der deutschen Regierung und den Regierungen anderer Euro-Staaten dargestellten Schuldenkrise in Europa bescheinigt Agamben dem Text von Kojève eine Aktualität, die es wert sei, darüber nachzudenken. Statt dass die europäische Einheit darauf hinauslaufe, dass eine Minderheit von Reichen einer Mehrheit von Armen ihre Interessen aufzwinge, welche oft auf die Interessen einer einzigen Nation hinausliefen, meint Agamben, dass eine europäische Verfassung den kulturellen Verwandtschaften und Lebensarten Rechnung tragen und etwas Ähnliches wie Kojèves „Empire latin“ in die politische Wirklichkeit umsetzen soll. Agambens Wiederentdeckung von Kojève sorgte selbstverständlich in Deutschland und bis in die Schweiz und nach Österreich für helle Aufregung und Empörung. Ihm wurde eine rückschrittliche, uneuropäische Geisteshaltung vorgeworfen. Doch in Wirklichkeit gehört die Vorstellung vom „Empire latin“, wenn auch mit negativem Vorzeichen, in Deutschland bereits zum Allgemeingut, wenn Politiker und Zeitungen die romanischen Euro-Staaten als „Club Méd“ lächerlich machen, welche angeblich auf Kosten arbeitsamer deutscher Steuerzahler dem Dolce far niente nachgehen.
Somit spiegelt die Wiederentdeckung des schon einmal am Ende des Kalten Kriegs bruchstückhaft zitierten Kojève vor allem eine durch die Schuldenkrise beschleunigte Renationalisierung von Interessenskonflikten in der Europäischen Union wider. Irgendwie ziehen sie sich auch durch das an der Sprachengrenze gelegene Luxemburg, das sich vom Zollverein bis zum Bankenplatz traditionell ein frankophiles Herz und eine deutsche Geldbörse leistet, wie schon Michel Rodange aufgefallen war. Seit sich diese Interessenkonflikte verschärfen, ist es, wie immer, offizielle Politik, um um jeden Preis auf der Gewinnerseite zu bleiben, die Kulturministerin zur Organisation internationale de la francophonie zu schicken, aber in Frankfurt mit den deutschen und niederländischen Zentralbankgouverneuren abzustimmen.