Seit sechs Monaten ist Stéphane Pallage Rektor der Uni Luxemburg. Land-Gespräch über die Universität als Ort der Debatte, ihr neues Führungsmodell und die Prioritäten der nächsten Jahre

„Bei uns haben alle Träume ihren Platz“

d'Lëtzebuerger Land vom 29.06.2018

d’Land: Professor Pallage, wem gehört die Universität? Nicht die in Luxemburg, sondern die im Allgemeinen, und im Sinne von: Wer sagt der Universität, was sie tun soll?

Stéphane Pallage: Jede Universität gehört der Gesellschaft, aber in ihrem Innern gibt es wiederum eine Gesellschaft für sich, die intensiv arbeitet und die Entwicklung der Universität und die Strategie dafür formt. Eine Universität ist ein Ort der Debatte, wo viele Ideen und Vorschläge auf-
einandertreffen. Zum gegebenen Moment werden Entscheidungen getroffen. Das übernehmen die Organe einer Uni, denen das obliegt. Ausgangspunkt ist aber immer eine Debatte. Und manchmal finden schon zu vergleichsweise geringfügigen Themen große Diskussionen statt.

Sind die Erwartungen von außen an die Universität Luxemburg besondere, weil sie die einzige öffentliche Uni des Landes ist?

Ich mag an dieser Uni, dass sie noch so jung ist und sozusagen in ihrer DNA etwas trägt, was etablierte Unis nicht haben. Sie ist mehrsprachig, soll interdisziplinär arbeiten, und sie steht im Dienste des Landes.

Stehen nicht alle Universitäten im Dienste ihres Landes?

Sicher, aber in Luxemburg ist das sogar im Gesetz verankert. Das ist eine Stärke: Von Anfang an stand fest, wer wir sind. Heute stellen überall auf der Welt die Universitäten sich Fragen und stellen sich in Frage: Ob sie zu losgelöst sind von der Gesellschaft, ob und inwiefern sie sich stärker in sie einbringen sollten, auch in die Wirtschaft. Bei uns stand das immer fest, und das ist gut so.

Während der Debatte in der Abgeordnetenkammer vor der Abstimmung zum neuen Universitätsgesetz äußerten sich die politischen Parteien zum Teil verschieden: Der parlamentarische Berichterstatter der DP sprach gleich im ersten Satz seiner Rede von der ökonomischen Diversifizierung und der Wissensgesellschaft. Zu beiden müsse die Uni einen Beitrag leisten und so den Wirtschaftsstandort stärken helfen. Die Abgeordneten der Sozialisten dagegen betonten, dass die Uni ein Ort für den Ideenaustausch sei, dabei ein Ort, der kritisches Denken fördert. Ist das Ausdruck einer Debatte, die vielleicht nicht so bald endet, oder von unterschiedlichen Erwartungen?

Erwartungen hat jeder, und die Erwartungen an uns sind hoch. Mein Ziel ist, gemeinsam mit der Hochschulgemeinschaft das Land stolz auf seine Universität zu machen. Eine Uni ist per Definition „alles“, sie ist universell. Ihr geht es um die Schaffung und die Weitergabe von Wissen. Wir sind hier, damit junge Menschen blühen. Als ich mit 18 mein Studium begann, sagten viele Professoren den neuen Studenten: In einem Jahr sind von dreien zwei nicht mehr hier. Das war nicht negativ gemeint, es sollte klar machen, dass ein Studium anspruchsvoll ist und ein Scheitern möglich. Unser Ansatz hier ist ein anderer. Ich sage jungen Studenten: Schauen Sie sich Ihre Nachbarn an. Der zu Ihrer Linken wird womöglich der nächste PDG von Amazon, die zu Ihrer Rechten wird vielleicht als Künstlerin weltberühmt, und Ihnen selber gelingt möglicherweise eine großartige Erfindung. Also, welches auch immer Ihr Ziel ist, an dieser Universität haben alle Träume ihren Platz.

Das klingt toll – und ziemlich amerikanisch.

Ich glaube daran! Wir sind hier, um Menschen zu helfen, ihre Träume zu verwirklichen und eine Gesellschaft der Träume mit zu formen. Wir wollen auf keinen Fall Türen schließen, sondern Türen öffnen. 18 Jahre alt zu sein, ist eine fabelhafte Zeit im Leben, da scheint alles möglich.

Vor fünf Jahren sagte der damalige Rektor Rolf Tarrach, es gebe zu viele Studienabbrecher an der Universität Luxemburg. Ist das noch immer so?

Kaum eine Universität hat hierzu verlässliche Statistiken, aber wir arbeiten in Richtung Erfolg. Es geht darum, die Studenten dahin zu führen. Natürlich gelingt das nicht immer, denn die Anforderungen sind hoch, aber das heißt nicht, dass es in solchen Fällen nicht auch eine „Tür“ gibt. Sehr oft ist das eine Frage der richtigen Orientierung: Man glaubt, man will Rechnungsprüfer werden, denkt aber in Wirklichkeit an etwas anderes ...

Was ist Exzellenz?

Das ist eine komplizierte Frage. Wir müssen sehr gut sein in allem, was wir tun. Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Lehre. Und in unserer eigenen Administration: Ist sie exzellent, können alle anderen Bereiche der Uni es auch sein.

In der Forschung sind wir schon jetzt stark, unsere Wissenschaftler werben Forschungsmittel des nationalen Forschungsfonds FNR und der EU ein. Luxemburg gehört zu den Ländern, deren Erfolgsquote bei der Bewerbung um EU-Mittel von Jahr zu Jahr zunimmt. Forscher der Uni publizieren in hochkarätigen Wissenschaftsjournalen, in jedem Gebiet veröffentlichen sie in den jeweils besten.

Jetzt müssen wir auch exzellent darin werden, wie wir die Wissenschaft an die Öffentlichkeit tragen. Wir müssen weiterhin in Nature und anderen großen Journalen publizieren, aber so ein Artikel wird vielleicht fünf Jahre nach seinem Erscheinen nur noch von drei Leuten dieses Fachs zur Kenntnis genommen. So nimmt die Wissenschaft nicht genug Einfluss auf die Gesellschaft. Ich denke, unsere Forscher leisten schon jetzt eine gute Arbeit, um an die Medien zu vermitteln, was die Essenz ihrer Forschungen ausmacht. Wir müssen aber noch mehr tun. Das ist wichtig in einer Zeit, in der „alternative facts“ präsentiert werden. Es ist die Rolle einer Uni, eine aufgeklärte öffentliche Debatte zu fördern und Fakten zu etablieren, auf deren Grundlage rationale Entscheidungen getroffen werden können – ob in Wissenschaft, Gesellschaft, Wirtschaft oder Politik. Universitäten verfügen über ein hohes Maß an Unabhängigkeit und über unabhängige Experten. Das macht sie glaubwürdig, Fakten zu etablieren.

Wahrscheinlich will jede Universität exzellent sein. Wie setzt man sich von den anderen ab – sofern das sein muss?

Verglichen mit den anderen Universitäten in der Großregion sind wir schon speziell darin, wie wir geschaffen wurden. Die berühmte Interdisziplinarität ist kein Schlagwort, sie ist hier Realität. Daraus ergibt sich eine sehr originelle Wissenschaft. Die Unis um uns herum, die schon ein gewisses Alter erreicht haben, wurden auf klassische Weise gegründet: Man nahm Disziplinen und schuf disziplinäre Abteilungen, also Silos. So bringt man die Disziplinen weiter, keine Frage. Aber die wichtigen Entdeckungen sind heute disziplinübergreifende.

Ich habe meinen PhD an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh gemacht. Aus ihr sind mehrere Nobelpreisträger hervorgegangen. Ich bin Herbert A. Simon begegnet, der 1978 den Wirtschafts-Nobelpreis erhalten hatte. Dabei galt der Ökonomie aber gar nicht sein Hauptinteresse. Er war sehr stark in Mathematik und tauschte sich auch mit Psychologen und Computerwissenschaftlern aus. In den 60er Jahren gehörte Simon zu den ersten, die von künstlicher Intelligenz sprachen. Er war einer der Väter von dem, was wir heute „Machine learning“ nennen.

Für 2018 bis 2021 hat die Uni sich einen neuen Vierjahrplan gegeben. Darin stehen viele interdisziplinäre Ansätze. Doch die Uni lehrt nicht alle Disziplinen. Muss man nicht aber zunächst disziplinär ausbilden, ehe man interdisziplinär forschen kann? Und wenn man die Forscher nicht selber ausgebildet hat, bleibt nur die Rekrutierung im Ausland?

Gute Frage. Ich habe darauf, ehrlich gesagt, keine abschließende Antwort. Aber: Wir haben gewissermaßen schon alles hier. Wir unterhalten zurzeit 70 Forschungsprogramme, das ist nicht wenig! Nicht alle sind interdisziplinär angelegt, aber viele. Bei uns sind gegenwärtig fast 300 Professoren, ungefähr 500 Post-Doktoranden und 700 Doktoranden, die auch Forscher sind. Alle leisten einen Beitrag. Wir rekrutieren nicht unbedingt jemanden, der uns ähnelt, sondern eher Leute, die komplementär sind zu dem, was wir schon sind.

Das neue Universitätsgesetz führt unter anderem neue Regeln für interne Beförderungen an der Uni und einen tenure track für akademische Laufbahnen ein. Wird es dadurch leichter, Talente zu halten, während sie früher gezwungen waren, die Uni wieder zu verlassen? So dass sich künftig besser interdisziplinär arbeiten lässt?

Der tenure track wird es wesentlich einfacher machen, junge Forscher nach einer Evaluation unbefristet einzustellen. Wer gerade seinen PhD erworben hat, kann nicht unbedingt schon viele Publikationen vorweisen, ist aber vielleicht sehr innovativ und könnte die Uni bereichern. Ohne tenure track müssten wir bei Festanstellungen viel mehr Wert auf den Lebenslauf legen und ob der Betreffende schon etabliert ist.

Die Interdisziplinarität war aber vorher schon da. Will man heute in den besten Journalen publizieren, muss man originell sein und etwas Wesentliches zu sagen haben. Etwas Wesentliches aus einer Disziplin heraus mitzuteilen, ist möglich, aber es ist viel einfacher, einen innovativen Beitrag zur Wissenschaft zu leisten, wenn man Disziplingrenzen überschreitet. Damit lassen sich sogar neue Disziplinen schaffen. Die System-Biomedizin ist dafür ein Beispiel: Im LCSB, unserem Luxembourg Centre for Systems Biomedicine, arbeiten Biologen mit Medizinern, Mathematikern, Physikern, Computerwissenschaftlern und so fort.

Inwieweit ist der neue Vierjahrplan Ihr Plan? Erarbeitet wurde er zwischen Mai und Juli 2017, da hatte die Suche nach dem neuen Rektor gerade begonnen.

Der Plan ist nicht meiner, sondern der der Uni. Ich war an seiner Ausarbeitung nicht beteiligt. Ich war zwar, nachdem ich nominiert war, ein paar Mal hier, aber hatte natürlich noch keine profunde Kenntnis von der Universität. Der Vierjahrplan ist das Ergebnis eines kollektiven Nachdenkens über eine bestimmte Zukunftsperiode, das halte ich für einen guten Ansatz. Ich habe zwischen meiner Nominierung und meinem Amtsantritt im Januar vor allem zum neuen Contrat d’établissement mit der Regierung beigetragen, der ebenfalls von 2018 bis 2021 gilt. An diesen Diskussionen und Finanzverhandlungen nahm ich teil. Ich wollte wissen, was in dem Vertrag vereinbart würde, damit ich es realisieren lassen kann.

Laut diesem Vertrag sollen die staatlichen Zuwendungen an die Uni um 30 Prozent zunehmen. Der Vierjahrplan nimmt eine gewisse Allokation der Mittel vor. Die ist vielleicht eher indikativ ...

… viel ist nicht indikativ. Wir bekommen einen Betrag und verteilen ihn nach den Prioritäten, die der Vierjahrplan festhält.

Der letzte Plan enthielt fünf Prioritäten, der neue acht. Zwei Prioritäten wurden durch andere ersetzt. Was wird aus einem Bereich, wenn er nicht mehr prioritär ist?

Die Prioritäten sind eine kollektive Entscheidung der Uni. Eine Rolle gespielt haben die letzten Evaluationen der Forschungsbereiche. Wenn man sich die Orientierungen im Vierjahrplan genau anschaut, findet man einige Bereiche, die darin nicht vorkommen. Das heißt aber nicht, dass wir sie sich nicht weiterentwickeln lassen. Die Gemeinschaft der Universität hat sie nur nicht für prioritär erklärt.

Auf einem Treffen mit der Professorenvereinigung der Universität Ende April haben Sie anscheinend gesagt, Forschung außerhalb der Prioritäten sei „nicht einfach“, es gebe aber Raum, es dennoch zu tun. Warum ist das nicht einfach?

Die Prioritäten sind nicht dazu da, die Arbeit auf anderen Gebieten zu verhindern. Aber die Uni Luxemburg ist klein, und wir haben nicht die Absicht, eine Universität mit 45 000 Studenten zu werden. Folglich muss man Schwerpunkte setzen – wie Luxemburg das auch in seiner Wirtschaftspolitik macht und in bestimmten Kompetenznischen Spitze sein will. Ist ein Bereich nicht auf der Prioritätenliste, aber es gibt aus dem Bereich eine Nachfrage, die sich gut begründen lässt, dann werden unsere Organe sicherlich entscheiden, dafür Mittel zur Verfügung zu stellen. Alles kann man in einem Vierjahrplan tatsächlich nicht festlegen.

Ich hatte mich schon gefragt, wer Ihnen eine Sache „nicht leicht“ machen könnte. Schließlich sind Sie der Chef der Uni, was das neue Gesetz noch unterstreicht.

Aber ein Chef einer Gemeinschaft, wie der Dirigent eines Orchesters – darauf lege ich Wert. Das Rektorat wird zwar künftig nicht mehr kollektiv geführt, der Rektor ist tatsächlich der Chef. Aber dass ich alles ganz allein entscheiden würde, wäre verrückt. Man muss delegieren, Universität bedeutet Team-Arbeit.

Stört es Sie nicht, dass Sie ab Herbst nicht mehr Präsident des Universitätsrats sein werden?

Nein, das ist eine gute Entwicklung. Die Universitätsgemeinschaft nimmt sich nun stärker selber in die Hand. Der Universitätsrat ist das von der Gemeinschaft gewählte Organ. Dass der Rektor nicht mehr automatisch sein Präsident ist, dass er wie auch die Vizerektoren, die Dekane und die Direktoren der interdisziplinären Forschungszentren dem Gremium zwar angehört, aber nur mit beratender Stimme, ist Ausdruck von mehr Demokratie. Auch im Aufsichtsrat ist die Universitätsgemeinschaft in Zukunft stärker repräsentiert: Der Präsident der Studentenvertretung und der der Personalvertretung erhalten je ein Mandat, ebenso zwei Delegierte des Universitätsrats. Und alle bekommen volles Stimmrecht im Aufsichtsrat.

Der Aufsichtsrat erhält künftig Befugnisse, die bisher der Minister innehatte. Der Universitätsrat wird gestärkt, der Rektor nicht unbedingt geschwächt. Wie wird es sich in dieser Konstellation aus drei starken Akteuren arbeiten lassen?

Ich kenne mehrere Systeme. Ich kenne das belgische, das sehr demokratisch ist und sehr öffentlich. Ich kenne das der USA, wobei die Carnegie Mellon University speziell ist, denn sie ist eine hundertprozentige Privatuniversität. Und ich kenne das kanadische System, das hybrid ist und gewissermaßen zwischen den beiden anderen liegt. Jedes dieser Systeme funktioniert und ist gut. Ich kann mich in jedem wohl fühlen. Wichtig ist, mit den Menschen zu arbeiten. Der Universitätsrat ist künftig ein Gesprächspartner mehr für mich. Ich werde es mit einem Präsidenten zu tun haben, der gewählt ist. Ich sehe das als Vorteil: Die Beteiligung der Gemeinschaft an der Entscheidungsfindung wird besser.

Aber falls Sie das für nötig halten, werden Sie den Universitätsrat überstimmen können.

Der Universitätsrat gibt in erster Linie beratende Stellungnahmen ab. Die lassen sich aber nicht einfach ignorieren. Dass wir nicht immer einer Meinung sein werden, wird sicherlich vorkommen, und dass wir anders entscheiden werden, als es dem Universitätsrat vorschwebt, auch. Aber seine Stellungnahmen sind wichtig, sie werden von Rektor, Rektorat und Aufsichtsrat zur Kenntnis genommen. Anders zu entscheiden, wird automatisch eine Entscheidung gegen die Universitätsgemeinschaft sein, und das wird uns nie leichtfallen.

Hat der Hochschulminister seinen Entwurf für das neue Universitätsgesetz mit Ihnen diskutiert und Sie gefragt, ob Sie leben könnten mit seinen Vorstellungen von der Führung der Uni?

Ein erstes Mal habe ich den Minister getroffen, ehe ich ins Amt kam, anschließend noch ein paar Mal. Natürlich war dabei auch der Gesetzentwurf ein Thema und Marc Hansen wollte meine Meinung hören. Er legte Wert auf Transparenz.

Ehe Sie nach Luxemburg kamen, waren Sie Dekan an der Université du Québec in Montreal (UQAM). Das Organigramm der UQAM scheint dem der Uni Luxemburg nach dem neuen Gesetz nicht unähnlich: Es gibt in Montreal einen Verwaltungsrat. Dort sitzen auch Vertreter von Professoren und Studenten mit vollem Stimmrecht. Daneben gibt es ein Exekutivbüro, geleitet von der Rektorin ...

… ich war als Dekan Mitglied dieses Büros.

Aber einen Universitätsrat gibt es nicht an der UQAM?

Dafür eine Commission des études. Ihr gehören die Dekane an, aber ohne Stimmrecht. Da unser Universitätsrat in Zukunft die Studienprogramme beschließt und nicht nur zu ihnen Stellung nimmt, wird er dieser Kommission ähneln.

Dann waren Sie mit ihren Erfahrungen aus Montreal der perfekte Kandidat als Rektor für das neue Führungsmodell der Uni Luxemburg?

Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist es manchmal vorteilhaft, von weit her zu kommen. Mir erlaubt es, diese Uni mit ganz anderen Augen zu sehen.

Lassen Sie uns noch einmal auf die Forscher zu sprechen kommen und die Uni als Wissens-Institution: Der Vierjahrplan enthält auch ein Kapitel „Valorisation“. Dort steht, die „rückwärtsgewandte, traditionelle Art, Forschung zu betreiben, hat sich schon verschoben und es ist üblich geworden, Fragen zu stellen wie: ,Worin könnte der Wert unserer Forschung für die Gesellschaft bestehen?‘, oder: ,Gibt es für das, was im Labor getan wird, eine potenzielle praktische Anwendungsmöglichkeit, die über die Publikation der Resultate in einem akademischen Journal hinausgeht?‘“ Auf diese Weise könnten Forscher „etwas zurückgeben an die Gesellschaft, die sie ernährt und Vertrauen in ihre Fähigkeiten und Forschungsvisionen setzt“.

Wir haben drei Missionen: Lehre, Forschung und Dienst am Land. Zu Letzterem gehört auch die Entwicklung von Unternehmertum. Wir haben zum Beispiel einen Inkubator gegründet. Wir wollen Studierende, Absolventen und Mitarbeiter mit Ideen begleiten, sie nicht allein damit lassen, wollen aufgreifen, was in den Köpfen schwebt.

Aber wenn von „Vertrauen“ die Rede ist: Kann man Wissenschaftlern nur vertrauen, wenn sie ihre Forschungsresultate auch in Innovationen überführen?

Eine Uni muss unabhängig sein, das ist sehr wichtig. Das heißt aber nicht, dass sie keine Mission zur Valorisierung haben kann. Dass ein Forscher, der sehr grundlagenorientiert arbeitet, in den besten Journalen publiziert, ist richtig – und exzellent. Aber ich wünsche mir auch, dass Forscher den Reflex entwickeln, zu überlegen, wie ihre Entdeckungen eines Tages die Gesellschaft verbessern können. Das kann ein sehr punktueller Beitrag sein, das kann vielleicht auch erst in 20 Jahren geschehen. Es geht uns nicht darum, dass sämtliche Forschung einen unmittelbaren ökonomischen Impakt haben soll. Aber wir wollen visionär sein und darüber nachdenken, welchen Impakt wir in 20 oder 25 Jahren haben. Wenn das so ist, dann sollte jeder Forscher, wenn er seinen Artikel publiziert, den Reflex haben, nachzudenken: Wie kann ich das Resultat allgemein bekannt machen? Und wenn ich es populär mache: Kann das andere zu neuen Ideen inspirieren? Und könnte das vielleicht zu einer Firmengründung führen? – Das ist eine Kultur, die wir ausbilden möchten. Ich finde, mit der Interdisziplinarität und mit dem Begriff „Service für die Gesellschaft“, der bereits im alten Gesetz stand, ist diese Kultur schon recht gut verankert.

Aber stört der Anspruch auf diesen Reflex nicht die wissenschaftliche Arbeit?

Wieso sollte er?

In welchem Moment denkt ein Wissenschaftler über eine potenzielle Valorisierung seiner Forschungsarbeit nach? Wenn er dabei ist, sich mit einer sehr fundamentalen Frage auseinanderzusetzen und gar nicht weiß, wohin ihn das führt, scheint es mir nicht selbstverständlich, gleichzeitig über eine Firmengründung nachzudenken.

Mit Valorisierung ist nicht unbedingt ein Patent oder eine Firmengründung gemeint. In den Humanwissenschaften zum Beispiel besteht sie auch darin, eine wichtige Frage in die Gesellschaft zu tragen. Ich denke dabei zum Beispiel an den Historiker Vincent Artuso: Er hat einerseits Artikel in wichtigen Wissenschaftsjournalen veröffentlicht, hat aber auch einen Beitrag für eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft geleistet.

Der Vierjahrplan enthält auch einen ersten Ansatz für eine Langfrist-Vision mit Blick auf das Jahr 2040. Demnach sollte die Uni sich an Debatten um „Megatrends“ beteiligen, um den Klimawandel, die künstliche Intelligenz, die Wasserknappheit, die Blockchain und so fort. Muss die Uni wachsen, um in solchen Diskussionen eine Rolle spielen zu können?

Wachstum ist möglich, es gibt aber verschiedene Wege zu wachsen, qualitativ und quantitativ. Wir verfügen nun über Gebäude, die es ohne Weiteres erlauben würden, mehr Studenten aufzunehmen. Das wollen wir auch, aber in maßvoller Weise. Wir haben auch Kapazitäten, breiter zu forschen, und sind gewillt dazu. Aber „langfristig“ ist für mich schon, was in zehn Jahren sein wird.

Der Vierjahrplan beschreibt zwei große interdisziplinäre Themen, die künftig verbindend sein sollen. Eines ist „Health and Systems Biomedicine“. Wird die Uni in zehn Jahren eine starke Ausrichtung auf Biologie und Medizin haben?

Ein Akzent ist schon heute gesetzt: An der Naturwissenschaftlichen Fakultät wird auf diesem Gebiet geforscht, und das LCSB ist international bereits eine Autorität, vor allem dank seiner Arbeit an neurodegenerativen Erkrankungen. Aber ich nehme an, Sie wollen auch nach der Mediziner-Ausbildung fragen. Dazu hat die Regierung einen vorsichtigen, einen schrittweisen Ansatz gewählt. Ich halte das für klug. Es gibt an der Naturwissenschaftlichen Fakultät ein Programm, wie die Medizinerausbildung weiterentwickelt werden kann. Was daraus wird, muss sich mit der Zeit ergeben. Die Bachelor-Ausbildung in Medizin wird nach ein paar Jahren evaluiert, dann wird entschieden, wie es weitergeht. Vielleicht sind wir in zehn Jahren tatsächlich wesentlich weiter, aber heute noch vorsichtig. Klar ist, die Investitionen zur Weiterentwicklung wären hoch.

Am Vierjahrplan fällt auch auf, dass er die Geisteswissenschaften nur sehr summarisch erwähnt …

… da muss ich widersprechen: Das neu geschaffene interdisziplinäre Forschungszentrum für Zeitgeschichte und Digitale Geschichte ist eine der neuen Prioritäten. Die Erziehungswissenschaften waren und sind eine Priorität.

Aber wie verhält sich das mit Bereichen wie Germanistik, Anglistik, Luxemburgistik, Philosophie oder Mittelalterforschung? Zu ihnen sagt der Vierjahrplan nichts.

Der Plan legt große Tendenzen fest. Und er ist nicht in Stein gemeißelt. Die Humanwissenschaften haben ihren Platz bei uns, sie werden 2019 immerhin mit fast 37 Millionen Euro versehen, gegenüber 35,5 Millionen dieses Jahr. Wir brauchen die Künste, die Humanwissenschaften, ihr Beitrag ist enorm. Ohne sie wären wir eine École technique und keine Universität.

Peter Feist
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