Auf dem Nationalkongress mahnt die CSV zur Einigkeit. Bis Frühjahr will sie Inhalte „kontrovers diskutieren“, aber intern. Das Coronavirus macht die Meinungsfindung nicht einfacher

Mut- statt Wutreden

d'Lëtzebuerger Land du 23.10.2020

„Es klingelt, das ist gut“, scherzt Guy Kohnen und hält sein Handy ans Ohr. Es ist kurz vor halb zehn, im Musiksaal der Gemeinde Kehlen laufen die letzten Vorbereitungen, um den Nationalkongress der CSV im Artikuss in Zolwer auf Großleinwand zu übertragen. „Wir hatten gestern alles aufgebaut“, erzählt Raymond Faber, zuständig für die Technik. Vor ihm stehen ein Computer, zwei Lautsprecher und ein aufgebockter Beamer. Faber spielt eine Reportage einer Treckerfahrt ein, den Film hat er beim letzten Oldtimertreffen mit einer Drohne selbst gedreht.

Ein Pausenfüller. Denn eigentlich sollte die Leitung nach Zolwer stehen, aber von dort kommt bisher kein Lebenszeichen. Dann eben Bilder von Treckerfahrten, mit Schunkelmusik unterlegt. Das stimmt ein.

Von der CSV-Sektion Kehlen haben sich zehn Mitglieder eingefunden, eine Handvoll ist stimmberechtigt. Die meisten sitzen übers Handy gebeugt an Tischen in sicherem Abstand von zwei Metern; wenn sie sich Getränke von der Theke holen, setzten sie pflichtbewusst die Maske auf. Es sind nur Männer da – die Frauen seien „beim Kochen“, ulkt ein älterer Mann und schiebt ein „Wir sind hier traditioneller“ hinterher.

Hörst Du mich? Dann geht’s los. Auf der Leinwand erscheinen Fränk Kuffer und Nico Keiffer, die durch den Vormittag führen werden. Damit alles klappt beim ersten komplett digitalen Nationalkongress der CSV, sind die Delegierten gebeten, zur Probe abzustimmen. Die Testfrage sorgt für Heiterkeit: Haben Sie heute Kaffee mit Milch getrunken? Ja, Nein oder Enthaltung. Die Abstimmung läuft, es dauert – offenbar haben einige das Feld zum Abstimmen mit der Wortmeldung verwechselt. „Es ist ungewohnt“, gibt Guy Kohnen zu, Vorsitzender des Ortsverbands Kehlen, dessen Blick zwischen Tablet, Telefon und Leinwand unruhig hin- und herwandert. Auf einer Helpline können Delegierte anrufen, sollte etwas unklar sein. Sie wird an diesem Vormittag öfters klingeln. Als Kongresspräsident und CSV-Urgestein Marc Fischbach wie ein strenger Vater die Delegierten ermahnt, „persönliche Befindlichkeiten und Überzeugungen innerhalb der Partei“ auszutragen und von der „schwersten und unsichersten Zeit in der Nachkriegszeit“ spricht, nickt Kohnen mit dem Kopf: In der Landgemeinde schlagen die Folgekosten der Corona-Pandemie voraussichtlich mit einem Defizit von vier Millionen Euro zu Buche.

Die Themen, die seinen Ortsverband beschäftigen, sind dieselben wie überall. „Verkehr, Wachstum … und die Wohnungspolitik“, zählt Guy Kohnen auf: „125 000 Euro für ein Ar Land ist der helle Wahnsinn.“ Kohnen war bei den Gemeinde-Assisen dabei, die die Parteileitung Ende Februar organisiert hatte, und wünscht sich, dass die Sorgen und Nöte der Gemeinden mehr Raum bekommen: „Es gibt Gemeinden, die hat es schlimmer getroffen“, weiß er.

Auf der Leinwand ruft Fischbach dazu auf, über die Kongressordnung abzustimmen. Erneut ergeht die Mahnung, die Wortmelde-Funktion nicht mit jener zur Abstimmung zu verwechseln. Digital ist besser, aber nicht in einer Partei, deren Mehrheit der Mitglieder 50 Jahre und älter sein dürfte. Um die Zeit während des Votums zu überbrücken, geht die Live-Schalte nach Kehlen. „Guy, hörst Du mich?“, ruft Fränk Kuffer mehrmals ins Mikro. Ja, ruft der zurück und schaut dabei fast verzweifelt auf sein Handy. Der Dialog dröhnt zeitversetzt und verzerrt aus den Boxen. „So ein digitaler Kongress ist wirklich nicht dasselbe, wie sich zu sehen“, wird Kohnen danach kommentieren.

Erst als Paul Galles in Zolwer ans Mikrofon tritt, entspannen sich die Mienen im Musiksaal. Galles ist kommissarischer Parteisekretär. Er ersetzt den wegen Burnout ausgefallenen Félix Eischen (der ebenfalls aus Kehlen stammt) und ist so etwas wie der Shootingstar der CSV: Erst seit 2016 Mitglied bei den Christlich-Sozialen schaffte er es 2018 bei den Nationalwahlen auf Anhieb auf den siebten Platz in der CSV-Wählergunst, sein Stil kommt an. Seine Rede, die „auf einen Bierdeckel passen soll“, sorgt für Lacher. Es ist ein Augenzwinkern in Richtung des deutschen Christdemokraten Friedrich Merz, der einst eine Steuerreform auf einen Bierdeckel pressen wollte, und „eine Mahnung an mich selbst, mich kurz zu fassen“, gesteht der Lockenkopf mit einem Grinsen. Galles sieht die Partei als „Ort der Begegnung“, will „offene Diskussionen“; er zitiert Zahlen aus dem Aktivitätsbericht, als seien es Glückszahlen beim Lotto, und strahlt dabei Frische und Optimismus aus, die zumindest in Kehlen gut ankommen.

„Partizipation ist mir wichtig“, wird der Generalsekretär am Mittwoch nach dem Kongress bei einem Kaffee in einer Bäckerei in Luxemburg-Stadt erzählen. Für die Jugend will er die Partei öffnen und die Älteren nicht vergessen, Kon-troversen zulassen und trotzdem bis Ende März oder April, wenn der statutarische Kongress stattfinden soll, klare Positionen erarbeiten. Das ist leichter gesagt als getan in Zeiten, wo Social distancing die Verhaltensregel Nummer eins ist, größere Zusammenkünfte verboten sind – Partys und Parteitreffen inklusive – und die CSV weiterhin um ihr inneres Gleichgewicht ringt.

Der Vorsitzende der CSJ, Alex Donnersbach, hatte in einem Wort-Interview diese Woche von einer „Krise“ gesprochen, Zusammenarbeit angemahnt und forsch eine Verjüngung auf Führungsebene verlangt. Die christlich-soziale Jugend will mehr als nur angehört werden – sie will Posten und reale Macht: In der Parteijugend stehen Jungpolitiker in den Startlöchern, wie die Gemeinderätin Elisabeth Margue im Zentrum oder Laurent Zeimet im Süden, die sich nicht länger vertrösten lassen wollen. Denn wie glaubwürdig ist eine Erneuerung, wenn in der Chamber seit Jahren dieselben Gesichter zu sehen sind?

„Wir sind nicht in der Regierung. Deshalb sind unsere Möglichkeiten beim Nachrücken begrenzt“, entgegnet Martine Hansen auf Nachfrage des Land und sie verweist auf den freiwillig scheidenden Marco Schank. Für ihn rückte diese Woche der Nächstgewählte im Norden nach, der 54-jährige Jean-Paul Schaaf, Bürgermeister von Ettelbrück. „Das ist in einer Demokratie nun einmal so“, sagt die Fraktionschefin bestimmt, die die Parteijugend zum Gespräch einlädt. Bei Paul Galles klingt es diplomatischer: „Ich verstehe den Wunsch nach Erneuerung, aber man kann niemanden zum Rückzug zwingen“. Zumal es „alles Leute sind, die gewählt sind und ihre Verdienste haben“.

Galles spricht nicht von Krise, sondern lieber von einem „Meinungsfindungsprozess“. Seine um Verständigung und Ausgleich bemühten Aussagen klingen manchmal philosophisch-getragen (Galles war Priester und später Koordinator von Young Caritas), aber der 47-Jährige kann auch glasklar: „Eine Volkspartei, die den Anspruch hat, politische Mehrheiten zu gewinnen, muss Meinungsverschiedenheiten aushalten können“ – und „auch mal heftige Diskussionen“, fügt er hinzu. Politik sei, anders als die Kirche, stärker von „individuellen Persönlichkeiten“ geprägt.

Kein Krisentalk Ob Meinungsfindung oder Identitätskrise, über den Berg ist die mit über 10 000 Mitgliedern größte Partei im Land noch nicht. Das Wort stellte unlängst fest, die CSV-Vertreter im Parlament hätten vergangenes Jahr eine bessere Figur gemacht. Sie arbeiteten eifrig, haben von allen Parteien die meisten parlamentarischen Anfragen gestellt. Vor der Corona-Krise sah es so aus, als sei die CSV in ihrer Rolle als Oppositionspartei angekommen, als habe sie nach dem Schock des Machtverlusts und zweier verlorener Wahlen Gram, Kränkung und Mutlosigkeit hinter sich gelassen: In der Datenschutzaffäre gelang es ihr mit pertinenten Einwürfen, eine planlose und bisweilen überfordert wirkende Regierung vor sich her zu treiben.

Dann kam Covid, und beim Krisenmanagement schottete sich die Regierung weitgehend ab. Für die Opposition, per se durch ihre Distanz zu staatlichen Verwaltungen im Nachteil, wenn es darum geht, an Informationen zu kommen, war zumindest in den ersten Wochen außen vor; dabei hatte sie die Notstandsgesetzgebung mitgestimmt. Erst eine konzertierte Aktion zwischen ebenso abgeschotteten Medien und Opposition bewog die Bettel-Regierung dazu, das Kommunikationschaos zu sortieren und die Blockade aufzugeben. Abgeordnete aller Oppositionsparteien hatten mit Nachdruck ihre parlamentarischen Kontrollrechte geltend gemacht.

Dann ging es in die Sommerferien – und die politische Rentrée startete auf einer schrillen Note: Parteipräsident Frank Engel sprach sich in einem Reporter-Interview und ohne Absprache mit den Parteigremien für eine Erbschaftssteuer in direkter Linie aus – obwohl das CSV-Wahlprogramm sie ausschließt. Zwei Tage und mehrere hämische Presse-Kommentare später folgte Engels Mea Culpa; in ihrer Replik zur Lage der Rede der Nation betonten die CSV-Abgeordneten Gilles Roth und Laurent Mosar erneut, weder eine Erbschaftssteuer in direkter Linie, noch eine Vermögenssteuer stünden auf der Tagesordnung. Wie genau die Aussprache damals zwischen Parteipräsident und Fraktion ablief, darüber bewahren die Eingeweihten Stillschweigen, aber Paul Galles betont, es habe keinen Streit gegeben. „Wir haben uns auf einen Kompromiss geeinigt.“ Er sagt auch: „Verschiedene Meinungen zu haben ist legitim. Es ist aber eine Frage der Form.“

Offenbar haben nicht nur andere Platzhirsche in der Fraktion dem Präsidenten das Vorpreschen übel genommen, sondern vor allem Mitglieder aus den Ortsverbänden und Sektionen. Eine von nur zwei Wortmeldungen während des Kongresses am Samstag stammte aus Niederanven und bemängelte die öffentlich ausgetragenen Dissonanzen in der Partei. Vorgelesen wurde die Schelte nicht, angeblich war der Text zu lang. Aber Engel versicherte auf dem Kongress, das Thema werde keinen Anlass mehr „für Entzweiungen“ bieten. Dann spricht er von wachsender Armut unter Blau-Rot-Grün, von der Wohnungskrise, die „Haushalte von 5 000 bis 6 000 Euro Einkommen“ treffe, hinterfragt den „Wachstumsfetischmus“.

Engel wäre aber nicht Engel, würde er nicht nachsetzen. Im Gespräch mit dem Land betont er die Notwendigkeit, die Gerechtigkeitsdebatte weiter zu führen, „das schließt Steuerfragen ein“. Auch der stellvertretende Generalsekretär schließt nicht aus, dass die Erbschaftssteuer noch einmal aufs Tapet kommen wird. „Das wäre nicht weiter schlimm. Hauptsache, es geschieht respektvoll und wir einigen uns auf eine gemeinsame Position.“ Die versöhnlichen Worte sind nicht nur Galles vermittelnder Art geschuldet; aus seinen Worten klingt Anerkennung und Respekt für beide Seiten: „Frank Engel ist ein genialer Denker“, findet er. Aber auch die Fraktionspräsidentin und ihre Kollegen seien „starke Persönlichkeiten“.

Den Punkt hat der Parteichef zumindest gesetzt: Dass die Steuergerechtigkeit so schnell nach der Rentrée auf der Tagesordnung stand, dass Premier Xavier Bettel in der Rede zur Lage der Nation die Abschaffung der Stock options und das Schließen von Steuerschlupflöchern bei den Spezial-Investmentsfonds (Fis) versprach, kann sich die Opposition ein stückweit auf die Fahne schreiben. Vielleicht ging es Engel darum; schließlich braucht er, um aus den nächsten Wahlen mit einem Mandat hervorzugehen, ein unverwechselbares Profil. Dann eben als „disruptiver“ Politiker, wie ihn Reporter beschreibt, oder als „Wellenreiter der Polarisierung“, für den ihn ein vom Zank genervtes Parteimitglied hält.

Wie schwer die inhaltliche Profilierung fällt, konnte man übrigens auf dem Kongress beobachten: In seiner Rede stellte sich Frank Engel zunächst als Verteidiger der Monarchie dar, wetterte über den Armenienkonflikt und die Geopolitik der Türkei, ein Steckenpferd des ehemaligen Europaabgeordneten, um sich dann zur nationalen Politik zu äußern. Vielleicht lag die Schwerpunktsetzung auch am Timing: Der Kongress lag insofern ungünstig, als Fraktion und Partei über die Replik zur Lage der Nation und zur Vorstellung des Krisenhaushalts 2021 hinaus noch keine Gegenpositionen ausformuliert haben.

„Wir sammeln Fragen, um sie dem Finanzminister mit auf den Weg zu geben“, sagt Martine Hansen auf Nachfrage. Die Fraktionschefin ist kein Basta-Typ wie einst Jean-Claude Juncker, der mit wenigen Worten und schneidendem Humor seine Gegner in Schranken zu weisen vermochte, und Polemik liegt ihr nicht. Auch ihre Kongressrede war überwiegend sachlich gehalten. Als sie LSAP-Innenministerin Taina Bofferding attackiert, „Wo ist sie? Man sieht sie nicht“, gibt es in Kehlen Applaus. Lacher, als sie das Corona-Krisenmanagement der Regierung als Nullsummenspiel charakterisiert: „Wenn Null Anstrengungen da sind, sind es unter dem Strich immer noch Null“. Ihren Führungsstil beschreiben Parteikollegen als „gefasst und beharrlich“, nicht alphamäßig polternd – etwas, das in der männlich dominierten Politik oft als Schwäche ausgelegt wird.

Tatsache ist aber, dass sich die Fraktion in der Steuerfrage intern durchgesetzt hat und die Reihen, zumindest vorerst, wieder geschlossen sind. Hansen drückt aufs Tempo. Sie will in den kommenden Wochen und Monaten in fünf Arbeitsgruppen zu den Themen Soziales, Familie, Wohnung, Gesundheit und Nachhaltigkeit debattieren. So hoffen Partei und Fraktion, ihr Profil für die nächsten Wahlen zu schärfen.

Doch bis dahin ist es noch ein Weg. Es geht nicht nur um die schwierige Übung, sich von der Regierung abzugrenzen, die als Retterin in der Not üppig Geldgeschenke verteilt. Es ist ein Balanceakt zwischen Solidarität und nationalem Schulterschluss auf der einen und dem Versuch, eigene Akzente zu setzen, auf der anderen Seite. „Konstruktiv“ werde man sein, so Hansen, und Vorschläge vorlegen. Aber es klingt Frust durch, dass so wenige Ideen von der Regierung aufgegriffen werden. Als nächstes werde man sich das Staatsbudget 2021 vornehmen; das 23-Punkte-Wohnungspaket soll durch eine Bauoffensive auf Gemeindeebene und einen Vorschlag für eine Spekulationssteuer ergänzt werden.
Frank Engel hofft, gemeinsam mit CSV-Gemeindeverantwortlichen „zu definieren, was mit erschwinglichem Wohnraum“ konkret gemeint ist. „Unglaublich, dass die Regierung all die Jahre nie einen Richtwert festgelegt hat.“

Ob das gelingt? Die Organisation der Debatten unter Corona-Hygieneauflagen ist eine Herausforderung und verlangt zusätzliche Anstrengungen. Eine Idee ist, die Mitglieder online zu befragen: „Unsere Statuten erlauben das“, bekräftigt Frank Engel. Mit den Distanzregeln eine Brücke zu schlagen zwischen Parteibasis und Fraktion fällt schwerer als ohnehin: Die Nolauschter-Tour, als Abgeordnete vergangenes Jahr zweimal sämtliche Bezirksverbände besucht hatten, wurde dieses Jahr abgesagt: „Wir wollten keinen Shitstorm riskieren“, erklärt Hansen.

Genau diesen direkten Austausch aber fordert die Parteibasis ein. „Es wäre gut, wenn wir den Austausch fortsetzen könnten“, unterstreicht CSV-Mitglied Guy Kohnen. Als die Parteileitung im Februar zu den Gemeinde-Assisen einlud, fand das Angebot bei ihm und bei anderen Ortsverbänden regen Anklang. „Wegen der Pandemie besteht jetzt erst recht Redebedarf“, sagt er, bevor er sich wieder der Technik zuwendet. Der Kongress ist zu Ende, die Leinwand zeigt ein Standbild der CSV-Internetseite: „Passt op Iech op.“

Ines Kurschat
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