„Die europäischen Verbraucher werden, wenn sie für ihren Ruhestand sparen wollen, schon bald aus einer breiteren Produktpalette auswählen können“, versprach die EU-Kommission am 29. Juni in einer Pressemitteilung. An jenem Tag wurde „Pepp“ vorgestellt, das „Pan-european pension product“. Finanzmarkt-Kommissar Valdis Dombrovskis und Wettbewerbsfähigkeits-Kommissar Jyrki Katainen gaben eine Pressekonferenz, und auf der Webseite der Kommission erschien ein ganzes Pepp-Dossier aus Stellungnahmen und Empfehlungen, Impakt-Analysen und Schaubildern, einer 260 Seiten langen Machbarkeitsstudie der Unternehmensberatung Ernst & Young Frankreich und einem 88 Seiten langen Entwurf für eine europäische Pepp-Verordnung. Offenbar handelt es sich dabei um ein bedeutsames Vorhaben.
Pepp zielt auf die „dritte Säule“ der Alterssicherung, neben den öffentlichen Rentenversicherungen (Säule eins) und betrieblichen Zusatzrenten (Säule zwei). 700 Milliarden Euro ist in der EU der Markt der privaten Altersvorsorge heute schwer, hat Ernst & Young für die Kommission ermittelt. Denn Altersvorsorgeverträge, die mit einem Versicherer oder einer Bank abgeschlossen werden, sind an sich nichts Neues. Sie mit einem Anbieter abzuschließen, der nicht im Wohnsitzland des Kunden ansässig ist, ist ebenfalls schon möglich.
Die Kommission möchte aber mehr davon. Einerseits, weil der politische Konsens in der EU darin besteht, öffentliche Rentenversicherungen für schwerkrank und die Altersvorsorge zu einer immer individuelleren Aufgabe zu erklären: „Nur 27 Prozent“ der EU-Bürger zwischen 25 und 59 Jahren hätten derzeit eine private Altersvorsorge abgeschlossen, schreibt die Kommission.
Andererseits soll mehr privates Kapital in die Wirtschaft geschleust werden. Wie das European Political Strategy Centre der Kommission herausgefunden hat, bewahren „zu viele Haushalte ihre Ersparnisse weiterhin in unverhältnismäßig hohem Maße in Bankkonten oder sogar in bar“ auf. 34 Prozent der Ersparnisse seien das im dritten Quartal 2016 im EU-Durchschnitt gewesen, in den USA dagegen waren es nur 13 Prozent. Damit entgingen den Leuten höhere Erlöse, die institutionelle Anleger – wie etwa Pensionsfonds – für sie erzielen könnten, und der „breiten Wirtschaft“ entgingen Investitionen, die solche Anleger tätigen könnten: sei es in Forschung und Entwicklung, in Infrastrukturen oder in neue Technologien. Bis 2030, so die Schätzung, könne durch das pan-europäische Angebot der Markt der privaten Rentenversicherungen sich von den derzeitigen 700 Milliarden Euro um weitere 700 Milliarden vergrößern. Noch einmal 700 Milliarden Euro Zuwachs könnten sich außerdem von selbst ergeben, weil der Markt auch dadurch wachse, dass die Renten aus den öffentlichen Pensionskassen „nicht mehr sicher“ seien.
Doch ob es das Pepp „schon bald“ geben wird, wie die Kommission vor drei Monaten versprochen hat, ist nicht so sicher. Angekündigt hat sie es als eine „einfache Standard-Anlagenoption“, bei der „zumindest das eingesetzte Kapital garantiert ist“. Alle fünf Jahre würden Pepp-Sparer ihren Anbieter wechseln können; die Kosten dafür wären gedeckelt und es wäre egal, ob der neue Anbieter sich im Wohnsitzland des Kunden befindet oder im EU-Ausland. Außerdem wären Pepp-Verträge „mitnahmefähig“, so dass Sparer auch nach einem Umzug in einen anderen Mitgliedstaat weiter in ihren Altersvorsorgevertrag einzahlen könnten. Würde der Vertrag fällig, also die Auszahlung des angesparten Kapitals möglich, sollen „unterschiedliche Optionen“ zur Verfügung stehen. Und schließlich sollen die Pepp-Produkte derart „einfach, transparent und mit einem hohen Maß an Verbraucherschutz“ versehen sein, dass die Verträge per Internet und ganz ohne Beratung abgeschlossen werden könnten.
Je mehr Leute das täten, desto stärker könnten die Pepp-Anbieter von Skaleneffekten profitieren, die den Kunden als Effizienzgewinne zugute kämen, verspricht die Kommission. Um zu zeigen, welch „hohen Verwaltungskosten“ private Rentenversicherungssysteme unterliegen und wie „gut dokumentiert“ das sei, führt das Politische Strategiezentrum der Kommission in seinem Pepp-Bericht das Beispiel der Niederlande an. Dort habe im Jahr 2012 die Administration der privaten Altersvorsorgeverträge ein Fünftel der Beiträge der Versicherten aufgezehrt, mehr als fünf Milliarden Euro. Wären die Overhead-Kosten längerfristig nur um einen Prozentpunkt kleiner, hätte das für die Kunden nach 40 Versicherungsjahren eine um 27 Prozent höhere Kapitalsumme zur Folge. Ein dank Pepp größerer Markt soll dafür sorgen, dass diese Tendenz sich bald schon überall einstellt.
Manche dieser Versprechen und Argumente lassen Anbieter der klassischen Altersvorsorgeverträge auf eine gewisse Distanz zum Pepp-Vorhaben gehen.. „Das ist noch ein Projekt, das muss alles erst noch gründlich diskutiert werden“, betont Marc Hengen, Direktor des Luxemburger Versichererverbands Aca. Dass das Strategiezentrum der Kommission suggeriert, alle Altersvorsorgeprodukte könnten Overhead-Kosten von 20 Prozent haben, sei ein Missverständnis: „Diese Kosten sind nicht generell so hoch, auf jeden Fall sind sie unterschiedlich hoch.“ Dass die Kommission damit wirbt, Pepp-Verträge würden besonders einfach und transparent und könnten online und ohne Berater abgeschlossen werden, sei „nicht die beste Ausgangsbasis für eine Diskussion“. Die derzeit bestehenden Angebote der „dritten Säule“ seien nicht etwa allesamt intransparent oder schwer verständlich, und „die beste Garantie“ für gute Kundeninformation sei „das persönliche Beratungsgespräch, in dem man Fragen stellen kann“.
Interessant findet die Luxemburger Branche die Pepp-Initiative aber trotzdem. Einem Problem wie der zurzeit schlechten „Mitnahmefähigkeit“ eines Altersvorsorgevertrags beim Umzug in einen anderen EU-Staat begegnen Luxemburger Versicherer mit ihrer internationalen Kundschaft immer wieder. Je nachdem, wohin ein Kunde umzieht, kann es vorkommen, dass der hierzulande abgeschlossene Vertrag im Ausland keine oder nur eine eingeschränkte Absetzbarkeit der Beiträge von der Einkommensteuer ermöglicht. Marc Hengen nennt keine Zahlen, aber „es kommt vor, dass Kunden umziehen und in ihren Vertrag hier weiter einzahlen oder dass sie ihn hier schlafen lassen“. Inhaber von in anderen EU-Staaten abgeschlossenen Verträgen können nach einem Umzug nach Luxemburg dem gleichen Problem hier begegnen. Dass mit dem Pepp solche Probleme überwunden werden sollen, sei fürs Geschäft der Versicherer auch deshalb interessant, „weil Luxemburg ein internationaler Versicherungsstandort ist und wir schon heute wissen, welche Regeln im Ausland gelten“. Luxemburg habe das Potenzial, sich zu einem „Pepp-Kompetenzzentrum“ zu entwickeln. In diese Richtung gehen zu wollen, habe die Branche sich kürzlich vorgenommen, sagt der Aca-Direktor.
Ganz ähnlich sieht das auch Anouk Agnes, die stellvertretende Direktorin des Verbands der Fondsbranche (Alfi). Sehen die Pepp-Pläne der EU-Kommission doch vor, den Anbieterkreis zu erweitern. Zurzeit noch können Altersvorsorgeverträge nur Versicherer und Banken abschließen. Pepp-Veträge dagegen sollen auch Vermögensverwalter und Fondsmanager anbieten können. Auch die Luxemburger Fondsbranche verfüge über eine „langjährige Expertise“, die Regeln in anderen Staaten betreffend. „Das kann ein Wettbewerbsvorteil für uns sein.“ Die Alfi habe Pepp deshalb zu einer ihrer Prioritäten für die nächsten Monate erklärt.
Dass europaweit von Land zu Land unterschiedliche Regeln für private Altersvorsorgeverträge bestehen, ist allerdings der Umstand, der am stärksten darüber entscheiden wird, ob das Pepp so zustande kommt, wie das der EU-Kommission vorschwebt. Und: ob es überhaupt zustande kommt.
Mag das Vorhaben auch Teil der „Kapitalmarkt-union“ sein, jenes Aktionsprogramms, das Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor zwei Jahren vorgestellt hatte. Es soll die Kapitalfreizügigkeit in der EU verbessern, und es will unter anderem über einen „Juncker Plan“ öffentliche Investitionen einsetzen, um damit zusätzliche private Mittel zu „heben“, zum Beispiel aus Pensionsfonds. Altersvorsorgeanbieter sollten sich eines „auf einem angemessenen Verbraucherschutz basierenden Regulierungsmodells zum EU-weiten Vertrieb von Rentenversicherungen“ bedienen können, steht im Aktionsprogramm, und: „Ein größerer europäischer Markt für Vorsorgeprodukte der dritten Säule würde auch die Bereitstellung von Mitteln für institutionelle Anleger und Investitionen in die
Realwirtschaft fördern.“
So sah das im Januar 2016 auch das Europaparlament. In einer Entschließung erklärten die Abgeordneten, es müsse „ein Umfeld gefördert werden“, das „Anreize für innovative Finanzprodukte“ setzt, dadurch „Vorteile für die Realwirtschaft schafft“ und „auch zu angemessenen, sicheren und nachhaltigen Renten beitragen kann“. Der Europäische Rat forderte im Juni 2016 von der Kommission, „zügige und entschlossene Fortschritte, damit Unternehmen leichter Zugang zu Finanzierungen erhalten und Investitionen in die Realwirtschaft gefördert werden, indem die Agenda der Kapitalmarktunion weiter vorangebracht wird“.
Doch ob der politische Konsens weit genug reicht, damit das Pepp „zügig durchstarten kann“, wie die EU-Kommission Ende Juni hoffte, muss sich zeigen. Dass sie klagt, „der europäische Markt für die private Altersvorsorge ist derzeit zersplittert und uneinheitlich“, und ihr Politisches Strategiezentrum feststellt, „eine Vielzahl von Barrieren“ führe dazu, dass private „Rentenanbieter dazu neigen, klein zu bleiben, und die grenzüberschreitende Aktivität sehr niedrig“ sei mit nur vier Prozent am Umsatz, liegt nicht zuletzt an der Vielzahl nationaler Besteuerungsregeln für schon bestehende nationale Regimes zur privaten Altersvorsorge. Steuerpolitik aber ist Sache der Mitgliedstaaten, sie auf EU-Ebene zu regeln, erfordert Einstimmigkeit im Rat. Für das Pepp den Rechtsrahmen für private Rentenverträge in allen Mitgliedstaaten im Konsens mit den Regierungen zu harmonisieren, hält die EU-Kommission trotz aller Bekenntnisse zur Kapitalmarktunion für politisch so gut wie undurchführbar. Deshalb soll das Pepp ein Angebot parallel zu allen bestehenden nationalen Formeln sein und an den Rechtsvorschriften der Staaten nichts ändern.
Aber auch das sagt sich leichter, als es sich in die Praxis umsetzen lässt. Ernst & Young Frankreich hat in seiner Machbarkeitsstudie für die Kommission ermittelt, dass EU-weit 49 unterschiedliche Regimes für private Altersvorsorgeverträge bestehen, die Unterschiede sind vor allem steuerliche. In Luxemburg besteht nur ein Regime, das über die steuerliche Begünstigung von Altersvorsorgeverträgen laut Artikel 111bis des Einkommensteuergesetzes. In Deutschland, Frankreich und Belgien dagegen hat Ernst & Young jeweils mehrere Regimes gezählt. Unter den 49 in der gesamten EU gelten mal steuerliche Anreize in der Sparphase (wie etwa auch in Luxemburg), mal bei der Auszahlung des Kapitals. Mal wird die Auszahlung besteuert, falls sie nicht als monatliche Rente, sondern als Kapitalblock genommen wird, mal nicht. Mal schlägt die Einkommensteuer zu, wenn ein Altersvorsorgevertrag in ein anderes Land „mitgenommen“ werden soll, mal, wenn ein Kunde nicht das Wohnsitzland wechseln will, sondern den Vertragsanbieter.
Um das Pepp mit dieser Vielfalt an Regeln nicht kollidieren zu lassen, hat die Kommission „Flexibilitäten“ vorgeschlagen. Beispielsweise jene, einen Wechsel des Vertragsanbieters alle fünf Jahre und gegen eine gedeckelte Gebühr generell zu erlauben; das würde dann steuerfrei. Sämtlichen nationalen Regelungen aus dem Weg zu gehen, würde aber wahrscheinlich schwierig: „Die nennenswertesten Unterschiede von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat bestehen in der ‚Dekumulationsphase‘, wenn ein Vertrag entweder als Kapital ausgezahlt oder in eine Rente umgewandelt werden soll“, sagt Vincent Natier, Partner bei Ernst & Young Frankreich. „Manche Staaten lassen beides zu oder eine Mischform. Andere erlauben nur die Auszahlung als Rente. Und immer können unterschiedliche steuerliche Regeln gelten.“
Weil die Art der Auszahlung und ihre Besteuerung den Kerngedanken der Altersvorsorgeverträge enthält und sie entweder zur reinen Rentenversicherung erklärt oder zum Teil auch zum Kapitalsparprodukt, schreibt die EU-Kommission lediglich, sie „ermutige“ die Staaten, Pepp-Verträgen dieselben Steuervorteile zu gewähren wie nationalen Produkten, „selbst wenn das Pepp die hierfür auf nationaler Ebene geltenden Kriterien nicht gänzlich erfüllt“. Denn nur dann könnten sich die 700 Milliarden Euro Marktzuwachs ergeben.
Womit der Ball bei den Regierungen liegt. Wie das in Luxemburg gehandhabt werden soll und ob die mit der Steuerreform zum 1. Januar in Kraft getretenen zusätzlichen Vorteile für Altersvorsorgeverträge auch für Pepp-Verträge gelten würden, sei noch nicht entschieden, erklärt das Finanzministerium: „Pepp ist im Moment nur ein Projekt.“
Die pan-europäischen Verträge „parallel“ zu allem anzubieten, was es schon gibt, würde für Versicherer, Banken oder Fondsmanager aber auch technisch nicht so leicht, wie es die Mitteilungen der Kommission suggerieren: Um nicht mit nationalen Regeln in Konflikt zu geraten, müsste, wer Pepp verkaufen will, in allen Mitgliedstaaten separate „Sektionen“ betreiben, so steht das im Pepp-Verordnungsentwurf. Spätestens drei Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung müsste das so sein. „Machbar“, sagt Aca-Direktor Marc Hengen, „ist das, aber es wird eine Riesenbaustelle.“ Und wahrscheinlich wird es am Ende nicht nur ein „Pan-european pension product“ in der EU geben, sondern sehr viele.