Das Wirtschaftswachstum hat wieder Raten erreicht, die nach der Finanz- und Wirtschaftskrise vor bald zehn Jahren unwiederbringbar der Vergangenheit anzugehören schienen. Der Finanzplatz gedeiht trotz des Übergangs zum automatischen Informationsaustausch und des Endes des Bankgeheimnisses. Wirtschaftsminister Etienne Schneider konnte das tun, was seinen Vorgängern seit Jahren nicht mehr gegönnt war: nach Prospektionsreisen die Ansiedlung gleich mehrerer neuer Industriebetriebe anzukündigen. Die zur strukturellen Kernarbeitslosigkeit erklärte Arbeitslosenrate sinkt. Auch nach der Mehrwertsteuererhöhung vergangenes Jahr findet Inflation nicht mehr statt. So verschwindet die automatische Indexanpassung der Löhne und Renten aus dem kollektiven Gedächtnis, bis die Regierung die Familienzulagen nun sogar an das mittlere Einkommen anzupassen verspricht. Denn trotz des als nationale Katastrophe angekündigten Rückgangs der Mehrwertsteuereinnahmen aus dem elektronischen Handel strömen die Staatseinnahmen reichlich genug, damit die Regierung die Austerität offiziell für beendet erklären konnte.
Dennoch deutet manches darauf hin, dass kaum etwas wie vor der großen Krise sein wird. Die sichtbarsten Indizien dafür sind selbstverständlich die Inflationsrate und der Zinsfuß. So galt es beispielsweise lange Jahre als abgemacht, dass die Inflationsrate in Luxemburg stets über der anderer europäischer Länder liegt. Was im Grunde nicht verwunderlich war, weil das Wirtschaftswachstum ebenfalls höher war. Manche verdächtigten zudem das automatische Indexsystem, durch „Selbstentflammung“ die Lohnpreisspirale schneller in Bewegung zu setzen als in Ländern, die bloß Tarifabmachungen kennen. Doch trotz des derzeit hohen Wirtschaftswachstums lag die „hausgemachte“ Jahresinflationsrate im vergangenen Monat nur bei 0,8 Prozent, die Desinflation ist also nicht nur auf die niedrigen Erdölpreise zurückzuführen. Dem diese Woche veröffentlichten Conjoncture Flash des Statec ist sogar zu entnehmen, dass die seit mehreren Monaten bei null liegende jährliche Inflationsrate in Luxemburg niedriger als die Inflationsrate von 0,2 Prozent im Euro-Raum ist.
Bisher wusste auch jeder Hausbesitzer oder Bauherr, dass bei der Vertragsunterzeichnung der fixe Zinsfuß eines Immobiliendarlehens höher liegt als derjenige eines variablen Darlehens. Denn für die Bank stellt der Aufpreis eine Art Risikoprämie für den Fall dar, dass die Zinsen während der Laufdauer des Darlehens unverhofft steigen. Doch die Zentralbank meldete am vergangenen Freitag, dass der variable Zinsfuß neu bei Luxemburger Banken aufgenommener Hypothekendarlehen im Juni um vier Hundertstel auf 1,66 Prozent gesunken und der fixe Zinsfuß noch schneller, um sieben Hundertstel, auf ebenfalls 1,66 Prozent gefallen ist. Es gibt also keinen Unterschied mehr zwischen fixem und variablem Zinsfuß. Nur ein Kunde, der glaubt, dass in den nächsten 20 oder 30 Jahren die Zinsen weiter fallen, findet noch einen Anreiz, sein Darlehen von der Entwicklung des Geldmarkts abhängig zu machen.
Die Reihe solcher Verwerfungen ließe sich fortsetzen. Denn die Welt liegt voller Geld, aber es fehlt an rentablen Investitionsmöglichkeiten, auch weil es zu ungleich verteilt ist, um genügend Nachfrage zu schaffen. Folglich türmt sich das Ersparte auf, aber niemand hat dafür Verwendung und ist also bereit, dafür Zinsen zu zahlen. So fällt der Preis des Geldes und die Europäische Zentralbank rackert sich ab, um eine drohende Deflationskrise abzuwenden. Der monetaristische Traum, die Wirtschaft mit leichter Hand über die Geldmenge zu steuern, ist ausgeträumt; die mit Maastrichter Kriterien diktierte Austeritätspolitik im Euro-Raum wird konterproduktiv. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, wie glatt oder holprig diese Widersprüche gelöst werden können und vor allem, wer für die Kosten aufkommt.