Ketter, Rolph: Der Melusinentraum

Psychogramme aus einem ungeschriebenen Roman

d'Lëtzebuerger Land du 01.04.2004

Für einen "freien" Schriftsteller, der schreibzeitlebends an kreativen Hemmungen gelitten haben will, hat es Rolph Ketter, Jahrgang 1938, auf eine ansehnlich Werklatte gebracht. Von über verschiedene Anthologien und sonstige Sammeleditionen verstreuten Gedichten, darunter das genialische frühe Zigeunerlied, abgesehen, hat Ketter für seine Begriffe zwischen 1988 bis 2002 mit den Prosabänden Unterwegs zur Insel, Auf der Unglückswiese, Niemannsland, Journal eines jungen Narren und In einem kleinen Land (meistens bei den Éditions phi) fast emsig publiziert. In dem nun von Angelika Thomé geführten phi-Verlag sind auch die von 1981 bis 85 gern an Café-Tischen in Sudelhefte gekritzelten Aufzeichnungen Der Melusinentraum entstanden.

Der seit eh träumerische Pariser und Münchner Langzeitstudent Rolph Ketter ist als Mensch und Autor, ausgenommen journalistische Intermezzi bei der Revue und Radio Lëtzebuerg und einem kurzen Auftritt im Binsfeld Verlag, stets und ständig zaudernd und tastend, einmal himmelhochjauchzend, dann wieder zu Tode betrübt, auf Selbstfindungstrip, bezieht aus dieser chronischen, obsessiven Wissens- und Gewissensforschung nicht nur nolens volens schöpferischen oder chronistischen Stoff, sondern macht die narzisstische Selbstbespiegelung zum exklusiven Thema, wenn nicht sogar zum Schreibprinzip. 

Kein Wunder also, dass Leben und Beruf bei Ketter nicht selten in eine Selbstquälerei ausarten, die er, in all seiner existenziellen Einsamkeit, nur glaubt verwinden zu können, wenn er sich in nahezu elitärer Autosuggestion gegen die für ihn anstößige Außenwelt und das Gros seiner Mitmenschen abkapselt. Im Falle Ketter verdreifacht sich die Attitüde, durch Begabung ausersehen, isoliert zu sein: Rolph überlebt seine beiden Brüder Heng und Norbert, den begnadeten Grafiker und den talentierten Fotografen um Jahre; deren depressive Veranlagung belasten ihn zusätzlich, diese Sorge aber kann er sich allenfalls von der Seele weg "schreiben".

"Literarisch" ist an den Aufzeichnungen aus den Jahren 1981/85 lediglich oder vor allem ihr eloquenter Titel Der Melusinentraum: Ein sich selber als edel empfindender Siegfried erträumt sich als Leben obstinat eine Melusine, doch dieser Lebenstraum entpuppt sich immer wieder als hässliches Fischweib. Mit streng literaturkrischem Handwerkszeug ist den sporadischen,  unsystematischen Notaten aus fünf Lebens- und Schreibjahren jedenfalls nicht gerecht beizukommen. Sie stellen eher die ziemlich schonungslose Beichte eines Nachkriegsmenschen vor, der hypersensibel auf die seinerzeit  eminent frustrierenden Verhältnisse in der Luxemburger Kultur-, Literatur- und Politszene reagiert. 

Im Melusinentraum wimmelt es nur so von Belegen für die wiederholte Resignation vor der Übermacht des in diesem Lande allenthalben vorherrschenden Krämergeistes, aber auch für die unaufhörliche Qual des Selbstzweifels eines hochbegabten Schreibers, der sich vergeblich danach sehnt, sein Schaffen und Streben mit einem großen, repräsentativen, authentischen Roman zu runden. 

Auf Seite 78 heißt es einmal: "Bin ich nicht wie ein Fragezeichen, das in zwei Richtungen fragt? In die Richtung des Anderen, aus der ich komme und zu dem ich nicht mehr zurückfinde. In die Richtung meiner Mit- und Gegenmenschen, der Gesellschaft, ihrer Gesetze und ihrer Moral. Vielleicht ist es das Wissen um das vergessene Sprechen des Anderen, das mich davon abhält zu schreiben aus Lust am Einverständnis mit den andern. Ich könnte auch sagen: Kein Auftrag ist an mich ergangen vom Andern, mich einer Sprache zu bedienen, die das mir Unverständliche verständlicher macht." 

Und ein paar Zeilen weiter bekennt Ketter: "Ich erkläre mir meinen Mangel an Fantasie, indem ich mir vorwerfe, dass sich meine Affekte durch das fast tägliche Schreiben verflacht haben. Nur in wenigen Sprachaugenblicken ist es mir bisher gelungen, meine Phantasmen radikal ins Auge zu fassen. Ich habe mich selbst zu einer Anzeige gemacht, war niemals wirklich ergriffen von meinem Zustand als Menschenwesen. Nur das mir Fehlende ergreift mich zuweilen, ich bin mir dann schmerzlich bewusst, dass mir etwas genommen wurde, das nicht zu ersetzen ist. Deshalb komme ich auf keinen grünen Zweig, sitze immer noch auf dem verkohlten Ast der ersten Verbote, der ersten Enttäuschungen." 

Es gibt aber nicht "wenige", sondern eher zahlreiche "Sprachaugenblicke" im Melusinentraum, die Ketters exquisite sprachliche und stilistische Talente bezeugen. Dem Träumer an Wirtshaustischen gelingen häufig großartige, mitunter fein impressionistische, meist aber hart expressionistische Beschreibungen: von "Tauben" etwa, die "über den Platz ticken", vom Bierschaum, der an den Ufern der Muttergottesoktave Wellen schlägt". 

Jammerschade nur, dass diese furiosen Bekenntnisse eines fast unheilbar depressiven Zeitzeugen, die einfühlsamere LeserInnen ihrerseits bisweilen nahe an den Rand einer Depression zu bringen vermögen, eine Aberzahl orthografischer, grammatischer Fehler verunstalten und sich ein sträflich mangelhaftes Lektorat den unsinnigen Regeln der deutschen Rechtschreibreform verpflichtet fühlt.

 

Rolph Ketter: Der Melusinentraum, Aufzeichnungen, 192 Seiten, Éditions Phi, Dezember 2003, 19 Euro.

 

 

Michel Raus
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