Unter allen wichtigen Interessengruppen war ausgerechnet die größte Gewerkschaft die einzige, die sich vor zwei Monaten einer von Presse, Funk und Fernsehen geforderten Instant-Bewertung der neuen Regierung und ihres Koalitionsabkommens verweigert hatte. Vielleicht weil der OGB-L, wie die anderen Gewerkschaften und Unternehmerverbände, aus widersprüchlichen Ursachen die Fortsetzung der CSV/LSAP-Koalition unter Krisenbedingungen weder richtig zu loben, noch richtig zu kritisieren wusste.
Vor einem Jahr, als im Schwarzen September die Finanzkrise unvermutete Ausmaße annahm, Tom Wolfes Masters of The Universe erstmals sprachlos blieben und der bis dahin geschmähte starke Staat zur letzten Rettung wurde, da schien es einen Augenblick lang, als ob auch eine neue Aufmischung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses bevorstünde. Deshalb war es dem OGB-L sogar drei Wochen vor den Wahlen gelungen, die breiteste Gewerkschaftsfront seit Jahrzehnten aufzustellen, die unter dem Motto „Wir bezahlen nicht für ihre Krise“ auf die Straße ging.Sicher war der OGB-L nicht naiv genug, um seine Wünsche für die Wirklichkeit zu nehmen. Aber er scheint dennoch etwas überrascht, wie schnell die von ihm als Restauration erfahrene Rückkehr zu den sozialen und politischen Verhältnissen von vor der Krise begonnen hat. Auch wenn er es am Dienstag nach der Sitzung seines Nationalvorstands vorzog, die CSV/LSAP-Koalition mit Vorsicht zu handhaben, und lieber den Vorsitzenden der Zentralbank als abschreckendes Beispiel zitierte. Denn was die Regierung in ihrem Koalitionsabkommen verklausuliert als neue Parameter für den Index und selektive Sozialpolitik ankündigt, heißt bei der Zentralbank unverblümt Indexstopp und Rentenkürzungen.
Doch ein wenig gewinnt man den Eindruck, als ob es schon gar nicht mehr um die noch keineswegs beendete Krise ginge, sondern um das, was Politiker und Konjunkturforscher seit Monaten als „sortie de crise“ beschäftigt. Denn darunter wird nicht nur der Zeitpunkt verstanden, wann die Volkswirtschaft wieder zu wachsen beginnt, sondern auch, wann die Politik der Konjunkturprogramme, der Investitionshilfen und der Kaufkraftförderung beendet wird. Dann stellt sich nämlich die Frage, wer für das auch mit dem am nächsten Dienstag deponierten Budgetentwurf für 2010 gegrabene Haushaltsloch und die stark gestiegene Staatsschuld aufkommen muss. Der Ausweg aus der Krise ist nicht das Ende der antizyklischen Wirtschaftspolitik, sondern genau der Augenblick, wenn ihre Vorzeichen, wenn Soll und Haben umgekehrt werden. Die CSV hatte bereits in ihrem Wahlprogramm angekündigt, dass ihr neuer Finanzminister übernächstes Jahr – möglicherweise wieder nach den Gemeindewahlen – den Schalthebel umlegen will.
Deshalb droht „sortie de crise“ auch das Codewort für einen Umverteilungskampf zu werden, für den sich jetzt bereits die Schlachtordnungen abzeichnen. Heißt es bei den Unternehmerverbänden, dass sie die Krise als Chance nutzen wollen, um mit gestärkter internationaler Wettbewerbsfähigkeit daraus hervorzugehen und neue Marktanteile zu gewinnen, rechnete OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding am Dienstag vor, dass die Gewerkschaft vor der Aushandlung von 80 neuen Kollektivverträgen stehe und sie die Kaufkraft ihrer Mitglieder verteidigen wolle. Er dachte beispielsweise laut darüber nach, dass es neben der in der Regierungserklärung angekündigten selektiven Sozialpolitik auch eine selektive Steuerpolitik geben könnte, da die Vermögenssteuer vorschnell abgeschafft und die Spitzensteuersätze vorschnell gekappt worden seien.