Tripartite

Alle in einem Boot

d'Lëtzebuerger Land vom 13.04.2006

Wenn heute die Tripartite wieder zusammenkommt, um bis Ende des Monats auszuhandeln, wo die Regierung bei den Staatsausgabenund die Unternehmen bei den Produktionskosten sparen können, ist das ein politisch riskantes Unterfangen. Denn durch diese Kürzungen laufen verschiedene Bevölkerungsgruppen Gefahr, benachteiligt zu werden und ihrem Unmut Luft zu machen. Deshalb ist es vielleicht kein Zufall, wenn ein neues Modewort bei Sozialpolitikern Hochkonjunktur hat: die soziale Kohäsion.

Wenige Wochen nachdem das statistische Amt des Wirtschaftsministeriums Statec eine längere Studie über den Rapport travail et cohésion sociale (Cahiers économiques Nummer 99) vorgelegt hat, beschäftigt sich auch der Wirtschafts- und Sozialrat in seinem letzte Woche veröffentlichten Bericht über die Évolution économique, sociale et financière du pays 2006 mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft.

Bis in die Sechziger- und Siebzigerjahre, als Menschen zum Mond flogen und das Fernsehen farbig wurde, gab es den Begriff des sozialen Fortschritts, den regelmäßig alle Wahlprogramme der Linken, aber auch der Rechten in Aussicht stellten. Er meinte, dass die Reallöhne, die Renten, die Zahl der Urlaubstage, das Kindergeld und andere sozialstaatliche Leistungen ziemlich regelmäßig steigen, die Arbeitszeit sinken, der Kündigungsschutz und die betriebliche Mitbestimmung zunehmen sollen.

Obwohl es bis heute sozialpolitische Verbesserungen gab, zuletzt den Elternurlaub oder die Beschlüsse des Rententischs, haben sich die Parteien in den liberalen Achtzigerjahren nach und nach vom Begriff des sozialen Fortschritts verabschiedet. Seit der Sozialstaat als der eigentliche Leviathan entlarvt wurde, trauen sich höchstens noch Gewerkschaften, vom sozialen Fortschritt zu reden, ohne so recht daran zu glauben. 

Im politischen Gebrauch füllte danach das Versprechen von sozialer Gerechtigkeit die Lücke, die der soziale Fortschritt hinterlassen hat. Es stellt keine absolute Verbesserung der materiellen Lage mehr in Aussicht, sondern lediglich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der materiellen Lage unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Nach dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, wurden in der Vergangenheit sowohl Leistungen verteilt – etwa Kindergelderhöhungen für die einen gegen Einkommenssteuersenkungen für die anderen – als auch Krisenopfer verlangt, beispielsweise die Solidaritätssteuer auf unterschiedlichen Einkommensformen. 

Doch seit den Neunzigerjahren, als die ständige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des nationalen Produktionsstandorts zum obersten Staatsziel erklärt wurde, ist ein weiterer Begriff in Umlauf, um das aktuelle Ziel der Sozialpolitik zu beschreiben: die soziale Kohärenz. Auch wenn er keinesfalls neu ist – der lothringische Soziologe Émile Durkheim benutzte ihn schon vor einem Jahrhundert – findet er erst seit kurzem Eingang in die Alltagssprache.

Die Europäischen Union nennt ihn in der Erklärung von Lissabonein Ziel der nationalen Wettbewerbsfähigkeit, und Artikel 1-3-3 des Verfassungsvertrags sah vor, dass die Union „den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt“ fördere. Oft wird die soziale Kohäsion im selben Atemzug wie der Umweltschutz als ein Teil der Lebensqualität genannt oder zu einem Bestandteil von Nachhaltigkeit erklärt.

In den meisten Wörterbüchern der Soziologie sucht man vergebens nach der sozialen Kohäsion, und alle Versuche, sie zu quantifizieren, erwecken eher Mitleid. In Wirklichkeit scheint es sich weder um einen soziologischen, noch einen ökonomischen Ausdruck zu handeln, sondern vielmehr um einen politischen. Und sein politischer Gebrauchswert entsteht gerade durch seine Schwammigkeit, die sich jeder präzisen Definition entzieht. Der vom Wirtschaftsministerium beauftragte Wirtschaftswissenschaftler Lionel Fontagné schrieb vor zwei Jahren in seinem Bericht Compétitivité du Luxembourg : une paille dans l’acier genau 36 Mal über die soziale Kohäsion, ohne ein einziges Mal zu erklären, was er damit meinte.

Selbst wenn es um die Beurteilung des sozialen Zusammenhalts in Luxemburg geht, verfing sich der ausländische Experte in Widersprüchen. Auf Seite 22 seines Berichts schrieb Fontragné von einer „cohésion sociale exemplaire”, um dann auf Seite 118 festzustellen: „En termes de cohésion sociale (Figure 32), le Luxembourg présente des performances moyennes par rapportà l’ensemble des pays de comparaison.”

Jeder und manchmal derselbe Autor scheinen etwas Anderes unter sozialer Kohösion zu verstehen. Die Statec-Autoren schreiben von einem „processus permanent qui consiste à établir des valeurs communes et des objectifs communs et à offrir l’égalité des chances en se fondant sur un idéal de confiance, d’espoir et de réciprocité parmi tous les individus’.

Autrement dit, ‚La cohésion sociale est donc la capacité de la société à assurer le bien-être de tous ses membres’“ (S. 43).

Der Wirtschafts- und Sozialrat holt noch weiter aus, denn für ihn ist soziale Kohäsion „l’expression d’une vie en commun harmonieuse de la population résidante, aussi bien active que passive, et indépendamment de la nationalité, du statut professionel, de l’appartenance politque ou des convictions religisueses et philosophiques“ (S. 38). Auffallend ist, dass er das friedliche Zusammenleben auf die Wohn-, nicht die Erwerbsbevölkerung beschränkt, die zahlreichen Grenzpendler also von der nationalen Idylle augeschlossen bleiben.

Doch trotz aller politischen Ausweitungen des Begriffs im Allgemeinen, werden der Wirtschafts- und Sozialrat und der Statec rasch ökonomistisch, wenn es ums Konkrete geht. Unter dem Strich läuft für den Wirtschafts- und Sozialrat die soziale Kohäsion in erster Linie auf den Versuch hinaus, die Armen nicht auszugrenzen. Ihre Armut zu beseitigen käme dagegen der ausgemusterten Idee der sozialen Gerechtigkeit gleich.

Weniger karitativ als der Wirtschafts- und Sozialrat dekretierte Fontagné: „La cohésion sociale est un élément fondamental de la compétitivité, en même temps que le résultat d’une politique économique poursuivant des objectifs de développement de la société (le social est le deuxième pilier du développement durable). L’élément le plus tangible de cette cohésion est la distribution des revenus.

On peut également s’intéresser à la réduction de la pauvreté. L’espérance de vie est une variable approchant l’accès aux soins. Enfin l’inégalité entre genres, dont le marché du travail renvoie un écho à travers les différences de salaires, doit également être examinee” (Seite 104). Worauf er dann vorschlägt, Indikatoren zu schaffen, um auch den sozialen Zusammenhalt zu messen, von der Einkommensverteilung über die Armut bis zur Lebenserwartungund den Arbeitsunfällen.

Denn für Fontagné wird der Zusammenhalt der Gesellschaft zu einem Standortvorteil: “La compétitivité d’une économie englobe de nombreuses dimensions dont la cohésion sociale constitue un des piliers. La cohésion sociale est une dimension importante car elle assure la stabilité sociale, en créant un sentiment de sécurité et d’appartenance et pouvant par la même améliorer le potentiel de développement d’un pays. Au-delà des aspects quantitatifs ou monétaires de la compétitivité, les capacités de croissance d’un pays dépendent largement de la motivation de son capital humain, influencée elle-même par un bon environnement de travail et d’un sentiment de forte cohésion tributaire d’un fonctionnementefficace du système sociale du pays. La compétitivité ne doit pas être considérée comme une fin en soi mais comme un moyen, parmi d’autres, pour arriver à un objectif commun qu’est le bien-être de la population” (Seite 221).

Doch im Gegensatz zu den Ideen des sozialen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit begreift die soziale Kohäsion weder das politische Ziel einer absoluten Verbesserung, noch der Verhinderung einer relativen Verschlechterung der materiellen Lage in der Bevölkerung. Sie beschreibt vielmehr das politische Ziel, selbst bei einer absoluten oder relativen Verschlechterung der materiellenLage die gesellschaftlichen Widersprüche so zu verwalten, dass sie nicht für die bestehenden Verhältnisse bedrohlich werden. Damit schwingt auch der Technokratentraum vom perfekten, kostengünstigen und demokratiefeindlichen Konfliktmanagement in Zeiten der Sparpolitik mit. Schließlich ist der gesellschaftliche Zusammenhalt trotz materieller Not selten größer als in Kriegszeiten.

Romain Hilgert
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