Die Straße, die von Biwer ins kleine Nachbardorf nach Reinert führt, schlängelt sich an grünen Wiesen und gelbem Ginster vorbei hinauf zum Waldrand. Wären da nicht die mannshohen Hecken – man hätte einen traumhaften Ausblick weit über das Nachbardorf Wecker hinaus. Vor gut 30 Jahren gab es die Hecken nicht. Zum Glück. Andernfalls wäre wohl der Missbrauchsskandal um einen katholischen Geistlichen nie aufgedeckt worden
Es war an einem Frühlingstag, als sich der 20-jährige Pierre Ney mit seinem Vater auf den Weg zum Feld machte, um Schalotten für die väterliche Metzgerei zu ernten. Da spazierte Dorfpfarrer Emile Fonck, ein hoch gewachsener Mittfünfziger, mit zwei Nachbarjungen in Richtung Waldrand an ihnen vorbei. Was da oben los sei, habe ihn sein Vater kurze Zeit später gefragt, erinnert sich Pierre Ney. Der inzwischen pensionierte Metzgerssohn aus Biwer war einer der Zeugen im späteren Gerichtsverfahren gegen den Geistlichen. Das Land hat ihn besucht und mit ihm über die Vergangenheit gesprochen. Weil die Entfernung einige Hundert Meter betrug, habe sein Vater nur schemenhaft sehen können, wie sich der Pfarrer mit den Jungen auf dem Boden wälzte, fährt Ney fort: „Aber von da an haben wir aufgepasst.“
Gerüchte, der Pastor habe eine Schwäche für kleine Jungen, hatten von Anfang an im Dorf die Runde gemacht. Aber ihnen auf den Grund gegangen, war lange niemand, obwohl sich über die Jahre die Indizien häuften. „Es war doch der Herr Pfarrer“, sagt Ney und versucht in Worte zu fassen, was so schwer zu begreifen ist: Wie kann ein Geistlicher mehr als acht Jahre lang mitten im Dorf unbehelligt sein Unwesen treiben? Und warum gehen Betroffene erst Jahrzehnte später mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit? Selbst Ney, der nicht missbraucht wurde, hat im Dorf „seit damals“ die schrecklichen Vorfälle kaum mehr erwähnt.
Damals war die katholische Kirche noch einflussreicher als heute. Zumal auf den Dörfern. Viele der vornehmlich im 19. Jahrhundert gegründeten Kinderheime und Schulen waren lange Zeit fest in der Hand von Nonnen und Mönchen gewesen. Und obwohl mit dem Gesetz von 1912 die Vorherrschaft der Kirche über die Schulbildung der Kinder auf dem Papier als beendet galt, vollzog sich ihr Rückzug aus den Dorfschulen eher langsam. Dass der neue Pfarrer, der 1956 von Boxhorn nach Biwer gewechselt war, in der dorfeigenen Schule unterrichtete, war daher nichts Ungewöhnliches. Auch nicht, dass er Nachhilfe gab. Dass allerdings bis abends spät diverse Jungen beim „Här“ ein und aus gingen, weckte das Misstrauen der Metzgerfamilie, deren Haus sich wenige Hundert Meter von der Pfarrei befand. „Das war für uns auch schlimm, uns so etwas vorzustellen. Und wir hatten keine Beweise.“ Es blieb beim vagen Verdacht, bis eines Tages Sohn Pierre den Pfarrer mit eigenen Augen dabei beobachtete, wie er zwei Jungen in den Wald mitnahm und dort zu sexuellen Handlungen zwang.
Die monatelangen Ermittlungen der Polizei brachten dann vollends Licht in den Fall, der als einer der größten Missbrauchsskandale der Sechzigerjahre in die Kriminalgeschichte eingehen sollte und sogar die Mamer Affäre in den Schatten stellte. 1958 hatte ein Mamer Pfarrer mehrere Mädchen missbraucht und war dafür zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Dagegen waren es allein in Biwer zehn Jungen zwischen sieben und zehn Jahren, die bekannten, vom Pfarrer missbraucht worden zu sein. Wie viele Pädophile lockte der die Jungen mit Schokolade und schüchterte sie später durch Drohungen massiv ein. „Der hat sich die Jungs gezielt ausgesucht. Das waren arme Familien, oder der Vater war selten zu Hause“, so Ney, und die Empörung ist ihm immer noch anzusehen. Fragte eine Mutter doch mal nach, redete sich der Pastor mit Nachhilfestunden oder gemeinsamem Fußballspiel heraus. Die Jungen sprachen all die Zeit nicht über ihr Leid, sie behielten ihr Geheimnis für sich. Angst und Scham waren wohl zu groß. Über Sexualität wurde damals nicht geredet, schon gar nicht über Homosexualität oder Pädophilie, was Fremdwörter waren und für viele heute noch sind.
Auch das Schweigen überdauerte – zum Teil bis heute. Ein Dorfbewohner aus Biwer, der angibt, vom selben Pastor „nur umarmt worden zu sein“, sagte gegenüber dem Land: „Ich habe nach der Affäre weder mit meinem Bruder, noch mit meinen Eltern je wieder darüber geredet.“ Der Bruder war vom Pfarrer mehrfach vergewaltigt worden. Ney bestätigt: „Das ist im Dorf immer noch ein Tabu.“
Gegenüber der Polizei allerdings fassten sich die Jungen ein Herz. Einer nach dem anderen schilderte, was ihm der Pfarrer angetan hatte. So kam heraus, dass es in mindestens einem Fall nicht bei vagen Vermutungen geblieben war. Drei Jahre zuvor hatte ein Doktor aus Grevenmacher während einer Routineuntersuchung bei einem Jungen schwere Darmverletzungen festgestellt und alarmierte daraufhin die Eltern und den Bürgermeister. Die wiederum legten beim Dekanat in Grevenmacher und beim Bistum Beschwerde gegen den Geistlichen ein und forderten seine Versetzung. Erfolglos, was das Tageblatt im Oktober 1964 zu dem Kommentar veranlasste: „Noch empörender und bedauerlicher ist es, dass die kirchliche Oberbehörde den Pfarrer während Jahren sein schmutziges Handwerk treiben ließ.“ So ähnlich hatten sich auch besorgte Eltern in einem Brief an die Gemeindeleitung geäußert. Warum hatte der Doktor damals nicht gleich die Polizei informiert? Ney überlegt und sagt dann: „Sie wissen doch, wie das ist: der hätte als Landdoktor alle Kunden verloren“.
Auch wer keine unmittelbaren Konsequenzen zu befürchten hatte, muckste sich nicht. Als sich im Zuge der Ermittlungen der Verdacht gegen den Pfarrer erhärtete, kippte die Stimmung im Dorf gegen die Metzgerfamilie, die den Stein erst ins Rollen gebracht hatte. „Wir wurden als Kommunisten beschimpft“, erinnert sich Ney. Stammkunden, die vorher noch Wurst und Fleisch in der Metzgerei kauften, kamen plötzlich nicht mehr. „Das waren erzkatholische Bauern, für sie war der Pastor ‚Eisen Här‘. Da brach eine Welt zusammen“, sagt Ney ruhig und ohne Groll.
Zu jener Zeit war der Pfarrer aus dem Dorfleben nicht wegzudenken. Er taufte die Kinder, begrub die Toten, erteilte Ratschläge zur guten Erziehung, nahm die Beichte entgegen. Auch auf die Politik hatte er oft großen Einfluss: Die Bevölkerung auf dem Land war meist konservativer als in der Stadt; wer hier eine politische Karriere anstrebte, tat gut daran, sich als eifrigen gläubigen Kirchgänger darzustellen. Der Pastor und der Lehrer waren zudem oft die einzigen, die studiert hatten und einigermaßen Französisch schreiben konnten. Viele ließen ihre Amtspost deshalb vom Pfarrer erledigen. Als Dankeschön gab es dann Brot, Wurst und andere Leckereien. Kein Wunder also, wenn viele lieber den Überbringer der schlechten Nachricht bestraften, indem sie ihn des Kirchenhasses und des Kommunismus bezichtigten, als die mächtige Kirche zu kritisieren.
Das entsprach dem Zeitgeist: Als die kommunistische Zeitung den Fall am 26. Oktober 1964 unter der Überschrift „Sittenskandal in Biwer“ aufgriff und behauptete, die polizeilichen Ermittlungen hätten „bereits eindeutig die schwere Schuld des Geistlichen ergeben“, warf das Luxemburger Wort dem Autor prompt „Privatjustiz“ vor. Ein beschuldigter Geistlicher sei noch kein schuldiger Geistlicher. Der Pfarrer stehe zudem „an der Grenzscheide zwischen Tod und Leben“, nahm Autor Abbé Heiderscheid den Täter gegen die „kommunistische Behauptung“ in Schutz, ohne seinerseits seine Behauptung abzusichern: Als herauskam, dass der Geistliche die angebliche Herzkrankheit nur vorgetäuscht hatte, um in einer von Nonnen geleiteten Klinik Unterschlupf zu finden und sich so dem polizeilichen Zugriff zu entziehen, und sich als Fluchthelfer Zeugenberichten zufolge offenbar ausgerechnet zwei Kirchenvorsteher aus Grevenmacher und Betzdorf angedient hatten, war die ohnehin lädierte Glaubwürdigkeit der Kirchenführung und ihres Sprachrohrs dahin.
Nicht zum ersten Mal. Schon der Schriftsteller Michel Rodange hatte in seinem Renert von 1872 die unheilige Allianz von Presse und Kirche aufs Korn genommen und der einseitigen Parteinahme des Luxemburger Wort für den des Missbrauchs überführten pädophilen PfarrersPierre Frieden aus Marnach einen Reim gewidmet: „Drop huet fir mech mäi Komper/séng Zeitonk vull geluen./En hätt, mortjën, mam Schwieren/ all Riichter bal bedruen.“
Ob der damalige Erzbischof Léon Lommel über den 1974 verstorbenen pädophilen Pastor Fonck aus Biwer im Bilde war, darüber steht in den Presseberichten nichts, und das dürfte auch schwierig zu klären sein, die Taten liegen mittlerweile über 30 Jahre zurück. Aufklärung könnte vielleicht das Gericht schaffen, doch ein Antrag des Land, die Ermittlungsakten oder das Urteil einzusehen kraft dessen der schließlich geständige Pfarrer zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, blieb ohne Erfolg: Die Akten seien nicht mehr auffindbar, so das Gericht.
Seitdem die Luxemburger katholische Kirche eine Anlaufstelle für Missbrauchsopfer angekündigt hat, um alte – und neue – Missbrauchsfälle aufzuklären und um nicht in den Verdacht der Vertuschung zu geraten, hat auch das Wort seine Politik geändert: Den Leserbrief eines Mannes, der angibt, in den 60-er und 70-er Jahren von Schulbrüdern im Jungeninternat „Jean Baptiste de la Salle“ bei Bettingen-Mess misshandelt worden zu sein, druckte die Zeitung in voller Länge auf ihren Lokalseiten ab und leitete ihn, „auf ausdrücklichen Wunsch des Erzbistums“ an die Staatsanwaltschaft weiter. Ein Novum. Für Pierre Ney kommt die neue Offenheit aber viel zu spät. „Ich habe mein Glauben in die Kirche verloren“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Mit dem Verein will ich nichts mehr zu tun haben.“