Explosion der Börsenbarometer: auf eine Aktie kommen über 70 Aktienindizes

Viel mehr Maße als Stäbe

d'Lëtzebuerger Land du 22.06.2018

Die neumodische Marotte, Geld aus überteuerten aktiv verwalteten Anlagefonds abzuziehen und stattdessen lieber in weniger gebührenträchtige Indexfonds zu stecken, sei „für die Gesellschaft schlechter als Marxismus“, härmte schon vor zwei Jahren die New Yorker Analysefirma Bernstein. Die Machtkonzentration bei einer Handvoll ETF-Anbietern, allen voran Black Rock, verzerre den Markt, ersticke den Wettbewerb, ja untergrabe das ganze kapitalistische System. In diesem Zusammenhang sei eine „absurde Überfülle“ von Indizes zu beklagen: „Amüsiert und verzweifelt beobachten wir, wie die Leute neue Wege finden, die immer gleichen Aktien in Listen neu zu arrangieren.“

Wie viele Kennzahlen mittlerweile tatsächlich angeboten werden, zeigt eine Studie, die im Januar 2018 von der Index Industry Association (IIA) veröffentlicht wurde: Zum Stichtag am 30. Juni 2017 hatten die IIA-Mitglieder sage und schreibe 3,288 Millionen Indizes gemeldet. Auf Rohstoffe und Fremdwährungen beziehen sich davon zusammengenommen weniger als ein Prozent. Die allermeisten, über 95 Prozent, sind Aktienindizes: 3,14 Millionen. Dagegen zählt die Weltbank derzeit weltweit nur 43 039 Aktiengesellschaften, die an Börsen gehandelt werden. Lediglich rund 3 000 Aktien gelten als „hoch liquide“.

Die IIA wurde 2012 gegründet und hat ihren Sitz in New York. Sie vereint 14 große Index-Anbieter. Dazu gehört das Unternehmen S&P Dow Jones Indices, dessen Vorläufer anno 1896 mit dem „Dow Jones Industrial Average“ den allerersten Börsenindex kreierten. Weitere Mitglieder sind beispielsweise FTSE Russell, STOXX und MSCI; zuletzt trat Hang Seng Indexes bei. Nach eigener Einschätzung repräsentiert die IIA damit 98 Prozent aller Indizes weltweit. Nicht dabei ist zum Beispiel der DAX, der seit 30 Jahren von der Deutschen Börse berechnet wird. Insgesamt gibt es demzufolge also sogar noch mehr Indizes: rund 3,35 Millionen.

Oft handelt es sich dabei wohl nur um Unterindizes mit geringfügigen Variationen, etwa wenn einzelne Länder, Branchen oder gar bloß einzelne Aktien ausgeschlossen oder beliebig neu kombiniert werden. Wird ein Index mal in Euro, mal in US-Dollar berechnet, wird das als zwei verschiedene Indizes gewertet. Der Trend ist trotzdem eindeutig. Im Jahr 2012 waren weltweit noch weniger als 1 000 Börsenbarometer gezählt worden. Dann wuchsen sie exponentiell, ab 2016 explodierte ihre Zahl geradezu. Die Eintrittsbarrieren sind gering: Ein Index lässt sich ohne großen Aufwand schaffen und verwalten, sobald die nötigen Computersysteme einmal eingerichtet sind.

Von den Werten, die den Indizes zugrunde liegen, lässt sich das nicht behaupten. In den USA zum Beispiel schrumpfte die Zahl der börsennotierten Unternehmen von 8 090 im Jahr 1996, dem bisherigen Rekord, auf gerade noch 4 336 Ende 2017. Gleichzeitig wuchs dort die Zahl der Aktienfonds auf 4 234, inklusive ETFs. Neue Firmen an die Börse zu bringen, scheint keine Priorität für die Wall Street zu sein: Im vergangenen Jahr gab es bloß 160 Initial Public Offerings, aber 275 neue ETFs.

„Das ist das erste Mal, dass jemand versucht hat, das gesamte Index-Universum zu quantifizieren, und die Ergebnisse sind wirklich aufschlussreich“, sagte stolz Rick Redding, der IIA-Chef, als er den Report vorstellte. Die Studie soll künftig jedes Jahr wiederholt und aktualisiert werden. Die verwalteten Vermögen (AUM), die mit den diversen Indizes verbunden sind, werden dabei nicht betrachtet, weil die Index-Anbieter „keinen vollständigen Zugang zu diesen Daten haben“.

Während US-Aktien rund die Hälfte des weltweiten Aktienmarkts ausmachen, beziehen sich darauf nur neun Prozent der Aktienindizes. Dagegen betrachten 29 Prozent aller Indizes die ganze Welt. Auf Asien-Pazifik und Europa-Mittelmeerraum entfallen jeweils rund 24 Prozent, auf Schwellenländer 14 Prozent. „Die geographische Verteilung der Aktienindizes mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen“, findet Redding. „Wenn man aber an die Zahl der Industrien und Branchen in jedem einzelnen Land rund um die Erde denkt, macht es Sinn, dass Europa und Asien größere Anteile an der Index-Landschaft haben.“

Anders sieht es bei Rentenindizes aus: Da entfallen auf Amerika rund 33 Prozent, Europa und Mittelmeer-Anrainer 29 Prozent, Asien-Pazifik 14 Prozent und Emerging Markets 0,5 Prozent. Das leuchtet Redding ebenfalls ein: „Themen wie Marktstruktur, Steuerstatus und Umfang des Verbriefungsmarktes haben in Amerika eine viel größere Nachfrage nach Indizes für Staatsanleihen, Composites, Hochzinsanleihen und Verbriefungen geschaffen.“

Trotz des Rummels um Nachhaltigkeit, ethisches Investieren und Smart-Beta-Strategien erreichen die entsprechenden Indizes bislang zusammen nur weniger als sechs Prozent des gesamten Marktes. „Es besteht ein viel größeres Interesse an traditionellen Indizes zur Marktkapitalisierung“, sagt Redding. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Industrie- und branchenspezifische Indizes die häufigsten sind.“ Auf einzelne Industrie-Sektoren beziehen sich demnach 42,7 Prozent. Den ganzen Markt betrachten 14,8 Prozent, große Unternehmen 10,8 Prozent – dagegen nur 5,6 Prozent Smart-Beta (für Investments nach bestimmten Regeln, etwa zu Volatilität oder Dividenden) und 0,3 Prozent ESG (ethische Vorgaben).

Der Verdacht liegt nahe, dass die Expansion des Index-Universums mit dem Aufschwung börsennotierter Indexfonds zusammenhängt (ETF = exchange traded fund). „Passives“ Investieren hatte einen langwierigen Start: In den 1950er Jahren entwickelte Harry Markowitz eine Portfolio-Theorie, in den 1960ern William Sharpe ein Preismodell für Kapitalgüter – auf dieser Grundlage boten Wells Fargo und American National Bank ab 1973 erste Indexfonds für institutionelle Investoren an. Ein erster Versuch, „Index Participation Shares“ für den S&P 500 auf den Markt zu bringen, wurde im Jahr 1989 von einem Gericht in Chicago gestoppt. Vor 25 Jahren ging dann am 22. Januar 1993 der erste ETF im heutigen Sinn an den Start: der „SPDR S&5 500 ETF“ von State Street. (Dieser „Spider“ oder kurz SPY genannte Fonds kostet pro Jahr 0,09 Prozent Gebühren und ist heute mit einem Volumen von mehr als 266 Milliarden Dollar der größte am US-Markt.)

Mittlerweile sind von den zehn meistgehandelten Wertpapieren in den USA sieben ETFs. Nach Zahlen von Morningstar verwalten ETFs in den USA bereits 3,4 Billionen Dollar, in Europa immerhin 670 Milliarden Euro. Bernstein schätzt, dass weltweit rund 40 Prozent der verwalteten Vermögen (AUM) in passiven Fonds stecken, in Japan sogar 73 Prozent. Laut Bloomberg wurden im vergangenen Jahr 692 Milliarden US-Dollar in passive Fonds und ETFs neu investiert, dagegen 45 Milliarden Dollar aus aktiven Fonds abgezogen. Offensichtlich finden immer mehr Kunden, sie könnten sich aktive Manager sparen und einfacher oder zumindest preiswerter in einen ganzen Index investieren. Also Aktien nicht von Fonds-Verwaltern, sondern lieber von Index-Verwaltern auswählen lassen.

Rick Redding von der IIA weist allerdings darauf hin, dass es derzeit weltweit lediglich rund 5 300 ETFs gibt. Dafür bräuchte man wohl kaum drei Millionen Börsenbarometer. „Unsere Ergebnisse zeigen ganz klar, dass Benchmarking die Hauptanwendung für Indizes ist. Vermögensverwalter und Investoren wollen Auswahl, wenn sie eine Benchmark suchen, die am besten ihr Portfolio und den zugrundeliegenden Markt repräsentiert.“ In Wirklichkeit sind es wohl vor allem die Vermögensverwalter und Fondsmanager. Wer seine Gebühren mit „outperformance“ im Vergleich zu einem Index rechtfertigen muss, könnte jedenfalls besonders motiviert sein, sich eine dafür geeignete Messlatte zu suchen. Oder gleich selbst einen passenden Index zu basteln.

Wobei die Unterscheidung von „aktiv“ und „passiv“ ohnehin so eine Sache ist. Zum einen werden aktive Investmentstrategien, etwa die Auswahl von Dividenden-Aristokraten, zunehmend in Indizes umverpackt. Zum anderen soll es vorkommen, dass Fondsverwalter selbst bloß an irgendwelchen Indizes kleben, sich aber für aktives Management bezahlen lassen. Die europäische Finanzaufsicht ESMA fand 2016 bei einer Stichprobe von 2 600 UCITS-Fonds, dass bei fünf bis 15 Prozent der Verdacht von „closet indexing“, beziehungsweise „index hugging“ bestehe. Da die ESMA keine Namen von Index-Schmusern veröffentlichte, wiederholte der Anleger-Verband Better Finance diese Studie – und prangerte dann 165 Aktien-UCITS an, zum Beispiel von Amundi, Deka, Henderson und Schroder. Bislang wurden Fondsmanager aber nur in Großbritannien und den Niederlanden zur Rückzahlung von Gebühren verpflichtet. Im November 2017 kündigte der ESMA-Vorsitzende Steven Maijoor an, die Aufseher würden weitere Daten zu „closet indexing“ sammeln, weil überhöhte Kosten die Verbraucher schädigen.

Wie dem auch sei, der moderne Mensch kann jedenfalls ohne Börsenindizes nicht leben. Viele davon seien überflüssig und würden in Wirklichkeit überhaupt nicht genutzt, maulen Analysten von Bernstein. Wenn es sehr viel mehr Körbe als Eier gebe, würden die Leute ein derartiges Klassifikationssystem nicht mehr als nützlich wahrnehmen – und es bald wieder aufgeben. In den letzten 35 Jahren habe man wegen einer allgemeinen „außerordentlichen Asset-Preisinflation“ gut passiv investieren können. In der Krise werde die aktive Auswahl von Assets aber wieder bedeutend, erwarten, beziehungsweise hoffen sie: „Geringe Erlöse werden passives Investieren als Mythos entlarven.“

„Aktiv oder Passiv bedeutet nicht mehr so viel wie früher. Nicht jeder Index ist eine gute Idee, auch nicht jeder Index-Fonds“, räumt IIA-Chef Redding ein: „Was zählt, ist, was in die Konstruktion eines Index alles eingeflossen ist und wie gut das in einem Investmentprodukt auf den Markt gebracht werden kann. Investoren müssen wissen, dass Indexieren allein keine Garantie für gute Ergebnisse ist.“

Die IIA hat zu ihrer Studie eine ausführliche Pressemitteilung veröffentlicht: 
www.indexindustry.org

Martin Ebner
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