Sie war ein kleines Highlight in der Powerpoint-Diashow gewesen, die vergangenen Freitag der Unternehmerverband UEL in seiner Konferenz über die Pensionsreform zeigte: die Aussicht auf den Sieben-Millionen-Beschäftigten-Staat. So viele Beitragszahler in die Rentenkasse müsste es um die Jahrhundertwende geben, falls man „nichts macht“ und darauf vertraut, dass der Arbeitsplatzzuwachs Jahr für Jahr im Schnitt 3,4 Prozent beträgt wie in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten.
Prophetische Kaffeesatzleserei ist das nicht unbedingt. Achtzig Jahre nach vorn zu schauen etwa, schließt zwei Beitragskarrieren zu vierzig Jahren ein. Würde man neuen Generationen von Berufstätigen dasselbe Rentenversprechen machen wie den derzeit knapp 360 000 Aktiven und die Beitragssätze auf der aktuellen Höhe halten wollen, müssten halt immer mehr Jobs geschaffen werden, um neu entstehende Rentenansprüche zu finanzieren. 2050 müsste es um die 1,3 Millionen Beitragszahler geben, und um deren Renten zu garantieren, über sieben Millionen Aktive 50 Jahre danach.
Aber die Ansicht, dass das heimische Pensionssystem eigentlich kein Problem habe, wird auch von den Gewerkschaften weniger offensiv vertreten als noch Anfang 2010, als die Salariatskammer in einer Studie meinte, so absurd sei die Vorstellung von anderthalb Millionen Aktiven um die Jahrhundertmitte gar nicht. Mittlerweile räumen sie ein, dass „unser System vielleicht ein Problem hat“ (d’Land, 31.3.2011).
Beim aktuellen Diskussionsstand zur Pensionsreform dienen demografische Exponentialfunktionen vor allem der Arbeitgeberseite als Illustration für den Vorwurf, die Regierung gehe mit ihren bisherigen Reformplänen nicht weit genug. Und so war die UEL-Konferenz am vergangenen Freitag in der Handelskammer auch ein wenig Saalkundgebung.
Kommende Woche werden gleich vier Regierungsmitglieder mit Gewerkschaften und Unternehmern über die Pensionsreform debattieren – der Sozialminister und der Arbeitsminister, der Minister der Finanzen und der Minister für den öffentlichen Dienst. Am Montag trifft man sich mit den drei großen Gewerkschaften OGBL, LCGB und CGFP und am Mittwoch mit der Union des entreprises.
Doch dass die Regierung eine Pensionsreform will, die UEL mehr davon will und die Gewerkschaften anerkennen, dass vielleicht ein Problem besteht, sind der Unterschiede genug: Dass die „Leitlinien“ zur Reform, die der Sozialminister und der Finanzminister im März publik gemacht hatten, eine Art Vorschlag zur Güte enthalten, griffen die Sozialpartner bisher nicht auf.
Interne Simulationen der IGSS, der Generalinspektion der Sozialversicherung, gehen davon aus, dass im Jahr 2022 die Beitragseinnahmen der Pensionskasse nicht mehr ausreichen könnten, um die laufenden Ausgaben zu decken. Der Vorschlag zur Güte sieht vor, alle möglichen Beteiligten etwas zu belasten, damit die Pensionsreserve möglichst lange nicht angetastet werden muss: die Unternehmer, die Berufstätigen, den Staatshaushalt, aber auch die Rentner. Unternehmer und Staatskasse müssten höhere Beiträge hinnehmen.
Die Berufstätigen ein kleineres Nettoeinkommen aufgrund höherer Beiträge, sowie die Aussicht auf eine spätere „Pension à la carte“, in der nach 40 Beitragsjahren eine Rentenkürzung um bis zu 15 Prozent droht oder noch drei Jahre gearbeitet werden müssen. Den Rentnern schließlich würde die alle zwei Jahre fällige Rentenanpassung an die Reallohnentwicklung „moduliert“.
Ein Rechenbeispiel der Regierung sieht so aus: Um den um ihre Lohnnebenkosten besorgten Unternehmern entgegenzukommen, würden die Beiträge nicht vor 2022 erhöht, dann aber von derzeit acht auf zehn Prozent der Bruttolohnmasse. Um die Rentner zu schonen, würde ebenfalls nicht vor 2022 am Ajustement gedreht, dann aber würde dieses um 50 Prozent gekürzt. Betrüge der Beschäftigungszuwachs langfristig 1,5 Prozent im Jahr und wirkte 2022 überdies die „Pension à la carte“ schon ein paar Jahre, so reichte das, damit im Jahr 2050 in der Rentenkasse noch eine Reserve in der gesetzlichen Mindesthöhe von anderthalb Jahresausgaben besteht.
Doch gegenüber solchen Szenarien tun sich nicht nur die bekannten gegensätzlichen Positionen der Sozialpartner auf: die der Gewerkschaften, die jede Ausgabenkürzung zum aktuellen Zeitpunkt ablehnen, und die der UEL, für die eine Reform in erster Linie dort ansetzen müsste, und zwar so schnell wie möglich. Wozu vergangenen Freitag der Unternehmerverband erneut einen ganzen Katalog möglicher Maßnahnen präsentierte – von der Abschaffung oder Kürzung der Rentenanpassung über allgemeine Leistungssenkungen anhand eines Nachhaltigkeitsfaktors bis hin zur Absenkung der Beitragsbemessungsgrenze auf den vierfachen Mindestlohn. Dagegen seien selbst „marginale“ Beitragserhöhungen ein „systemisches“ Standortrisiko für Luxemburg mit seinen zurzeit noch geringen Lohnnebenkosten. Hinzu kommt nun eine Diskussion um Beschäftigungspolitik und Arbeitsrecht, die OGBL, LCGB und CGFP möglichst konkret geführt haben wollen.
Die drei Gewerkschaften, die zur Pensionsreform in einer „Plattform“ zusammengeschlossen sind, treten in einer Note de réflexion an die Regierung in erster Linie für beschäftigungspolitische Reformen „entlang der Zeitschiene“ ein, um ältere Arbeitnehmer länger im Erwerbsleben zu halten. Nicht nur Modelle zum gleitenden Übergang aus dem Erwerbsleben in die Rente, wie sie die UEL ebenfalls wünscht, müssten her. Die Gewerkschaften verlangen daneben einen spezifischen gesetzlichen Kündigungsschutz für Ältere oder Quoten für die Beschäftigung über 45-Jähriger. Ergänzt werden solle das durch gezielte Weiterbildungsmaßnahmen für Ältere sowie Verbesserungen im Unfall- und Gesundheitsschutz. Dazu Pläne zu erlassen, sollte auf Branchenebene, aber auch in den Betrieben selbst obligatorisch werden; jedenfalls sofern diese eine gewisse Größe überschreiten.
Die Probleme, die zum Beispiel bei der Vermittlung älterer Arbeitsloser bestehen (siehe nebenstehenden Text), geben solchen Überlegungen Recht. Dass die UEL sich darauf einlassen könnte, derartige Maßnahmen obligatorisch zu machen, ist allerdings wenig wahrscheinlich: Selbstverständlich werde man mitarbeiten, um die Beschäftigungsquote Älterer zu erhöhen, erklärte UEL-Präsident Michel Wurth vergangenen Freitag. Doch für die Betriebe müsse das „freiwillig“ bleiben.
Während völlig offen ist, wie dieser zweite Konflikt – um Beschäftigungspolitik und Arbeitsrecht – ausgeht, hat die Gewerkschaftsplattform ihre Position in einer weiteren Hinsicht angepasst: Für Beitragserhöhungen hatten sie bisher plädiert, falls die Ausgaben der Rentenkasse die Einnahmen übersteigen sollten. In ihrer Note de réflexion bringen OGBL,LCGB und CGFP als Alternative nach vorn, den Beitragssatz zur Pflegeversicherung zu erhöhen und den Erlös in die Rentenkasse umzuleiten.
Verhandlungspolitisch ist das ein subtiler Schritt, denn die Pflegeversicherung finanzieren die Arbeitgeber nicht mit. Zur Berechnung der Beiträge gibt es keine Einkommensgrenze, und es werden überdies auch Einkünfte aus Vermietung und Kapital herangezogen. Gegenüber der UEL halten die Gewerkschaften diese Option offenbar für politikfähiger als eine allgemeine Erhöhung der Rentenkassenbeiträge.
Eine Frage ist allerdings nicht nur die, wie stark diese alternative Einnahmequelle strapaziert werden kann, wenn nächstes Jahr eine Reform der Pflegeversicherung in Angriff genommen werden soll, die vielleicht auch einen finanziellen Aspekt erhält. Schwer fallen dürfte auch, die Auswirkungen beschäftigungspolitischer Maßnahmen auf das Pensionssystem, selbst wenn sie obligatorisch wären, zu beziffern, damit sich begründen ließe, auf Leistungskürzungen erst einmal zu verzichten.
Damit befindet die Regierung sich zwischen Baum und Borke: Folgte sie den Gewerkschaften, würde sie einwilligen, dem Pensionssystem Zeit zu kaufen. Doch immerhin repräsnetieren die Gewerkschaften vermutlich eine Mehrheit der Wähler von Schwarz-Rot, und die Pensionsreform wird auch für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst gelten, die nicht unter das Übergangsregime fallen.
Auf der anderen Seite stehen nicht nur die heimischen Unternehmer, die sich ein Zeichen erwarten, sondern auch die Euro-Finanzminister, die diese Woche auf eine Pensionsreform in Luxemburg drängten. Gut möglich, dass die Regierung nächste Woche beschließt, das Thema bis nach den Gemeindewahlen erst einmal auf kleinem Profil zu halten, und bekannt gibt, man gönne sich eine Denkpause.