Familie E. ist wieder zuhause. Ihr Zuhause ist ein kleines Bergdorf im Süden Serbiens, aus dem sie im Sommer 1998 geflüchtet war. Damals ging die jugoslawische Armee im benachbarten Kosovo gegen albanische Separatisten vor und nutzte dies auch zu Gewaltakten gegen die albanische Zivilbevölkerung. Herr E. hatte ein Einberufungsschreiben für den Einsatz im Kosovo erhalten. Ein Schleuser aus Ljubljana versprach, die Familie in die Niederlande zu bringen, doch in Luxemburg war die Reise zu Ende. Am 24. Juli 1998 beantragte Familie E. in Luxemburg Asyl.
Am 29. August 2001 morgens um acht Uhr erschienen an der Wohnung von Familie E. in Niederanven fünf Polizisten. Familie E. wurde aufgefordert mitzukommen. Mit dem Polizeiauto ging es zum Findel, wo Familie E. direkt zu dem eigens für sie bereitgestellten Flugzeug gebracht wurde. Begleitet wurden sie von drei Polizisten und einem Übersetzer.
Mit an Bord waren außerdem zwei junge Männer aus dem südlichen Serbien, die offensichtlich ebenfalls zurückgeführt wurden, wie es in der Amtssprache heißt. In Belgrad verabschiedeten sich die Polizisten. Frau E. meint, sie hätten sichtlich Angst gehabt. Für ihre Weiterreise erhielt Familie E. 1000 DM.
"Sie hatten Tränen in den Augen, als sie hier ankamen", sagt mir eine alte Frau, als ich das Wohnzimmer betrete. Und als ob ihre Worte nicht ausreichen würden, zeichnet sie mit ihren braungebrannten und von der Arbeit gekrümmten Fingern den Lauf der Tränen in ihrem Gesicht nach.
Frau E. kann nicht langsam reden. Sie ist zu nervös. Frau E. erhebt Vorwürfe: "Sie haben uns alles zerstört. Unsere Kinder haben sie zerstört. Sie haben sich uns gegenüber verhalten, als ob wir halb Luxemburg umgebracht hätten." Und sie droht, Beschwerde zu erheben vor dem Haager Tribunal. Frau E. erzählt von den Polizisten. Als einzige Erklärung hätten sie gesagt: "Ihr müsst jetzt gehen."
Sie habe keine Zeit zum Packen gehabt. Sie habe auch nicht richtig packen können, da sie unter Schock gestanden habe. Sie habe sich eine Woche Zeit erbeten, doch diese Bitte sei ihr abgeschlagen worden. Keinen Schritt habe sie mehr in ihrer Wohnung alleine machen können. Als ihre zehnjährige Tochter die Toilette aufsuchen wollte, habe ein Polizist sie begleitet, um sie zu bewachen. "Ich weiß nicht, was meine Tochter gedacht hat.", sagt Frau E.. Die Polizisten hätten Pistolen mit sich getragen.
Herr E., der ansonsten meist schweigt, wirft ein: "Ich habe mich als Mann gefürchtet. Ich weiß nicht, wie die Kinder das erlebt haben." Frau E. sorgt sich vor allem um ihre jüngste Tochter. Seit die Polizisten da waren, spricht das Kind nicht mehr, sondern gibt nur noch unverständliche Laute von sich.
R. könnte irgendein Dorf im Sandjak sein, der Region, die sich zu beiden Seiten der Grenze zwischen Serbien und Montenegro erstreckt. Ein paar Häuser sind über satte grüne Wiesen versprengt. Hühner picken im Gras nach Insekten. Ein paar Ziegen kauen auf Grashalmen herum. Zweihundert Familien hätten einmal hier gelebt. Arbeit habe es nie gegeben. Die Männer, so auch Herr E., hätten in Belgrad oder in den anderen Teilen Jugoslawiens gearbeitet und seien nur alle paar Wochen zu ihren Familien rückgekehrt.
Zu Beginn der Neunzigerjahre, als die jugoslawische Volksarmee in Bosnien gegen Moslems und Kroaten vorging, seien die Menschen aus R. geflüchtet. Die Flucht mehrerer zehntausend Angehörigen der moslemischen Minderheit aus dieser Region vor den Repressalien der jugoslawischen Truppen wurde vom UN-Flüchtlingswerk dokumentiert. Die Eskalation des Kosovokonflikts 1998 löste eine neue Fluchtwelle aus. Heute würden nur noch ein paar Alte in R. leben, erzählt man mir. Jemand deutet auf die alte Frau. Ihre vier Kinder würden heute in Deutschland leben. Sie sei alleine. Die Alte lächelt hilflos und leicht verlegen.
Familie E. ist vorübergehend bei Verwandten untergekommen. Das Haus befindet sich noch im Rohbau, doch auf meine Nachfrage hin entgegnet man mir, es sei fertig. Frau E. entschuldigt sich immer wieder, dass sie nicht mehr anbieten könne. Sie habe nichts. Trotzdem werden Kaffee, Saft und Limonade gebracht. Und ich soll doch wenigstens ein Stück Kuchen probieren, wenn ich schon nicht zum Essen bleiben wolle.
Frau E. versteht die luxemburgische Politik nicht: "Wegen 24 Tagen haben wir keine Papiere bekommen." Tatsächlich hat die Familie die für die Regularisierung gesetzte Frist nur knapp überschritten (siehe d'Land vom 31.08.01). Frau E. versteht auch nicht, wieso die luxemburgischen Behörden nicht gewartet haben, bis ihr Einreiseantrag nach Australien entschieden worden sei. Frau E. zeigt mir ein Schreiben einer islamischen Hilfsorganisation, die Bosniaken, wie sich die Angehörigen der moslemischen Minderheit aus dem Sandjak nennen, bei der Einreise nach Australien unterstützt.
Ich will wissen, ob der dreizehnjährige Sohn Freunde in Luxemburg hatte, und ob seine MitschülerInnen wussten, dass er möglicherweise eines Tages gehen müsse. Er antwortet in einem ganz passablen Deutsch. Nein, die anderen Kinder hätten es nicht gewusst. Als ich erfahre, dass A. in Luxemburg die dritte Klasse besuchte, verstehe ich, dass seine MitschülerInnen nicht wissen konnten, welches Schicksal auf dem zurückhaltend wirkenden Jungen lastete. A. meint, auch seine Lehrer hätten es nicht gewusst, doch sie wüssten es jetzt wahrscheinlich.
Ich frage ihn, was ich seine Eltern nicht zu fragen wage, ob er Pläne habe. Er sagt, er wisse es nicht. Nach drei Jahren Abwesenheit kenne er die anderen Kinder hier nicht so gut, und mit der Schule würde es wohl schwierig werden. Die Eltern ergänzen, ihr Sohn spreche inzwischen besser Deutsch als Serbokroatisch. Und er könne keine kyrillischen Buchstaben lesen. Daher würde seine Einschulung hier vermutlich ernsthafte Probleme bereiten.
Das Gespräch ist längst kein Gespräch mehr, sondern vielmehr ein sich stets wiederholender Reim. Die Eltern kommen immer wieder auf die Situation der Kinder zu sprechen. Die Kinder seien bestraft worden, meint Frau E.. Sie seien erstarrt, als die Polizisten erschienen seien. Ganz bleich seien sie gewesen. Auch Frau E. nimmt ihre Hände zur Hilfe, um mir den Gesichtsausdruck ihrer Kinder beim Erscheinen der Polizisten zu verdeutlichen.
Frau E. fragt immer wieder, ob sie wieder nach Luxemburg zurückkehren könnten. Ob ihr Anwalt etwas für sie ausrichten könne, und ob sie ansonsten eine Chance hätten, in ein anderes Land auszureisen. Frau E. will, dass ich über ihr Schicksal schreibe. Am liebsten würde sie der Weltpresse berichten, welches Unrecht ihrer Familie widerfahren ist. Nur die Medien ihres Land sollten nichts erfahren. Frau E. hat Angst.
Als ich weggehe, sitzen Familie E. und ihre Verwandten wieder im Halbkreis in der Wiese vor dem Haus. Jugendliche fahren auf einem Motorrad herum. Von der gegenüberliegenden Straßenseite sehe ich, wie sich die Familie unterhält. Immer wieder fällt das Wort "Luxemburg". Wahrscheinlich suchen sie weiter nach einer Erklärung für die Politik der luxemburgischen Regierung.
Der gleiche Bus, der mich drei Stunden zuvor nach R. gebracht hatte, holt mich wieder ab. Wie mich die Familie empfangen habe, will der Fahrkartenverkäufer wissen. "Gut," antworte ich. Und füge instinktiv, ohne weiteres Nachdenken hinzu: "Wissen Sie, Sie müssen verstehen, dass es schwer für sie ist. Sie wurden von der luxemburgischen Regierung zurückgeschickt." Ich glaube, die Familie gegenüber etwaigen Verdächtigungen in Schutz nehmen zu müssen. Mangelnde Gastfreundschaft ist in dieser Gegend ein Makel, welchen sich niemand zu Schulden kommen lassen darf. Unter keinen Umständen.