„Wir müssen an die Menschen in der Türkei denken. Viele setzen ihre Hoffnungen in die Europäische Union“, sagte Jean Asselborn (LSAP) am Dienstag. So begründete er, warum die EU die Beitrittsverhandlungen nicht abbrechen wird. Es sei wichtig, eine europäische Perspektive für die Türkei zu erhalten. Dabei gehe es ihm nicht um das Flüchtlingsabkommen, beteuerte Europas dienstältester Außenminister.
Auf ein Mal? In der Türkei fragen sich Demokratiefreunde enttäuscht, warum die EU nicht schon viel früher, vor dem Putsch und vor dem Flüchtlingsabkommen, das den Zustrom zehntausender Flüchtlinge in die EU beendete, stärker auf die Wahrung der Menschenrechte in der Türkei gepocht hat. Wo war die EU, als Tausende Türken auf die Straße gingen, um gegen ein Bauvorhaben auf dem Gelände des Gezi-Parks in Istanbul zu demonstrieren und von der Polizei brutal zusammengeknüppelt wurden? Wo waren die kritischen Stimmen aus Brüssel und anderen EU-Staaten, als Recep Tayyip Erdogan, damals Premierminister, unter dem Deckmantel des Anti-Terror-Einsatzes den Krieg gegen die Kurden wieder aufnahm und mit Cizre eine ganze Stadt in Schutt und Asche legte? Wo war die EU, als Ankara die größte oppositionelle Zeitung Zaman unter Aufsicht stellte und Erdogan persönlich gerichtlich gegen die Chefredakteure von Cumhuriyet vorging, weil die Zeitung es gewagt hatte, über Waffenlieferungen der Türkei an syrische Extremisten zu berichten? 48 kritische Journalisten wurden festgenommen, Dutzende TV-Sender, Radiostationen, Agenturen diese Woche geschlossen. Journalistenorganisationen in Europa warnen seit Monaten vor den autoritären anti-demokratischen Tendenzen Erdogans und seiner Gefolgsleute. Am Montag forderte Luc Caregari, Präsident des Syndicat des journalistes Luxembourg die Regierung auf, sich auf diplomatischem Wege für Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei einzusetzen.
Wo sind die Luxemburger Abgeordneten? Außer dem CSV-Abgeordneten Laurent Mosar, der Minister Asselborn schriftlich zum Einsatz diplomatischer Mittel fragt, bleiben sie erstaunlich ruhig. Sehen sie nicht, dass es sich bei den politischen „Säuberungen“ nicht um ein rechtsstaatliches, verhältnismäßiges Vorgehen gegen mutmaßliche Putschisten handelt, sondern um eine Generalattacke auf Andersdenkende, ein Riesen-Aufräumkommando, mit dem Staatspräsident Erdogan seine autokratische Führung ausbauen und seine Macht endgültig absichern will? Er tut es dies ohne Rücksicht auf Verluste, spielt dabei geschickt die einen gegen die anderen aus.
Umso wichtiger wäre eine EU, die sich von Drohgebärden nicht einschüchtern lässt, die Menschenrechtsverletzungen benennt und besonnen, aber unmissverständlich Grenzen aufzeigt. Sie könnte dies viel nachdrücklicher als bisher tun, denn die EU ist für die Türkei ein wichtiger Handelspartner. Es ist im Wesentlichen der Zollunion zu verdanken, dass die Türkei in den vergangenen Jahren so prosperieren konnte. Das erklärt, warum Erdogan derzeit in Richtung Moskau schielt: Er will sich Luft verschaffen, auf die Gefahr hin, Bündnispartner zu verprellen.
Dass Brüssel nach dem Putschversuch so tut, als wäre alles Business as usual, hat weniger mit Solidarität mit den Menschen in der Türkei zu tun, sondern damit, dass das Land am Bosporus geopolitisch außerordentlich wichtig für EU und Nato ist: Es ist das letzte Bollwerk gegen das Chaos in Syrien und dem Irak, vom türkichen Incirlik starten Kampfflieger für ihren Einsatz gegen den Islamischen Staat. Vor allem aber verteidigt die EU die Menschenrechte deshalb nicht energischer, weil sie eben nicht an erster Stelle stehen. Sonst hätte Brüssel schon viel früher an die Menschen in der Türkei gedacht und klar Stellung gegen Erdogans zunehmendem Größenwahn und seine Verachtung für den Rechtsstaat bezogen.