Eine Ausstellung im Neimënster zeigt, wie kreative Architektur die Situation der Wohnungslosen verbessern kann

3,6 Quatratmeter Privatfläche

d'Lëtzebuerger Land vom 06.12.2024

Noch bevor Corona die Obdachlosenzahlen weltweit in die Höhe schnellen ließ, hatten Daniel Talesniks Studenten an der Technischen Universität München sich im Rahmen eines Seminars mit der Frage beschäftigt, was Architektur zur Lösung der Wohnungslosigkeit beitragen kann. Acht Städte, Los Angeles – „Hauptstadt“ der Obdachlosen –, New York, San Francisco, Sao Paolo, Mumbai, Moskau, Shanghai und Tokio wurden dabei genauer untersucht. Städte, die man in Europa kennt, und die sich sowohl durch extremen Reichtum als auch durch extreme Armut auszeichnen.

Das Ergebnis war die Ausstellung Who’s next: Homelessness, Architecture and Cities, die 2022 erst am Architekturmuseum der TU München gezeigt wurde und derzeit auf Einladung der Hilfsorganisation Inter-Actions und dem Luxembourg Center for Architecture (Luca) in Neimënster zu Gast ist.

Über Litfaßsäulen im Innenhof der Abtei Neimënster entfaltet sich das Narrativ der Ausstellung in verschiedenen Rubriken: Terminologie, Grundstückspreise, Immobilienmarkt sowie rechtliche Aspekte von Wohnungslosigkeit in der jeweiligen Stadt. Ein Glossar erklärt Begriffe und Worte.

Der chilenische Architekt Daniel Talesnik scheut nicht vor der Bezeichnung „Enzyklopädie“ zurück. Man habe es dem Besucher bewusst nicht einfach machen wollen. „Wir fordern das Thema der Wohnungslosigkeit für die Architekten zurück. Um Verantwortung zu übernehmen, zusammen zu arbeiten und ein besseres Verständnis für Wohnungslose zu fördern.“

Ein Foto aus Moskau zeigt eine obdachlose Person in einer Bushaltestelle. Die Bank, auf der sie sitzt, ist durch mehrere Armlehnen unterteilt. Ein gutes Beispiel für sogenanntes „feindliches Design“ beziehungsweise „defensive Architektur“, wie man sie auch in Luxemburg, beispielsweise im Pescatore-Park begegnet. Städte wie London gehen noch weiter: Hier fügt man stellenweise Metallspitzen in den Boden ein, um zu verhindern, dass Obdachlose ihr Zelt dort aufschlagen.

An der gegenüberliegenden Innenhoffassade werden quantitative Angaben zu deutschen Städten wie Berlin, Hamburg, Essen und Düsseldorf sowie zu den lokalen Angeboten für Wohnungslose vorgestellt (das Tacheles in Berlin, das Hinz & Kunzt-Haus, das Hamburgs Straßenzeitung beherbergt). Die Bodenmarkierung in Form von 90 mal 200 Zentimeter großen Betten wurde beibehalten – in der hiesigen Wanteraktioun stehen die Betten kaum weiter entfernt voneinander als in der ehemaligen Münchener Bayernkaserne. Durchschnittlich ergeben sich daraus 3,6 Quatratmeter Privatfläche.

Zwar fällt die Ausgabe der Ausstellung im Neimënster etwas kleiner aus, sie wurde aber um einen Beitrag zu Luxemburg ergänzt, in dem unter anderem der kostenlose öffentliche Transport, das Pilotprojekt Couverture universelle de soins de santé und die Wanteraktioun im Besonderen erwähnt sind. Ein kurzer geschichtlicher Überblick benennt die Herausforderungen, denen Luxemburg sich gegenübersieht.

Für einen weiteren, teilweise in der Salle Michel Delvaux untergebrachten Teil der Ausstellung hat David Talesnik mit seinen Studenten 19 architektonische Fallstudien beziehungsweise Best-Practice- Beispiele auf ihren zukunftweisenden Anspruch sowie programmatische Charakteristika hin analysiert. Projekte die sich sowohl an Einzelpersonen als auch an Familien und Menschen mit besonderen Bedürfnissen richten. Denn eine Wohnung allein löst selten die Probleme von Wohnungslosen. Immer kommt es auch auf das betreuerische Angebot an. Dass dauerhaftes Wohnen dabei nicht abhängig gemacht werden soll von der Bereitschaft, eine Therapie zu beginnen, ist die ursprüngliche Idee hinter dem Housing-First Ansatz. Es gibt nun einmal nicht das eine Profil und die Gründe, weshalb Menschen obdachlos werden, sind vielfàltig: Mal ist eine Depression, mal eine Scheidung, mal Drogenkonsum, mal eine Persönlichkeitsstörung ausschlaggebend. Manchmal ist es all das zusammen. Dementsprechend gilt auch hier, dass es nur gerecht zugeht, wenn Menschen unterschiedlich behandelt werden. Und das ist kein Paradox.

Als vor fünf Jahren die Wanteraktioun (Wak) ihre neuen Räumlichkeiten auf Findel bezog, galt das Gebäude aufgrund der Verwendung von lokalem Buchenholz als Paradebeispiel für nachhaltiges Bauen in Luxemburg. Buchenholz gilt als besonders hart und widerstandsfähig. Hart und widerstandsfähig sollte man in Luxemburg auch als Wohnungsloser sein, denn Alternativen zu Notschlafstellen wie der Wak, die sich im Innern unwesentlich von vergleichbaren Vorgängerbauten aus dem 19. Jahrhundert unterscheidet, gibt es so gut wie keine. Dicht an dicht reiht sich Etagenbett an Etagenbett, Schicksal an Schicksal. Auch geografisch liegt die größte Nachtunterkunft des Landes weitab der Hauptstadt, gleich hinter dem berüchtigten Centre de rétention – versteckt vor der öffentlichen Wahrnehmung.

Es ist aber auch nicht Sinn und Zweck einer Wanteraktion auf den Einzelnen einzugehen – das verhindert schon alleine die saisonale Betriebsdauer von November bis April. Primär dient die Wak dazu, Menschen vor dem Kältetod zu bewahren (und ginge es nach DP-Familienminister Max Hahn, nur jene Menschen, die seit mindestens drei Monaten im Land leben). Die Wak ist Übergangslösung, aber auch Dauerprovisorium, denn ohne Wohnperspektive auf dem krisengebeutelten Luxemburger Immobilienmarkt ist sie im Winter immer noch die sicherste Anlaufstelle. Und so verhilft das Wetter jedes Jahr der Politik zum Sieg über die Bedürfnisse des Einzelnen.

Dass es auch anders geht, zeigt die Notschlafstelle Vinzi-Rast-mittendrin in Wien , die ausführlich und mit Modell in der Ausstellung im Neimënster vorgestellt wird. Hier können nicht nur Wohnungssuchende und Obdachlose, sondern auch Studierende dauerhaft zusammenwohnen. Die Initiative geht auf den Architekten Alexander Hagner zurück, dem es gelungen war, einen Investor zum Kauf des denkmalgeschützten Gebäudes zu überreden. Einzigartig in ihrem Konzept, beherbergt die Vinzi-Rast zudem ein Kaffee im Untergeschoss, wo die Bewohner auch noch Einkünfte erzielen können. Daneben gibt es eine Fahrradwerkstadt und ein Dachgeschoss, das für besondere Events vermietet wird. Die Betonung liegt auf Integration. Alexander Hagner hasst Projekte, deren architektonische Sprache die Menschen schon von vornherein trennt. In der Vinzi-Rast läuft der Kontext im Hintergrund ab. Besuchern dürfte also erst auf den zweiten Blick auffallen, dass es sich um ein soziales Projekt handelt.

Alain Linster, Mitbegründer des Lëtzebuerger Architektur Musee, lobt dieses Konzept, das „leicht zu verstehen“ sei und auch in Luxemburg Anwendung finden könnte. Aber auch ein britisches Projekt aus niedlichen Reihenhäusern mit roten Ziegelsteinfassaden hat es ihm angetan. Im Zuge des Jugoslawienkriegs plante das Büro Flammang-Linster in den 90-er Jahren ein Projekt für wohnungslose Geflüchtete in Bonneweg, das allerdings von der Stadt Luxemburg abgelehnt wurde.

Ein weiteres Modell, das weltweit Bekanntheitsgrad erlangt hat und auch prominent auf dem Ausstellungskatalog beworben wird, ist Michael Maltzans Star Apartments-Komplex in Skid Row, Los Angeles, das aufgrund seiner großen Obdachlosenbevölkerung (von denen Los Angeles immerhin 75 000 zählt) traurigen Bekanntheitsgrad erlangt hat. Wie ein Palast ragt die gewagte Containerkonstruktion stolz und hoffnungsvoll ins Stadtbild hinein, ergreift das architektonische Wort und macht so sich und seine schutzbedürftige Bevölkerung zu einem unübersehbaren Faktor der Stadt.

Vor anderthalb Jahren jedoch stand der gemeinnützige Skid Row Housing Trust wegen finanzieller Schwierigkeiten vor dem Bankrott. Die Stadtverwaltung ließ das Gebäude unter Zwangsverwaltung stellen. Vergangenen Herbst wurden 17 Sozialwohnungen an einen Investor verkauft. Die ersehnte Verbesserung blieb aus. Stattdessen spart der neue Vermieter seit kurzem Hausmeister und Sicherheitsdienst ein. Seitdem klagen die Bewohner über Schmutz, Müll und Unsicherheit. Mit der Wiederwahl Donald Trumps ist die Zukunft solcher Anlagen noch ein Stück weit ungewisser geworden. Nicht von ungefähr versteht Daniel Talesnik die Ausstellung dann auch als Appell an Europa, seine Wohlfahrtsstaaten nicht bloß zu verteidigen, sondern weiter auszubauen.

Frédéric Braun
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