Die luxemburgischen Parteien hielten sich im Vorfeld des Referendums vornehm zurück. Politische Beobachter stellten eine gewisse Lustlosigkeit fest und bemängelten, dass die Ja-Kampagne wohl zu spät und zu blutleer angefahren wurde. Auf der anderen Seite bildete sich unter der Leitung von Fred Keup aus Mamer die Plattform Nee2015. Nachdem die Entscheidung zum Referendum gefallen ist, behauptet ein zentraler Vorwurf, durch die Fragestellung zum Ausländerwahlrecht seien Land, Nation und Volk oder die Bevölkerung gespalten worden. Man erkennt eine Verhaltensweise, die man, einige Böswilligkeit vorausgesetzt, als eine Art Nationalkultur bezeichnen könnte: Besser gar nicht über das reden, was zu „Verdruss“ führen könnte.
Was in den Foren der sozialen Medien auffällt, ist der verbreitete offensichtliche Hass auf „Intellektuelle“, beziehungsweise die kategorische Ablehnung dieser Lebensform. Stil und des Inhalt vieler Posts sind irrational, emotional und wohl auch simplistisch. Stilisiert wird ein volkstümlich, bodenständig-ehrlicher Gegenpol zur wachsenden Komplexität der postmodernen Lebenswirklichkeit, die durch Universalismus, Anpassungsdruck, sich abschwächende Bindungen an Ethnie und Religion und vor allem durch Migration gekennzeichnet ist. Da vielfach eine Auseinandersetzung mit dem intellektuellen Gegenüber scheitert, wird dieser in die Nähe von Volksschädlingen gesetzt. So schreibt Keup: „… ist symptomatisch für die intellektuelle Arroganz einer gewissen Schicht von Leuten in Luxemburg. Diese Leute beanspruchen die Meinungshoheit und erklären uns die Welt.“
Was den Intellektuellen auszeichnet, ist seine Befähigung zum induktiv-deduktiven Denken. Eben dies erlaubt ihm die Erklärung der Welt. Wer das infrage stellt, will zurück in die Zeit des theokratischen Weltbildes, in die Zeit vor der Aufklärung und teilt ein geistiges Universum mit den Taliban. Geistige Heimat bietet auch die Deutsche Romantik des 18. und 19. Jahrhunderts, deren Ideen zu Volk, Kultur und Nation bewusst oder unbewusst viele Aussagen und Meinungen in der aktuellen Debatte zum Ausländer-/Einwohnerwahlrecht prägen. So muss Keup sich fragen lassen, ob er nicht Legitimationsbeschaffer und Steigbügelhalter für Ideen ist, die durch die Geschichte diskreditiert worden sind und sich im Laufe der Debatte wieder klammheimlich als vermeintlich legitim in den öffentlichen Diskurs eingeschlichen haben.
Ein gutes Beispiel für die Idee der vorpolitisch, das heißt ethnisch, beziehungsweise mystisch definierten Nation ist folgender Post: „… well e Lëtzebuerger ass net direkt e Lëtzebuerger jiddenfalls net vir mech. Ech sin Lëtzebuerger an daat duerch an duerch vir mech ass éen wou net hei opt Welt komm ass kée Lëtzebuerger do kann en sech nach sou oft Letzebuerger maachen an behaapten Lëtzebuerger ze sin“. Herders Idee vom vorpolitischen „Volksgeist“ lässt grüßen. Die Deutsche Romantik feiert in der aktuellen Debatte fröhliche Urständ, wie folgendes Zitat des Abgeordneten Roy Reding (ADR) zeigt: „J’ai un problème avec le concept de double nationalité. Car je trouve que c’est comme un club de foot, si on est pour le Bayern Munich, on ne peut pas être pour Hambourg. Pour moi, c’est un choix. Renier sa nationalité d’origine pour rejoindre à 100% sa nouvelle va de pair. Mais bon, aujourd’hui, on a une législation qui est ce qu’elle est et c’est d’ailleurs une tendance qu’on observe un peu partout en Europe. Mais d’un autre côté, il ne faut pas en faire un automatisme. Si on baisse de sept à cinq ans le temps de résidence au Luxembourg, je n’ai pas de problème avec cela. Par contre, le niveau linguistique, c’est ce qui fait notre nationalité. Si on ne peut pas parler la même langue ensemble, on ne peut pas être de la même tribu.“
In diesem Statement finden sich eine ganze Reihe „romantischer“ Inhalte und Hintergründe. Der Romantiker, der zweifelsfrei den größten Einfluss auf das Entstehen des so genannten traditionellen Kulturbegriffs hatte, war J.G. von Herder (1744-1803). Er postulierte, Kultur sei durch eine „natürliche … Fremdheit“ geprägt. Er geht weiter von der stabilisierenden Kraft von „Vorurteilen“ aus, die die Völker „zu ihrem Mittelpunkt zusammendrängen“. Jedem Kollektiv lässt sich somit eine in sich homogene Lebensform zuschreiben, und das Individuum partizipiert einzig an dem seinen Kollektiv eigenen Sinnsystem. An den zitierten Erklärungen lassen sich die Einzelpunkte des traditionellen Kulturkonzepts festmachen:
Primordialität Die Merkmale Geburt, Herkunft Ethnie sind nicht willentlich veränderbar, das heißt die Zugehörigkeit liegt jenseits willentlichen Handelns oder sozialem Vertrag. Die Zugehörigkeit zum Kollektiv wird durch eine vorpolitische Größe bestimmt. Interessant ist hier Redings Rückgriff auf das Beispiel des „Stammes“, einer vorpolitischen, das heißt ethnischen Größe.
Kohärenz und Homogenität Kultur ist ein kohärenter Komplex spezifischer Verhaltensweisen, ein einheitliches Ganzes, das in sich homogen beschaffen ist. Man kann also zu der sozialen Gruppe Nation nur dazugehören oder eben nicht. Daher die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft. Ebenso kann man im Sinne der Homogenität auch nur Teil der Nation sein, wenn man sich der kulturellen Homogenität, hier zum Beispiel der Sprache, unterwirft. Dieses In-Out-System wird jedoch unserer Lebenswirklichkeit in keiner Weise gerecht. Die Postmoderne ist nicht durch „Entweder-oder“ gekennzeichnet, sondern durch „Sowohl-als-auch“. Ebenso absurd ist die Prämisse der statischen Kultur.
Separatismus und Territorialität Kultur laut Herder in verschiedenen Paketen oder Kugeln auf und das Verhältnis zueinander ist durch Fremdheit oder Inkompatibilität sowie durch geografische Grenzen markiert. Wieder begegnet man dem In-Out-Schema. Hier liegt der Grund für praktisch alle Kriege im Europa des 20. Jahrhunderts: Es wurde und wird versucht Kultur, Staatsgebiet und Ethnie zur Deckungsgleichheit zu bringen.
Dass ein Teil der „Nee“-Unterstützer die Notwendigkeit einer Abgrenzung vom gefährlichen reaktionären Sumpf auch in der schwarzen politischen Provinz verstanden hat, hat R. Osweiler erkannt, indem er darauf hinwies, dass die Unsicherheiten in der Bevölkerung von der Politik aufgenommen werden müssten, aber „niemand diese Blut-und-Boden-Anhänger braucht.“
Keup hat sich verstiegen zu: „Wir haben die Mehrheit hinter uns. Wir sind die politische Mitte.“ Mehrheit, das heißt Macht- und Gestaltungsanspruch, mit politischer Mitte gleichzusetzen ist absurd. Repräsentieren zum Beispiel Putin, Erdogan oder Orban die politische Mitte, weil die Mehrheit ihres Volkes sie offensichtlich gewählt hat, beziehungsweise sie wählen würde? Nach dieser Logik hätte wohl auch Hitler die politische Mitte repräsentiert. Mehrheit sagt also nichts über die Verortung im politischen Spektrum aus. Wenn Keup, der immerhin unter anderem das Fach Staatsbürgerkunde (Civique) unterrichtet, von der „intellektuellen Arroganz bestimmter Schichten“ schreibt, dann muss im Gegenzug die Frage nach der intellektuellen Ignoranz anderer Schichten gestellt werden dürfen. Die antiken Griechen stellten dem Intellektuellen den Banausos gegenüber.
Was auffällt, ist eine gewisse Larmoyanz, die sich durch Keups Beiträge zieht. Da wird über die finanziellen Probleme, den schwierigen Zugang zur Öffentlichkeit und die Arroganz bestimmter intellektueller Schichten geklagt. Keup stellt verwundert fest, dass er in der Küche der Politik angekommen ist. Die Amerikaner sagen, dass man nicht in der Küche arbeiten sollte, wenn man die Hitze nicht verträgt.
Abgesehen vom konkreten Ausgang des Referendums können die genannten kulturhistorischen Hintergründe des „Nee“ nicht handlungsleitend für konkrete Gesetzgebung sein. Wie untauglich das auf Ausschluss beruhende Konzept ist, wurde im Laufe der Geschichte eindrucksvoll und blutig bewiesen. Das romantisch-totalitäre Konzept von Kultur und Nation muss, allen Referenden zum Trotz, an der postmodernen Wirklichkeit scheitern. Das ist den gescholtenen intellektuellen Eliten der Parteien bewusst. Nur ist es dem banalen Fußvolk zum Teil nur schwer vermittelbar. Hier muss stattfinden, wogegen Keup populistisch mobilisiert, nämlich die Erklärung der Welt durch Intellektuelle. Wer sollte diese Aufgabe wohl sonst übernehmen? Sicherlich niemand, der Mehrheit mit politischer Mitte gleichsetzt.