Reportage

"Im Kosovo hatten wir auch ein großes Haus"

d'Lëtzebuerger Land vom 08.06.2000

Die Frau öffnete die Tür in einem abgetragenen, grünlichen Hauskleid. Die Ärmel des Kleides waren ausgefranst, am Kragen fehlte ein Knopf. Sie war klein und rundlich, und ihr dunkles krauses Haar war bereits von etlichen grauen Strähnen durchzogen. Unschlüssig hielt ich ihr die Kleider entgegen, die ich am Abend zuvor ausrangiert und in eine Plastiktüte gestopft hatte. Ich schaute sie unsicher an, denn ich wusste nicht, in welcher Sprache ich sie anreden sollte. So zupfte ich an meinen eigenen Kleidern und zeigte dabei auf die Tüte. Die Frau nick-te verstehend und bedankte sich sehr höflich mit einer kleinen Verneigung, als wolle sie, trotz ihrer schäbigen Erscheinung, einen guten Eindruck machen. 

"Kaffee? Tea?" fragte sie freundlich in einer Mischung aus deutschen und englischen Sprachbrocken und bat mich mit einer einladenden Handbewegung herein. Auf einmal schämte ich mich, dass ich die Kleidungsstücke nicht etwas ordentlicher zusammengelegt und in einer Tasche hergebracht hatte und wollte die Einladung dankend ablehnen. Doch dabei wäre ich mir noch schäbiger vorgekommen, so als wolle ich nichts mit ihnen zu tun haben, den Flüchtlingen. 

Wir stiegen die Stufen hinauf zu ihrer Zweizimmerwohnung. Sofort setzte die Frau eine große Kanne mit Wasser auf und bot mir einen Stuhl an. Sie rief etwas, und kurz darauf erschien ihr Mann, ein südländischer Typ mit gutmütigen Augen. Er begrüßte mich freundlich, dann bot er mir einen anderen Stuhl an, der sei bequemer.

"My name is Nadine", versuchte ich es kurzerhand mit Englisch, woraufhin mir der Mann ein Stück Papier und einen Kugelschreiber reichte. Die Frau hieß Bumera und ihr Mann Hakim. Bumera servierte Tee in kleinen gläsernen Tassen. Sie häufte mehrere Teelöffel Zucker in jede Tasse, goss dann den Tee darüber und bot Zitronenstückchen und Kekse dazu an. Die Kekse hatte die Nachbarin gebracht. 

Nach und nach gesellten sich auch die Kinder zu uns. Hassan, der Älteste, war achtzehn und sprach erstaunlich gut Deutsch. 

"Mein Vater sagt: Luxemburg ist ein gutes Land!" übersetzte er, doch musterte er mich argwöhnisch. Sein kleiner Bruder schmiegte sich scheu an seine Mutter und schaute mich neugierig an. Aphrodita, die siebzehnjährige Tochter, machte ihrem Namen alle Ehre. "I speak little English," meinte sie, doch überließ sie dem Vater und ihren Brüdern das Wort. Sie waren Moslems.

Im Frühjahr 1999 waren sie aus ihrer Heimat, dem Kosovo, vertrieben worden. Mitten in der Nacht hatte sie die serbische Armee aus den Betten geholt und aus dem Haus gejagt, das im serbischen Stadtteil von Metrovicza lag.

"Aufstehen, haut ab hier! Geht zurück nach Albanien, wo ihr herkommt. Mr. Clinton erwartet euch dort!" hatte ein vermummter Soldat sie angeschrien, während er mit seiner Maschinenpistole umher fuchtelte.

"Habt ihr Waffen versteckt? Bist du bei der UCK?" schrie er die Männer an und hielt ihnen den Lauf des Gewehrs unter die Nase.

"Nein, wir sind nicht bei der UCK! Wir haben keine Waffen!" beteuerten sie so glaubwürdig wie irgend möglich. Schnell rafften sie das Nötigste zusammen und flohen auf die Straße. So setzte sich ein Flüchtlingszug in Richtung albanische Grenze in Bewegung.

"Baby, little baby... dead!" Bumera weinte und schüttelte immer wieder den Kopf.

"Kosovo, no good!"

Ich wollte, sie würden aufhören zu erzählen. Hatten wir nicht genug davon im Fernsehen gesehen?

Nur mit dem, was sie am Leib trugen, hatten sie sich gut zehn Kilometer durch die Wälder nach Albanien geschlagen, wo sie im Flüchtlingslager von Kukes aufgefangen wurden. Es war das reine Elend. Immer mehr Vertriebene kamen jeden Tag an. Es gab kaum genug zu essen und zu trinken. Nach etwa einem Monat hatten sie es nicht mehr in dem armseligen Lager ausgehalten. Eine albanische Familie nahm sie auf und beherbergte sie eine Weile.

"Wir können euch nicht länger zur Last fallen", hatte Hakim eines Tages beschlossen. "Ihr habt selbst kaum genug. Außerdem ist es einfach zu eng hier für uns alle." Er hatte in den letzten Tagen etwas Bargeld gespart, für den Fall, dass der Krieg ausbrechen würde. Bis zur letzten Stunde hatten sie gehofft, dass es nicht so weit kommen würde.

Ein paar Scheine gab er dem Mann, der seine Familie drei Wochen in seinem Haus aufgenommen hatte.

"Den Rest brauche ich", erklärte er bedauernd und fuhr dann im Flüsterton weiter. "Gestern habe ich einen Mann getroffen. Er hat gesagt, er kennt jemanden, der uns aus dem Land bringen kann. Einen Italiener. Ich muss meine Familie aus diesem Elend herausbringen! Und wenn es mich mein letztes Hemd kostet!"

So waren sie einem italienischen Schlepper in den Westen gefolgt und so hatte es sie in unser kleines Dorf verschlagen.

"Luxembourg, very good... very nice people!" versicherte Hakim, als wolle er sich bei mir persönlich dafür bedanken, dass man seine Familie hier aufgenommen hatte. Ich rührte verlegen meinen Tee um. Schließlich hatte ich nichts zu ihrem Glück beigetragen, außer regelmäßig meine Steuern zu zahlen.

Der Tee war heiß, stark und süß. Ich schrieb meinen vollständigen Namen, meine Adresse und Telefonnummer auf das Blatt Papier und bot Bumera an, sie zum Einkaufen mitzunehmen. Sie blickte kurz zu ihrem Mann, und als er nickend sein Einverständnis gab, bedankte sie sich überschwenglich und wollte mir wieder Tee einschenken. 

"Nein danke", lehnte ich ab. "Das nächste Mal, werden Sie bei mir Kaffe trinken", sagte ich und musste unwillkürlich an meine teure Espresso- Maschine denken, die auf Knopfdruck funktionierte.

Bumera war einige Male mit ihrer Tochter zum Kaffeetrinken gekommen. Sie hatten sich voller Bewunderung im Haus umgeschaut. 

"Im Kosovo hatten wir auch ein großes Haus", erzählte die kleine Frau stolz. Und so einen Kamin habe sie mal im Fernsehen gesehen.

"Ja, in Metrovicza", erzählte sie mit funkelnden Augen, "da hatten wir alles, ein großes Haus mit allen elektrischen Apparaten. In Metrovicza war ich Lehrerin." Sie war sich wohl bewusst, dass sie hier allenfalls als Putzhilfe arbeiten könnte. Trotzdem wollte sie das reiche Land Luxemburg nicht mehr verlassen. 

"Kosovo, problems... Luxembourg very good country!" meinte sie und schaute ihre Tochter dabei an.

Natürlich erhoffte sie sich hier eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Die Nachbarn hatten Möbel, Geschirr und Bettwäsche gespendet, um die kleine Wohnung einzurichten. Kleider und Schuhe wurden gesammelt, und den Kindern hatte man Fahrräder geschenkt. Überglücklich, mit beiden Händen in der Luft, waren sie durch unser verschlafenes Dorf geflitzt.

"Du weißt nicht, wie es ist, Angst zu haben," hatte Hassan einmal gesagt. "Jeden Tag auf dem Weg zur Schule hatte ich Angst, von Serben überfallen zu werden. Mein zwölfjähriger Bruder schläft noch heute bei meinen Eltern im Bett." Doch vorerst hatte die Familie nur eine monatliche Aufenthaltserlaubnis, von einer Arbeitsgenehmigung gar nicht zu reden.

"Kann man denn überhaupt nichts machen?" fragte ich den netten Beamten im Flüchtlingsbüro. "Es hat doch geheißen, dass die Flüchtlinge aus dem Kosovo in Luxemburg arbeiten dürfen."

"Ja, anfangs war das so. Nun müssen sie beweisen, dass sie auch wirklich aus dem Kriegsgebiet kommen," erklärte der Beamte geduldig. Doch als Hakim seine jugoslawischen Papiere hinlegte, bedauerte er:

"Nun ja, ich sehe, Sie sind aus Metrovicza, doch leider sind sie zu spät zu uns gekommen. Wer nach dem 15. April '99 in Luxemburg ankam, dem wird keine Arbeitsgenehmigungen mehr erteilt."

"Wieso sind Sie denn so spät nach Luxemburg gekommen?" fragte der Beamte, doch Hakim schaute ihn nur verständnislos an.

Niedergeschlagen verließen wir das Büro. Eine Beamtin schloss schnell die Tür hinter uns ab. Wir quetschten uns durch die wartende Menge im Vorzimmer. Das Flüchtlingsbüro war vollgestopft mit jungen Männern, die mit einem rosa Zettel in der Hand vor einem einzigen Schalter warteten. Sie warteten auf ihren monatlichen Stempel, der ihnen erlaubte, in Luxemburg zu verweilen.

"Luxembourg very good, no problem", meinte Hakim nur, als wolle er eher mich als sich selber trösten. Er hätte gern gearbeitet, um den Unterhalt für seine Familie zu bestreiten. Die Almosen der Nachbarn nagten an seinem Selbstwertgefühl. Er lehnte es mittlerweile sogar ab, dass ich seine Frau zum Einkaufen mitnahm.

"Hakim say no", hatte Bumera letztens abgelehnt und resigniert die Schultern gezuckt. Den ganzen Tag saßen sie vor dem gespendeten Fernsehapparat. Er war die einzige Nachrichtenquelle in ihrer Sprache. Zugleich bot er eine Ablenkung von den Erinnerungen an die Vertreibung und den Sorgen um die Zukunft. Doch waren sie vor allem dankbar, in Sicherheit zu sein, und dafür, dass ihre Kinder hier zur Schule gehen konnten.

Im Winter kam dann die erschreckende Nachricht über die Medien: "Luxemburg weist Flüchtlinge aus, obwohl im Kosovo die Häuser noch brennen", berichtete der Nachrichtensprecher. "Gegen sechs Uhr früh heute morgen klopfte es an die Tür von etlichen Asylsuchenden in Luxemburg. Einige Schüler wurden auf ihrem Schulweg von Polizisten abgefangen, andere, sogar in Grundschulen, aus den Schulbänken heraus, von der luxemburgischen Polizei abgeführt..."

Die Stimme des Nachrichtensprechers ratterte weiter. Eine politische Stellungnahme liege bislang nicht vor. Dann folgten die Bilder! Die Operation sei legal, betonte unser Justizminister später in einem Interview. Italien sei ihr erstes Einreiseland in die Europäischen Union gewesen, sie hätten kein Recht, in Luxemburg zu sein, ja, sie seien illegal in unserem Land. 

Bestürzt griff ich zum Telefon.

"Wir sind noch da", beruhigte mich Hassan und war gerührt von der Nachfrage. Einige habe er gekannt, erzählte er verwirrt. "Die hatten doch diesen Stempel auf dem rosa Zettel..."

Zum ersten mal schämte ich mich für mein Land.

"Luxembourg very good...," weinte Bumera, "but Italy, no good." In Italien regiere die Mafia, kosovarische Mädchen würden an Zuhälter verkauft, habe sie gehört. Sie habe Angst um ihre Tochter.

"Was wird aus uns werden? Wir können nicht zurück ins Kosovo! Unser Haus ist zerbombt. Serbische Spitzel und die Mafia lauern überall. Allein unser moslemischer Name bedeutet eine Gefahr für uns."

Ich wusste keine Antwort.

Nadine Voss
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