Unter dem Vorwand, Luxemburg zu „modernisieren“, stellen Regierung und Patronat die Gewerkschaften und ihre sozialen Errungenschaften in Frage. Bislang haben sie damit vor allem bewirkt, dass OGBL und LCGB näher zusammenrücken

„Do koumen déi an hunn sech do agemëscht“

Tea Jarc (EGB), Nora Back (OGBL) und Patrick Dury (LCGB)
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 06.12.2024

Korporatismus „Am Prinzip si mir fir den Ofschloss vu Kollektivverträg, mä et wär vill méi richteg gewiescht, mir hätten deene Verträg eng ganz Partie Saachen iwwerlooss, déi elo am Gesetz stinn. Den Artikel 2 gesäit z.B. vir, dass nëmmen déi Syndikater, déi sur le plan national operéieren, ermächtegt sinn, Kollektivverträg ofzeschléissen. Nun ass et awer esou, dass z.B. an engem Betrib 50, 60 Handwierker sinn, déi net zou deenen nationale Syndikater gehéieren, an déi mussen awer mat hinnen e Kollektivvertrag ofschléissen; si selwer kënnen dat net maachen. (...) Et wier méi richteg gewiescht, wann een deene Leit, déi am Betrib selwer eng Majoritéit hunn, d’Geleeënheet ginn hätt, tatsächlech selwer e Kollektivvertrag ofschléissen ze kënnen.“ Sagte am 12. Mai 1965 der DP-Abgeordnete Albert Berchem, als das Parlament über Luxemburgs erstes Kollektivvertragsgesetz diskutierte.

Schon 30 Jahre zuvor, als die Tarifabkommen in der Stahlindustrie eingeführt wurden, weigerten sich die Unternehmerverbände, die Gewerkschaften als Verhandlungspartner anzuerkennen und wollten stattdessen lieber mit den Betriebsausschüssen verhandeln. Durchgesetzt werden konnte die Tarifbindung erst nach einer gewerkschaftlichen Großdemonstration mit über 40 000 Teilnehmer/innen am 12. Januar 1936.

Aus diesen Gründen werden LCGB und OGBL hellhörig, wenn CSV-Premierminister Luc Frieden und sein Arbeitsminister Georges Mischo das in den vergangenen hundert Jahren von CSV und LSAP gemeinsam mit den Gewerkschaften aufgebaute korporatistische Lëtzebuerger Modell angreifen. Wenn sie das exklusive Recht der national oder sektoriell repräsentativen Gewerkschaften zur Verhandlung von Kollektivverträgen anzweifeln, um den sogenannten „neutralen“ Delegierten in den Betrieben stärker Rechnung zu tragen. Wenn sie die inhaltlichen Mindestanforderungen an die Kollektivverträge verringern wollen. Wenn Luc Frieden das alles damit begründet, dass nicht nur er selbst, sondern auch die Gesellschaft, die Arbeitswelt und die Wirtschaftswelt sich verändert hätten. Dass es nicht das Patronat sei, sondern die künstliche Intelligenz, die „verlaangt, datt mer eis Reegelen, wéi mir d’Organisatioun vun der Aarbecht maachen, eist Aarbechtsrecht oder Deeler vum Aarbechtsrecht och iwwerpréiwen“, wie er Ende Oktober nach einer Sitzung des Regierungsrats erklärte. Für die Gewerkschaften klingt der „moderne Staat“, von dem Frieden andauernd spricht, nicht wie einer des einundzwanzigsten Jahrhunderts, sondern wie der von vor 150 Jahren.

„Regierung a Patronat stiechen hei ënnert enger Decken. Den Ex-Präsident vun der Chambre de Commerce, Hand an Hand mam Chauffage Sanitaire vun Esch, deen un der Spëtzt vun der UEL steet, hunn eng reaktionär, eng destruktiv Agenda, déi d’Acquise vun de Salariéen, de Rôle an d’Rechter vu fräien an onofhängege Gewerkschaften net nëmme wëlle beschneiden, se wëllen se futti maachen“, skandierte LCGB-Präsident Patrick Dury am Dienstagabend vor rund 700 Gewerkschaftsdelegierten und Militant/innen im Parc Hotel Alvisse in Dommeldingen, wo OGBL und LCGB zu einer gemeinsamen „Première action en réponse à l’attaque du gouvernement contre les droits et acquis des syndicats“ eingeladen hatten. OGBL-Präsidentin Nora Back „warnte“ die Regierung, „datt mir mat aller Konsequenz a mat all eise Moyenen dat verdeedegen, wat Generatioune vu Gewerkschafter erkämpft an ofgeséchert hunn“. Beide warfen der Regierung vor, mit ihren Plänen gegen die EU-Mindestlohnrichtlinie zu verstoßen, und drohten mit einem Generalstreik. Unterstützung erhielten OGBL und LCGB am Dienstag von Tea Jarc, Sekretärin beim Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), die einen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen richten will, um die Pläne der luxemburgischen Regierung in Sachen Kollektivverträge zu denunzieren. Sollte die Regierung ihre Haltung nicht ändern, werde der EGB sich dafür einsetzen, dass ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Luxemburg eingeleitet werde, sagte Jarc.

Dräifaltegkeet Die Gewerkschaftsfront steht. Spätestens seit LCGB und OGBL (und die derzeit mehr um die öffentlichen Pensionen als um Kollektivverträge im Privatsektor besorgte CGFP) am 8. Oktober die Sitzung des Comité permanent du travail et de l’emploi (CPTE) gemeinsam verlassen hatten. Die Meinungsverschiedenheiten, die durchaus zwischen den Delegierten beider Gewerkschaften in manchen Betrieben herrschen, schienen am Dienstag vorübergehend beigelegt. Im Saal des Parc Hotel Alvisse standen die Gewerkschafter zusammen – nicht nur nebeneinander, wie es bei früheren gemeinsamen Kundgebungen häufig der Fall war. Auch politisch vermischen sich die Farben grün und rot zunehmend: In den vergangenen Wochen hatten die beiden Gewerkschaften sich mit den Oppositionsparteien LSAP, Linke und Grünen gegen die Regierung verbündet. Von einer Einheitsgewerkschaft zu sprechen, die der OGBL sich seit 50 Jahren wünscht, doch die die CSV stets zu verhindern wusste, ist sicherlich noch verfrüht. Doch als Patrick Dury in seiner Ansprache verkündete, „déi eenzeg Dräifaltegkeet, un déi den LCGB nach gleeft“, sei die Absicherung und Weiterentwicklung des Luxemburger Sozialmodells, rückte sie ein Stückchen näher.

Weil der spätere CSV-Staatsminister Pierre Dupong als Abgeordneter der Rechtspartei schon 1917 einen Gesetzesvorschlag für ein Kollektivvertragsgesetz eingereicht hatte, beanspruchte die CSV (zusammen mit LCGB und Wort) diese erst 38 Jahre später unter LSAP-Arbeitsminister Nic Biever umgesetzte soziale Errungenschaft stets für sich. 2004 war es der damalige CSV-Arbeitsminister François Biltgen, der die letzte Reform vornahm, um die nationale und sektorielle Repräsentativität als Voraussetzung zur Aushandlung von Kollektivverträgen klarer zu definieren. Doch die CSV des früheren Handelskammerpräsidenten Luc Frieden ist nicht mehr die des „Herzjesu-Marxisten“ Jean-Claude Juncker.

Gelegenheitsfenster Georges Mischo hatte sich Mitte Oktober im RTL-Radio gegen den Vorwurf gewehrt, er sei der Arbeitsminister des Patronats. In der Novemberausgabe ihrer Zeitschrift D’Handwierk feiert die Fédération des artisans ihn wie einen Heilsbringer. „Mischo bricht mit einem ungeschriebenen Gesetz. In Luxemburg sind es die Gewerkschaften und nur die Gewerkschaften, die den Arbeitsbegriff und alles, was sich daraus ableiten lässt, definieren dürfen“, urteilt der stellvertretende Generalsekretär des Handwerkerverbands, Christian Reuter, im Leitartikel. Der Arbeitsminister habe mit seinen Vorstößen ein „Gelegenheitsfenster“ geöffnet: „Will man den Status quo beibehalten, in dem die Gewerkschaften in Arbeitsfragen und darüber hinaus das Sagen haben, oder will die Politik in einer zunehmend komplexeren und vielfältigeren Welt eigene Handlungsfreiheit zurückgewinnen?“

Auch Arséne Laplume freute sich am Samstag im „Background am Gespréich“ im RTL-Radio darüber, „dass mer ee Minister hunn, deen dofir Verständnis huet, déi al Gesetzer, déi keng Daseinsberechtegung méi hunn, dass een einfach ophält domadder“. Zuvor hatte der Administrateur délégué des wichtigen RTL-Werbekunden Shopping Center Massen („et ass bal net ze faassen“) berichtet, wie Mischos sozialistische Vorgänger Dan Kersch und Georges Engel „eis mat de Gewerkschafte kapott gemaach hunn“: „Mir si 45 Joer ouni eng Gewerkschaft auskomm, a gutt auskomm. Do koumen déi an hunn sech do agemëscht, an do hunn déi richtege Buttik do dra gemaach, wou mer ouni Gewerkschaft besser gefuer sinn. Do hu mer natierlech ee Kollektivvertrag musse maachen an elo däerfe mer [sonndes] aacht Stonne schaffen. Ee Kollektivvertrag, deen natierlech zum Nodeel vum Patronat ass, mee dat geet natierlech net duer, well wann deen ofleeft, da kommen nei Ufuerderungen, da gëtt et ëmmer nach méi schlëmm.“ Bei den Sozialwahlen im März gewann der LCGB erstmals vier der acht Sitze im Personalausschuss von Massen SA, bis dahin war der Betrieb gewerkschaftsfrei. Seit 2019 stieg sein Umsatz um 50 Prozent auf 136 Millionen Euro im Jahr 2023.

Klassenkampf In Luxemburg herrscht seit einigen Monaten „Klassenkampf“. Ausgelöst hat ihn die Regierung mit gezielten, ambivalenten Aussagen. Ende Oktober hatte der Premierminister die Auseinandersetzung zwischen Gewerkschaften einerseits, sowie Patronat und Regierung andererseits als „Meinungsverschiedenheiten in einem Punkt“, die „Teil der demokratischen Debatte“ seien, euphemisiert. Die Kollektivverträge sind aber nur ein Symptom dieses Klassenkampfes. Das öffentliche Rentensystem und die Rentabilität der Krankenkasse stehen auf dem Spiel – Beitragserhöhungen schließt die Regierung wegen der Kompetitivitéit mit hoher Wahrscheinlichkeit aus. Die Ausdehnung der Sonntagsarbeit, verlängerte Öffnungszeiten und flexiblere Arbeitszeiten stehen im Koalitionsabkommen. Dass Ausnahmeregelungen zu den bestehenden Gesetzen ohne Weiteres zwischen den Sozialpartnern im Rahmen von Kollektivverträgen verhandelt werden können, weiß die Regierung. Doch wenn Arbeits- und Öffnungszeiten gesetzlich geregelt werden, statt im Sozial-
dialog, wird das für die Unternehmen günstiger.

Die mutmaßliche Notwendigkeit einer gesetzlichen Erweiterung der Sonntagsarbeit wird mit Falschbehauptungen begründet. „D’Demande kënnt vum Terrain“, sagte Luc Frieden Ende Oktober. „Dat ass eng Demande vun de Salariéen, ganz einfach“, meinte am Samstag die Präsidentin der Luxembourg Confederation und CEO der Großbäckerei Fischer, Carole Muller. Und auch der Arbeitsminister erklärte vor einigen Wochen im Radio, Beschäftigte aus dem Einzelhandel würden sonntags wegen zum Teil langer Anfahrtswege lieber acht als vier Stunden arbeiten. Belege dafür gibt es keine. Eine vom früheren LSAP-Wirtschaftsminister Etienne Schneider beim Forschungsinstitut Liser in Auftrag gegebene Studie von 2018 zeigt hingegen, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Forscher/innen stellen fest, dass fast die Hälfte (44%) der im Einzelhandel Beschäftigten, die sonntags arbeiten, mit der aktuellen Gesetzeslage zufrieden sind (unter den Beschäftigten, die nicht sonntags arbeiten, sind es sogar 71%). Von denen, die mit der derzeitigen Rechtslage unzufrieden sind, sprechen weniger als fünf Prozent sich für eine Liberalisierung der Sonntagsarbeit aus. 87 Prozent wünschen sich sogar eine Verkürzung der sonntäglichen Öffnungszeiten, 90 Prozent eine Begrenzung der Öffnungszeiten am Abend. Zudem geht aus der Untersuchung hervor, dass Beschäftigte, die sonntags arbeiten, einem höheren Stressrisiko ausgesetzt sind, unzufriedener mit ihrer Arbeit sind und weniger Sport treiben, was ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit beeinträchtigen könnte. 58 Prozent der Befragten gaben an, dass der Lohnaufschlag ihre Hauptmotivation sei, sonntags zu arbeiten. Bei 45 Prozent der Befragten entscheidet der Chef, ob und wann sie sonntags arbeiten, wobei sie jedoch mit Kollegen tauschen dürfen. Bei 26 Prozent bestimmt der Chef alleine, ohne dass getauscht werden kann.

Krankfeiern In den letzten Wochen hat der Klassenkampf sich auf weitere Bereiche ausgedehnt. Veranschaulicht wurde das am Samstag im „Background am Gespréich“. Während Carole Muller die Zunahme von „Gefällegkeetskrankeschäiner“ beklagte, behauptete Arséne Laplume, in seinem Unternehmen würden „20, 30 Leit matenee krankfeiern“ und „déi Meedercher oder déi Madammen“, „wann déi an der eelefter Woch bis Bescheed wëssen, datt se schwanger sinn, da si se krank, alleguerten.“ Die Regierung will sich dem laut Koalitionsabkommen annehmen. Die Feststellung, dass Krankschreibungen seit der Covid-Pandemie zugenommen haben, hat die IGSS mit Zahlen belegt. Zwischen 2019 und 2022 um 0,5 Prozentpunkte (von 3,93 auf 4,42%). Im vergangenen Jahr hat sich die Abwesenheitsrate gegenüber dem Vorjahr stabilisiert. Weil sie zwischen 2013 und 2019 nur um 0,2 Prozentpunkte zunahm, zeigen sich die Patronatsverbände besorgt, unterstellen ihren Beschäftigten, zuhause zu bleiben, weil sie faul seien oder Fahrtkosten einsparen wollten. Sie wollen die erst 1974 bei der großen Krankenkassenreform abgeschafften Karenztage (für Arbeiter/innen) wiedereinführen und fordern strengere Kontrollen durch die CNS oder den Staat.

Die Chambre des salariés hat in ihrem Quality of Work Index gezeigt, dass die Gesundheit vieler Beschäftigter in den vergangenen Jahren stark gelitten hat. Auf die Frage, wie häufig sie in den letzten zwölf Monaten gesundheitliche Probleme hatten, antworteten vergangenes Jahr 15,1 Prozent der Befragten „oft oder fast immer“. Seit 2019 ist dieser Anteil um fünf Prozentpunkte gestiegen. Zwischen 2015 und 2019 stieg er lediglich um 0,1 Prozentpunkte. Die Gründe dafür können vielfältig sein. Vielleicht liegt es an der gestiegenen Arbeitsbelastung infolge des Personal- und Fachkräftemangels, dass immer mehr Beschäftigte krank werden. Vielleicht auch an der angespannten Verkehrslage auf den Autobahnen und im öffentlichen Transport, die die Anfahrtswege und damit die wöchentliche Arbeitszeit um Stunden, manchmal um Tage verlängern.

Repräsentativität Um ihre neoliberale Agenda zu legitimieren, haben sowohl Georges Mischo als auch Luc Frieden in den vergangenen Wochen immer wieder die Repräsentativität der Gewerkschaften in Frage gestellt. Im Vorentwurf zu seinem Aktionsplan zur Erhöhung der Tarifbindung hatte der Arbeitsminister auf den gesunkenen Syndikalisierungsgrad in Luxemburg und die geringe Wahlbeteiligung von 34 Prozent bei den Sozialwahlen verwiesen. Patrick Dury revanchierte sich am Dienstag: „De Minister an déi ganz Chamber ginn nach just vun engem Drëttel vun der Lëtzebuerger Populatioun gewielt a si scho laang net méi repräsentativ, wann et em déi ganz Lëtzebuerger Gesellschaft geet. Esou guer nach manner representativ, wann een d’Kolleege Frontaliere géing matrechnen.“ Während OGBL und LCGB gemeinsam 90 Prozent der Mandate in der Salariatskammer vertreten, repräsentierten die 35 Abgeordneten der Mehrheitsparteien nicht einmal 60 Prozent eines Drittels der Einwohner Luxemburgs. Nicht zuletzt sei die CSV mit ihren 10 000 Mitgliedern im Vergleich zu den beiden Gewerkschaften mit ihren insgesamt 125 000 Mitgliedern doch eher unbedeutend.

Trotz ihrer repräsentativen Überlegenheit sind der Handlungsspielraum und die Mittel der Gewerkschaften zur politischen Einflussnahme im korporatistischen Lëtzebuerger Modell streng geregelt und begrenzt. Die letzte Großdemonstration, an der alle Gewerkschaften des Landes sich beteiligten, fand am 16. Mai 2009 statt. Damals gingen 30 000 Menschen auf die Straße, um gegen Restrukturierung, Sozialabbau und Luc Friedens Austeritätspolitik im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise zu protestieren. Dass die automatische Lohnindexierung für mehrere Jahre ausgesetzt wurde, konnten sie nicht verhindern. Sie konnten jedoch Druck ausüben auf ihre politischen Verbündeten aus CSV und LSAP, die dem Spardrang des damaligen Finanzministers im Parlament Grenzen setzten. Vier Jahre später verlor die CSV bei den vorgezogenen Neuwahlen drei Sitze und musste in die Opposition. Der letzte (und einzige echte) Generalstreik fand am 5. April 1982 statt. Auch damals konnten OGBL, Landesverband, LCGB und NHV die von der CSV-DP-Regierung geplanten Indexmanipulationen nicht unterbinden. Zwei Jahre später gewann die LSAP die Kammerwahlen deutlich. Während die DP als einzige Partei verlor.

Luc Laboulle
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