„Nein nein, nicht vergessen“ habe man Marie-Claude Deffarge, sondern zeitlebens „vernachlässigt“, korrigiert uns Ingrid Becker-
Ross-Troeller. Im Gegensatz zu Gordian Troeller sei Deffarge ja nie ein „Star“ gewesen. Wir sitzen im Frühstücksraum vom Hotel Sheraton in Essen. Es ist der Morgen nach der feierlichen Einweihung der Ausstellung DEFFARGE & TROELLER: Keine Bilder zum Träumen, Stern-Reportagen und Filme. Ingrid Becker-Ross-Troeller, Gordian Troellers letzte Ehefrau, berichtet lebhaft und präzise aus ihren Erinnerungen. Dabei wirkt sie wesentlich jünger als die Vergangenheit, auf die sie als nunmehr letzte Zeugin aus dem innersten Wirkungskreis des Luxemburger Journalisten zurückblickt. Eine Vergangenheit, die in Deutschland langsam zu verblassen drohte, angesichts multipler Krisen in der Welt in letzter Zeit jedoch wieder an Aktualität gewonnen hat. Anders in Luxemburg, wo der Name Gordian Troeller (†2003) bis heute ein Nischendasein fristet und sich demnach unweigerlich die Frage aufdrängt, ob zum Teil nicht auch Troellers Vermächtnis mit „vernachlässigt“ am passendsten umschrieben ist.
Auf rund 840 Quadratmetern bietet das Museum Folkwang in Essen nun erstmals ein beeindruckendes Gesamtpanorama der Arbeit von Deffarge und Troeller. Dazu hat das Folkwang-Kuratoren-Team um Petra Steinhardt, Clara Bolin und Matthias Pfaller Stern-Reportagen in Form einer Wandtapete und originalen Doppelseiten zusammengefügt, an die 300 Fotografien zu verschiedenen Themengebieten sowie Ausschnitte aus Dokumentarfilmen wie sie Deffarge und Troeller ab Mitte der 60er Jahre parallel zu ihren Artikeln produzierten, ausgewählt. Fünf Filme sind in Originallänge zu sehen, u.a. die durch den CNA-Mitarbeiter Victor Pranchère aufwendig restaurierte Version des verschollen geglaubten Films Das Sultanat Oman von 1971. Die Filme machen das Duo dann auch einem breiteren Publikum bekannt. Die Filmreihen Im Namen des Fortschritts, Frauen der Welt und Kinder der Welt laufen bis 1999 zur Hauptsendezeit und erreichen ein Millionenpublikum. Thematisch drehen sich diese Filme um die Folgen des Kolonialismus, patriarchale Strukturen der Unterdrückung aber auch um den Klimawandel, die Umweltzerstörung, Wirtschaftskrisen, Migrationsströme.
Geboren 1917 in Pierrevilliers in Deutschlothringen als Sohn eines Luxemburgers und einer Französin, verbringt Charles Gordian Troeller die ersten Jahre seiner Kindheit in Luxemburg und Deutschland. Nach der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 lassen sich die Troellers endgültig in Luxemburg nieder. Bereits 1938, im Alter von 21 Jahren, meldet sich Gordian als Freiwilliger für den Spanischen Bürgerkrieg, und muss nach einem Jahr nach Portugal ausweichen. Am 10. Mai 1940 flüchtet er mit seiner jüdischen Freundin Ruth Kahn von Luxemburg aus Richtung Frankreich. Im Sommer heiraten die beiden in Marseille und setzen sich über Spanien nach Portugal ab. Mit Hilfe des niederländischen Geheimdienstes holt Troeller Flüchtlinge, darunter Luxemburger Juden und Widerständler (wie den späteren Armeeminister Emile Krieps), über Spanien nach Portugal in die Freiheit. Nach dem Krieg geht Troeller als Mitbegründer der Zeitung L’Indépendant hart ins Gericht mit der aus dem Londoner Exil zurückgekehrten Regierung, der das Blatt u.a. unterlassene Hilfeleistung für Geflüchtete vorwirft. In einem der aufsehenerregendsten Prozesse der Nachkriegszeit wird der Indépendant-Herausgeber Norbert Gomand zu einer hohen Geldstrafe verurteilt und so dem Wochenblatt die wirtschaftliche Grundlage entzogen. In der sogenannten Putsch-Affäre werden kurz darauf, vermutlich auf Betreiben des rechtskonservativen Außenministers Joseph Bech (CSV), mehrere Widerständler und „Kronzeugen“ verhaftet, anschließend jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt.
Troeller, der zu dieser Zeit das zerstörte Europa bereist und den Anfängen der Nürnberger Prozesse beiwohnt, kehrt Luxemburg den Rücken. In Paris lernt er zusammen mit seiner Frau de Beauvoir, Sartre und Malraux kennen. 1948 landet er in Spanien als Reporter im Gefängnis und wird in die Niederlande abgeschoben. In Amsterdam sieht Troeller das erste Mal Marie-Claude Deffarge auf einer Bühne. Während der deutschen Besatzungszeit hatte die Französin, die dieses Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, an der Sorbonne Ethnologie und Archäologie zu studieren begonnen. Während sie an einer wissenschaftlichen Arbeit zu spanischem Tanz arbeitete, kam sie jedoch mit dem Flamenco in Kontakt und tourte fortan mit einem Orchester durch Europa. Ein Zeitungsfoto aus der aktuellen Ausstellung, zeigt die Französin mit dem Künstlernamen Maria Cruz in herausfordernder Flamenco-Pose.
1950 kommt es zwischen Gordian Troeller und seiner Frau Ruth (†2020) aufgrund unterschiedlicher Lebensvorstellungen zur Trennung, das kurz vor Geburt ihres zweiten Kindes. Da hatte Marie-Claude Deffarge gerade den Halbbruder Mohammad Mossadeghs kennengelernt, einer Ikone des Antiimperialismus, und war dessen Einladung zu einem Konzert nach Teheran gefolgt. „Sie ist 1949 als erste in Persien gewesen. Zwei Jahre ungefähr bevor Gordian dann nachkam, im Zusammenhang mit Mossadegh und der Verstaatlichung der Erdölvorkommen. Das war eigentlich der erste große Nord-Süd-Konflikt“, berichtet Ingrid Becker-Ross-Troeller, die die beiden 1966 als Werkstudentin kennenlernte und später ebenfalls an einer Vielzahl von Dokumentarfilmen beteiligt war.
Auf Einladung Mossadeghs, der für das Ende der britischen Dominanz und gegen eine westliche Ausrichtung des Irans einstand, bereisen beide das Land. 1952 heiraten Troeller und Deffarge vor Ort. Anfangs gilt ihr Hauptaugenmerk noch den Kulturgütern – das geht aus dem Fotoarchiv hervor, das Ingrid Becker-Ross-Troeller dem Museum Folkwang 2017 zur Verfügung gestellt hat. Ihnen wird aber auch immer bewusster, wie die Landbevölkerung von einer herrschenden Klasse von Großgrundbesitzern ausgepresst wird. Im Iran reift ihr Entschluss, künftig über die Auswirkungen des „westlichen Fortschrittsimperialismus“ zu berichten und über „die kulturelle und wirtschaftliche Verelendung der sogenannten Entwicklungsländer“, auf die sich unser Wohlstand stützt.
1958, fünf Jahre nach Mossadeghs Sturz in Folge der von CIA und MI6 orchestrierten Operation „Ajax“, erscheint unter dem Namen Charles Gordian Troeller Persien ohne Maske. Erst auf der Titelseite ist zu lesen: „Photographische und literarische Mitarbeit Claude Deffarge“. Gemeinsame Artikel unterzeichnet Deffarge lange mit dem geschlechtsneutralen „Claude“. Viele Fotos, auch spätere, sind, da rückseitig oft mit dem Markennamen Troeller-Deffarge gestempelt, heute ihrem Urheber nicht immer eindeutig zuzuordnen. Das Stern-Magazin, für das die beiden zehn Jahre lang als freie Mitarbeiter über soziale Missstände in Brasilien, über die Kuba-Krise, über Kriege im Jemen, Kurdistan und Palästina, sowie über die patriarchalische Ordnung berichten, führte Gordian Troeller als Journalisten, Marie-Claude Deffarge dagegen aus buchhalterischen Erwägungen einfachheitshalber als „Fotografin“. Dass Deffarge in gleichem Maße wie Troeller schrieb und fotografierte, schien der ausschließlich von Männern besetzten Stern-Redaktion damals zweitrangig. Immerhin hatte sich Troeller von Chefredakteur Henri Nannen unter der Bedingung rekrutieren lassen, dass mit ihm auch Deffarge zum Hamburger Magazin wechseln könne.
Für die Ausstellung in Essen haben sich die Kuratoren dazu entschieden, den Markennamen „Troeller-Deffarge“ in „Deffarge & Troeller“ umzuwandeln. „Die Namensumstellung hat mich am Anfang schockiert“, gibt Ingrid Ross-Troeller zu. Doch dann habe sie sich erinnert, dass es Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre für Deffarge (†1984) mit zunehmendem Erfolg ein Problem wurde, „immer nur im Fahrtwasser Gordian Troellers wahrgenommen“ zu werden. Dass Troeller selbst an dieser Entwicklung Anteil gehabt haben könnte, lehnt sie indes ab: „Das ist die Fassade der damaligen Zeit. Eine Fassade für die bundesrepublikanische Gesellschaft. Das Kind musste einen Namen kriegen.“ Hinter dem gesellschaftlichen Feigenblatt sei die Zusammenarbeit mit Troeller stets eine „gleichwertige“ gewesen, meint Ingrid Becker-Ross-Troeller die neben ihrer journalistischen Tätigkeit hauptberuflich als Lehrerin gearbeitet hat und daher „von Männern nie abhängig“ gewesen sei.
Als „ein Stück bundesrepublikanischer Mediengeschichte“ bezeichnete Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter seinerseits das Deffarge-Troeller Archiv, von dem der fotografische Teil im Museum Folkwang und der filmische Teil im Centre national de l’audiovisuel (CNA) in Düdelingen lagert. Die Reportagen seien „nie neutral oder objektiv“ gewesen. Es sei stets „radikal politischer Journalismus“ gewesen, „subjektiv, kontrovers – bisweilen auch streitbar“. Troeller-Deffarges Reportagen sollen uns „wachrütteln, unsere Perspektiven verändern, ein größeres Verständnis für andere Kulturen hervorrufen und nicht zuletzt an unsere Verantwortung in der Welt appellieren“.
Während der Vorbereitung zur Ausstellung, so Petra Steinhardt vom Museum Folkwang,habe sie erst richtig gemerkt „wie relevant dieses Werk ist, wie vielschichtig und wie kritisch. Es geht uns so an: Es erklärt uns Krisen, wie wir über Konflikte, die gegenwärtig sind, nicht richtig diskutieren können und dass Menschen vor 30 Jahren die gleichen Fehler gemacht haben“.
Nicht vergessen, sondern bewusst nicht in den Mittelpunkt gerückt, dafür aber am Rande der Ausstellung im Rahmen einer Konferenz im Kulturwissenschaftlichen Institut im Dezember eingeplant wurde Gordian Troellers Nahost-Reportage „Die Nachkommen Abrahams“ von 1989, die ihm in Deutschland mehrere Prozesse wegen Antisemitismus einbrachte. Die deutsche Unterstützung für Israels Vorgehen in Gaza war dann doch bei der Eröffnungsfeier in Essen der Elefant im Raum.
Begrüßenswert ist dann auch, dass das CNA trotz widriger Umstände an der aktuellen Ausstellung beteiligt war. Nur zu welchem Preis? „Meine Übernahme der Leitung des Hauses geschah in einem von substanziellen Herausforderungen geprägten Umfeld und die ehemalige Leiterin der Filmabteilung hatte soeben ihren Ruhestand angetreten“, beklagte Direktor Gilles Zeimet in seiner Rede anlässlich der Eröffnungszeremonie. Dass man den Webauftritt des Düdelinger Kulturhauses auch noch in diesen Tagen vergeblich nach einem Hinweis auf die Schau absucht und die hiesigen Medien den Termin größtenteils verschlafen haben, dürfte weniger mit der Pensionierung Viviane Thills, als mit nach wie vor chaotischen Zuständen in Düdelingen zu tun haben. So fungieren auch als CNA-Kuratoren der Ausstellung in Essen nicht etwa die CNA-Angestellten Michèle Walerich und Yves Steichen, sondern die Dokumentarfilmerin Catherine Richard, die als befristete Mitarbeiterin zur Unterstützung der beiden hinzugezogen wurde und u.a. einen Text zu dem sehr lesenswerten Katalog zur Ausstellung beigetragen hat. 2026 kommt die Ausstellung übrigens nach Luxemburg.