Aus Wettbewerbsgründen lehnt die Regierung einen höheren Mindestlohn ab. Diese Einschätzung könnte sich als Fehler erweisen

„Mam Mindestloun liewen ass ganz schwiereg“

Georges Mischo vor fünf Wochen im Parlament
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 29.11.2024

Am 15. November hat CSV-Arbeitsminister Georges Mischo den Gesetzentwurf zur Erhöhung des Mindestlohns im Parlament hinterlegt. 1973 hatte die Abgeordnetenkammer (unter einer CSV-DP-Regierung) gesetzlich festgelegt, den Mindestlohn nicht nur regelmäßig an die Inflation, sondern alle zwei Jahre auch – unter Berücksichtigung der allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen – an die Reallohnentwicklung anzupassen. 2006 wurde diese Bestimmung in den neu geschaffenen Code du travail übernommen. Tritt Mischos Gesetz in Kraft, wird der Mindestlohn zum 1. Januar um 2,6 Prozent erhöht. Der unqualifizierte (für Beschäftigte über 18 Jahre) steigt von 2 570 auf 2 635 Euro, der qualifizierte von 3 085 auf 3 165 Euro.

Am 31. März bezogen in Luxemburg 70 113 Voll- und Teilzeitbeschäftigte den Mindestlohn. Bis Ende Dezember sollen es laut Statec-Prognosen 70 585 sein, davon erhalten 39 928 den unqualifizierten und 30 657 den qualifizierten Mindestlohn. In der Privatwirtschaft beziehen zwischen 16 und 18 Prozent der Arbeitnehmer/innen den Mindestlohn, dieser Anteil blieb in den vergangenen Jahren stabil. Im Hotel-, Restaurant- und Gaststättengewerbe lebt über die Hälfte der Beschäftigten (11 600) vom Mindestlohn, im Einzelhandel ein Drittel (15 500). Frauen beziehen häufiger den Mindestlohn als Männer.

Die meisten Mindestlohnempfänger/innen wohnen im Kanton Esch/Alzette (13 200), gefolgt von der Stadt Luxemburg und Umgebung (7 386). Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist im Ösling und im Minett am höchsten: in den Kantonen Wiltz (21,5%), Clerf (20,7%), Diekirch (20,6%) und Vianden (19,4%); in Esch/Alzette (19,4%) und Echternach (19,2%); am geringsten ist er in Luxemburg-Stadt (10,8%), Capellen (12,8%), Mersch (14%) und Grevenmacher (14,1%). Grenzpendler werden von der IGSS nicht erfasst.

Am 30. August hinterlegte Georges Mischo den Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union in der Kammer. Mit dieser vor zwei Jahren verabschiedeten Direktive will die EU-Kommission die Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessern, soziale Ungleichheiten verringern und die sozialen Aufstiegschancen erhöhen. Gleichzeitig sollen die Arbeitnehmer/innen vor Armut trotz Erwerbstätigkeit (working yet poor) geschützt werden, die genau wie die allgemeine Armut im vergangenen Jahrzehnt in der gesamten EU zugenommen hat. „Angemessene Mindestlöhne kommen sowohl Arbeitnehmern und Unternehmen in der Union als auch der Gesellschaft und der Wirtschaft im Allgemeinen zugute und sind eine Grundvoraussetzung für faires, inklusives und nachhaltiges Wachstum“, heißt es in der Richtlinie.

Verbindliche Werte gibt die Kommission nicht vor, doch sie empfiehlt den Mitgliedsstaaten, sich bei der Neuberechnung des Mindestlohns auf „international übliche Referenzwerte“ wie 60 Prozent des Bruttomedianlohns oder 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns zu stützen. Luxemburg lehnt das aus Wettbewerbsgründen ab.

Am 17. November gestand CSV-Premierminister Luc Frieden in einem Interview im RTL Radio zwar: „Mam Mindestloun liewen ass ganz schwiereg.“ Gleichzeitig gab er jedoch zu bedenken: „De Mindestloun bezilt jo net de Staat, de Mindestloun bezuelen d’Betriber, an et muss een also och kucken, well mer virdru geschwat hu vu Kompetitivitéit, dat muss alles aneneen, et muss een eng Sozialpolitik maachen an et muss ee kucken, datt deen, deen de Salaire bezilt, och nach iwwerliewt.“ In anderen europäischen Ländern, wo die Lebenskosten ebenfalls hoch sind, sei der Mindestlohn weit unter dem luxemburgischen, behauptete Frieden. In den Niederlanden liege er bei 2 100 Euro, in Frankreich bei 1 700 Euro: „An et ass net sou wéi wann der an Holland an de Buttik akafe gitt, datt do de Botter an d’Mëllech näischt kaschten.“

Tatsächlich hat Luxemburg mit einem Stundenlohn von 15,25 Euro noch immer den höchsten gesetzlichen Mindestlohn in der EU. Andere Staaten holen jedoch auf. In Holland steigt der Mindestlohn am 1. Januar (für Beschäftigte über 21 Jahre) um sechs Prozent von 13,27 auf 14,06 Euro. Auf eine 40-Stunden-Woche hochgerechnet, macht das 2 433 Euro pro Monat - nur 200 Euro weniger als in Luxemburg. In Irland, das Frieden wegen seines Finanzplatzes immer wieder als Hauptkonkurrent Luxemburgs anführt, steigt der Stundensatz in einem Monat ebenfalls um sechs Prozent von 12,7 auf 13,5 Euro (2 335 Euro pro Monat). In Deutschland wird der gesetzliche Mindestlohn im Januar von 12,41 auf 12,82 Euro pro Stunde erhöht, was einem Monatslohn von 2 220 Euro entspricht. In Frankreich liegt der Mindestlohn inzwischen bei über 2 000 Euro (auf 40 Arbeitsstunden pro Woche hochgerechnet).

Auffallend ist, dass der Mindestlohn in fast all diesen Ländern in den vergangenen zehn Jahren stärker gestiegen ist als in Luxemburg: In Deutschland (wo er erst 2015 eingeführt wurde) um 50 Prozent, in den Niederlanden um 54 Prozent, in Irland um 48 Prozent. In Luxemburg hat er im gleichen Zeitraum – trotz Indexierung, Anpassung an die Reallohnentwicklung sowie einer außerplanmäßigen Erhöhung von 0,9 Prozent im Jahr 2019 – um lediglich 37 Prozent zugenommen.

Friedens Aussage, dass „Butter und Milch“ in den Niederlanden nicht gratis sind, stimmt natürlich, doch in fast allen europäischen Ländern sind die Lebenskosten geringer als in Luxemburg. Im europäischen Verbraucherpreisindex für die Lebenshaltung belegt das Großherzogtum mit 134,5 Punkten hinter Dänemark (143) und Irland (142) Platz drei. In den Niederlanden (118) sowie in Frankreich und Deutschland (jeweils 110) ist das Leben weit weniger teuer. Den Spitzenplatz im europäischen Vergleich belegt Luxemburg in der Kategorie Lebensmittel und nicht-alkoholische Getränke. Auch Möbel sind im Großherzogtum teuer. Kleidung und Schuhe sowie Hotelübernachtungen und Restaurantbesuche sind in Luxemburg weder teurer, noch günstiger als in den angeführten Vergleichsstaaten. Billiger sind hingegen alkoholische Getränke und Tabak sowie Energie, was an den niedrigen Akzisen und vielleicht am Energiepreisdeckel liegt, der Anfang nächsten Jahres größtenteils entfallen soll.

Den Spitzenplatz belegt Luxemburg auch im Eurostat-Ranking zum standardisierten Hauspreis- Einkommens-Verhältnis. Mit 132,5 Punkten ging der Wert 2023 zwar gegenüber den beiden Vorjahren leicht zurück, liegt aber noch immer weit über dem anderer europäischer Staaten, wie den Niederlanden (107), Dänemark (105), Irland (95) sowie Frankreich, Deutschland und Belgien (102 bis 103).

Den von der EU-Kommission empfohlenen Referenzwert, dass der Mindestlohn bei 60 Prozent des Medianeinkommens oder 50 Prozent des Durchschnittseinkommens liegen soll, erreicht derzeit nur Frankreich (und Großbritannien). Laut OECD lag der Mindestlohn 2023 in Luxemburg mit 45 Prozent des Durchschnitts- und 56 Prozent des Medianlohns ähnlich hoch wie in Deutschland (45/51%), jedoch höher als in den Niederlanden (41,34/49,14%) und Irland (37,44/48,32%). Weil in diesen Staaten der Mindestlohn schneller steigt als in Luxemburg, könnte es nächstes Jahr zu Verschiebungen kommen.

Zudem ist in vielen Ländern die Abdeckung durch Kollektivverträge, die meist Gehälter über dem gesetzlichen Mindestlohn garantieren, wesentlich höher als in Luxemburg: In Frankreich und Belgien liegt sie bei fast 100 Prozent, in Finnland, Schweden und Dänemark (wo es keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt) bei über 80 Prozent, in den Niederlanden bei über 75 Prozent. In Luxemburg und Deutschland liegt die Tarifbindung lediglich bei 55, in Irland bei 35 Prozent. Vergleichszahlen zu den in Tarifverträgen ausgehandelten Basislöhnen hat die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofund) zwar erhoben. Weil Tarifverträge in manchen Staaten (darunter Luxemburg) nicht öffentlich einsehbar sind, ist die Datenlage allerdings zu dünn, um verlässliche Aussagen zu treffen.

Alarmierend ist in Luxemburg vor allem der Anteil der Working Poor. Mit 14,7 Prozent ist er höher als in allen anderen EU-Staaten: Mehr als doppelt so hoch wie in Frankreich und Deutschland (6%), dreimal so hoch wie in Dänemark, Irland und den Niederlanden (5%), fast viermal höher als in Belgien (4%). Auch die Armutsgefährdungsquote lag 2023 in Luxemburg mit 21,4 Prozent (laut Euro-
stat) über der in den zuvor genannten Staaten und auch über dem europäischen Durchschnitt.

Obwohl ein höherer Mindestlohn von Forscher/innen nicht als Allheilmittel gegen Armut trotz Erwerbstätigkeit und Armutsgefährdung im allgemeinen ausgemacht wird, könnte er die Lage der Betroffenen doch deutlich verbessern. Untersuchungen des von der Uni Luxemburg koordinierten grenzüberschreitenden Forschungsprojekts „Working, Yet Poor“ haben gezeigt, dass in Luxemburg insbesondere unqualifizierte Beschäftigte, die in Niedriglohnsektoren wie im Horeca oder im Einzelhandel arbeiten, von Armut und Armutsrisiko betroffen sind. In diesen beiden Wirtschaftsbranchen ist die Tarifbindung sehr gering. Sektorielle Kollektivverträge haben die Arbeitgeberverbände stets abgelehnt. Auch die CSV-DP-Regierung will in ihrem Aktionsplan zur Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung im Rahmen der Umsetzung der EU-Mindestlohnrichtlinie keine gesetzlichen Anreize für Unternehmer zum Abschluss von Branchentarifverträgen schaffen. Stattdessen setzt sie auf staatliche Unterstützung, hat die Teuerungszulage erhöht, Steuererleichterungen für (alle) Mindestlohnempfänger und Alleinerziehende beschlossen, den Zugang zu Mietsubventionen will sie vereinfachen.

Ob diese Maßnahmen ausreichen werden, um den Anteil der Working Poor und die Armutsgefährdungsquote zu senken, ist fraglich. Die Salariatskammer CSL, die bislang als einzige ein Gutachten zu Mischos Gesetzentwurf zur Umsetzung der europäischen Mindestlohnrichtlinie abgegeben hat, fordert – zusätzlich zu den bereits bestehenden Anpassungsmechanismen – eine Erhöhung des Bruttomindestlohns um mindestens 3,1 Prozent (80 Euro), damit die von der Direktive empfohlenen Referenzwerte umgesetzt werden können. Um das vom Statec berechnete Referenzbudget zu erreichen, das Haushalten in Luxemburg ein ordentliches Leben ermöglicht, wäre eine Erhöhung um 32,7 Prozent (860 Euro) nötig, schreibt die CSL, die Mischos Gesetzentwurf verwirft. Auch der Arbeitsrechtler Antonio García-Muñoz führt in einem im Rahmen des Working, Yet Poor-Projekts veröffentlichten Beitrag den hohen Anteil an Working Poor unter anderem auf fehlende Kollektivverträge in den Niedriglohnsektoren und die hohe Diskrepanz des unqualifizierten gegenüber dem qualifizierten Mindestlohn zurück.

Sowohl Luc Frieden als auch Georges Mischo haben diese Maßnahmen in den vergangenen Monaten wiederholt aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit zurückgewiesen. Was beachtlich ist vor allem in der Hinsicht, dass weder Restaurants, Hotels und Kneipen, noch Kleider- und Schuhläden in Luxemburg in direkter Konkurrenz stehen zu ähnlichen Geschäften in Deutschland, Frankreich oder Belgien und schon gar nicht in den Niederlanden und Irland. Da der Mindestlohn sich vor allem in Deutschland dem in Luxemburg nach und nach annähert und auch potenzielle Arbeitnehmer/innen aus Frankreich und Belgien sich inzwischen immer öfter überlegen, ob sie für ein paar hundert Euro lange Arbeitswege auf vollkommen überlasteten Autobahnen oder in überfüllten und häufig unpünktlichen Zügen in Kauf nehmen wollen, dreht der eigentliche Wettbewerb sich weniger um Lohnkosten als um Arbeitskraft.

Schon die philosophischen Vordenker der ordoliberalen Wirtschaftstheorie, die Luc Frieden und seine christdemokratischen Freunde (aus Deutschland) in die politische Praxis umsetzen möchten, wussten, dass angemessene Mindestlöhne und andere von Gewerkschaften geforderte sozialpolitische Maßnahmen der Wettbewerbsfähigkeit durchaus dienlich sein können. Denn nichts schreckt Investoren, Kapital und „Talente“ mehr ab als Armut.

Luc Laboulle
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