Für Melissa (Kunstname) ist die Sache klar: „Wenn ich nicht das Geld bräuchte, wäre ich nicht hier“, unterstreicht die Gabunerin. Mit blauem Augen-Make-up, hochgesteckten Locken, Halskette und Maschenstrumpfhose hat sie sich zurechtgemacht, um männliche Kunden anzulocken. Seit 17 Uhr steht sie hinter der Grundschule in der Rue du Commerce, meistens versucht sie nicht länger als bis 23 Uhr zu bleiben. „Danach wird es mir zu gefährlich“, sagt die Mittdreißigerin.
D’Land hat die Afrikanerin, die einige Zeit im Sauerland gelebt hat und Deutsch spricht, getroffen, um zu hören, ob sie und andere Prostituierte den Aktionsplan Prostitution kennen. Die sozialistische Gesundheits- und Gleichstellungsministerin Lydia Mutsch und der grüne Justizminister Félix Braz hatten den elfseitigen Plan vor einer Woche der Öffentlichkeit vorgestellt, nach mehr als zweieinhalb Jahren zähen und kontroversen Diskussionen. Er sieht neben einem erweiterten Verbot der Zwangsprostitution insbesondere mehr Prävention und verstärkte Hilfsangebote vor, die ausstiegswilligen Frauen den Weg aus dem Rotlichtmilieu erleichtern sollen (siehe nebenstehenden Artikel).
Melissa hat von dem Plan noch nichts gehört, obwohl sie regelmäßig in die Anlaufstelle Drop-In in die Rue Bender geht, um dort Kaffee zu trinken, sich medizinisch untersuchen zu lassen, oder ihren Vorrat an Kondomen und Gleitmittel aufzustocken. Sie klopft mit ihren künstlichen Fingernägeln auf die Strass-besetzte schwarze Handtasche auf ihrem Schoß. „Selbstverständlich“ würde sie eine Umschulung machen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekäme, beteuert sie, als das Gespräch auf das staatlich finanzierte Aussteigerprogramm für Prostituierte in Not kommt. „Keiner macht den Job hier freiwillig“, ist sie überzeugt. Sie sei hoch verschuldet und ohne Ausbildung, aber so viel Geld wie sie brauche, würde sie mit einem anderen Job nicht verdienen. Wie ihr gehe es den meisten Frauen.
Die Gabunerin spricht damit, ohne es zu wollen, einen zentralen Streitpunkt der öffentlichen Debatte um den Umgang mit dem schmuddeligen Geschäft mit dem Sex an: Gibt es Frauen (und Männer), die freiwillig ihren Körper verkaufen? Und wenn ja, was bedeutet das für den Gesetzgeber und für mögliche Hilfsangebote?
Der Aktionsplan der blau-rot-grünen Koalition bejaht die erste Frage. Er unterscheidet zwischen „freiwilliger“ Prostitution und Zwangsprostitu-tion, auch wenn Lydia Mutsch betont, sie wolle die gesundheitlichen und sozialen Folgen der Prostitution „nicht banalisieren“ und sie wisse sehr wohl, dass Prostitution „immer öfter mit Armut, Menschenhandel und Zwang“ einhergeht. Gleichwohl gebe es „Nuancen“, so die Ministerin. Mit der Ratifizierung der New Yorker Konven-tion von 1949 zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung von Prostitution anderer habe sich Luxemburg 1969 verpflichtet, Prostitution streng zu reglementieren und Zuhälterei zu verbieten. Schon deshalb, so Mutsch im Land-Gespräch, sei eine völlige Freigabe der Prostitution hierzulande nicht möglich.
Ein Verbot der Prostitution lehnt die Regierung ebenso ab, obwohl ihr Aktionsplan abolitionistische Elemente enthält: Erstmals rückt der Kunde ins Visier. Wer Sex bei einer Person kauft, die zur Prositution gewzungen wurde und sich augenscheinlich in einer, wie es im Strafgesetzbuch heißt, besonders verletzlichen Situation befindet, und ihre Notlage ausnutzt, macht sich künftig strafbar. Mit verletzlichen Personen sind neben Minderjährigen Schwangere gemeint, Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung und mit körperlichen und mentalen Schwächen. Aber auch eine Person ohne Papiere oder in einer besonders prekären sozialen Situation kann dazu zählen.
Was zum besseren Schutz von Frauen in Not gedacht ist und laut Mutsch auf „die Verantwortung der Freier“ abzielt, sehen Organisationen wie der Planning Familial gleichwohl kritisch: „Wer entscheidet, wann eine Frau in einer Notlage ist? Der Kunde? Der Streetworker? Das Gericht?“, fragt Ainhoa Achutegui. „Und wer soll das anzeigen?“ Die Präsidentin des Planning Familial setzt sich mit ihrer Organisation für eine „egalitäre Gesellschaft“ ein, „ohne sexuelle Vermarktung und Gewalt“. Der Verein bietet Frauen in Not, die das wünschen, gynäkologische und medizinische Versorgung sowie psychotherapeutische Hilfe. Das will längst nicht jede, obschon mit dem Dimps-Mobil (Dispositif d‘Intervention Mobile pour la Promotion de la Santé) des Roten Kreuzes ein anonymer Service zur Verfügung steht, der über das Risiko von HIV, Hepatitis und Geschlechtskrankheiten aufklärt. Frauen, die ihren Körper verkaufen, leiden häufig unter „gesundheitlichen Problemen, ausgelöst durch den Stress ihrer Lebensumstände, Hautkrankheiten, Süchten, Schlafstörungen sowie emotionalen Verletzungen“, die der posttraumatischen Belastungsstörung von Soldaten und Folteropfern ähnlich seien, schreibt der Planning unter Berufung auf wissenschaftliche Studien. Um zu überleben, würden Frauen beim Geschlechtsakt dissoziieren, ihr Bewusstsein vom Körper abspalten, um Schmerz und Scham nicht zu spüren. Die große Mehrheit habe eine Vorgeschichte von Gewalt und Missbrauch.
Anik Raskin vom nationalem Frauenrat lehnt deshalb eine Unterscheidung zwischen „freiwilliger“ und erzwungener Prostitution strikt ab: „Gewalt und Demütigung sind der Prostitution inhärent.“ Die Rechtsberaterin und Feministin deutet auf einen Widerspruch hin: Wenn der Gesetzgeber zu den verletzlichen Personen jene zählt, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben oder sich in einer sozialen Notlage befinden, „dann sind doch nahezu alle Prostituierten betroffen“. Der Frauenrat erarbeitet derzeit eine Stellungnahme; vieles deutet darauf hin, dass es bei der alten Forderung bleibt: Prostitution stärker zu bekämpfen, indem Freier konsequent bestraft werden. So wie das in Schweden seit 1999 geschieht, dann folgten Großbritannien, Island und Norwegen. Seit April diesen Jahres ist der Besuch von Prostituierten auch in Frankreich strafbar.
Carmen Kronshagen hält von solchen „feministischen Theorien“ nichts, auch wenn sie nicht leugnet, dass es auf dem Strich hart zugeht und sie seit einigen Jahren Veränderungen in der Szene beobachtet: Die Luxemburger Hausfrau, die mit Sex ihr Geld verdient, gibt es immer seltener. Es dominieren Frauen aus den armen Regionen Osteuropas und aus Afrika, die oft über Familienangehörige oder kriminelle Netzwerke mit falschen Versprechungen nach Westeuropa gelockt wurden. Trotzdem plädiert die Leiterin des Drop-In, der einzigen Anlaufstelle für Prostituierte in der Hauptstadt, für eine „realistische und pragmatische Lösung“. Die Strafverfolgung und damit einhergehende Stigmatisierung der Prostitution erschwere das Leben der Frauen zusätzlich. Manche landeten im Gefängnis, weil sie die Strafprotokolle in Höhe bis zu 2 500 Euro nicht begleichen können, die anfallen, wenn jemand außerhalb der von der Stadt vorgegebenen Sperrbezirke seine Dienste anbietet.
Fragt man Frauen auf der Straße, nennen diese in der Regel zwei Hauptsorgen: Luxemburgs hohe Mieten und die fehlende Krankenversicherung. Zum Beispiel Janka, die am Publikationszentrum des Europäischen Parlaments neben der Post an der Betonmauer gelehnt steht. Ihre linke Wange ist geschwollen. „Mein Zahn ist seit Tagen entzündet“, sagt sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. Auf die Frage, warum sie nicht zum Arzt geht, zuckt die Bulgarin, die Französisch spricht, hilflos mit den Schultern: „Wie soll ich das bezahlen?“ 80 Euro muss Janka pro Übernachtung in einem schäbigen Hotel in Bahnhofsnähe bezahlen. Mindestens vier bis fünf Kunden täglich befriedigen, um ihre Kosten zu decken. Eine Krankenversicherung hat sie, wie so viele Frauen, nicht. Ob sie ihre Einnahmen an einen Zuhälter abgeben muss, will sie nicht verraten. „Glaub’ ihre Geschichten nicht“, sagt sie dann, mit dem Kinn auf zwei afrikanische Frauen auf der anderen Straßenseite zeigend: „Ohne Zuhälter geht es nicht.“
Die prekäre Lebenssituation von Prostituierten war das Hauptargument, warum Deutschland und Holland vor Jahren das Geschäft mit dem Sex legalisierten. Ziel sollte sein, Frauen durch den Zugang zur Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung aus dem sozialen Abseits herauszuholen. Dann falle vielleicht auch der Ausstieg leichter, so die Hoffnung. Doch mehr als 15 Jahre später ist in Deutschland Ernüchterung eingekehrt: Von den laxen Regelungen profitiert haben vor allem Zuhälter und Freier. Sozialversicherte Prostituierte gibt es kaum, dafür massig Stundenhotels und immer jüngere Prostituierte aus aller Welt. Deutschland gilt als Eldorado für sexhungrige Männer. In Bordellen in Saarbrücken und in Trier herrscht Hochbetrieb, erst recht seitdem in Frankreich die Prostitution verboten wurde. Flat-rate-Angebote, bei denen junge Frauen zum Pauschalpreis alle möglichen und unmöglichen Wünsche befriedigen müssen, fordern von den Frauen das Äußerste, viele halten nur wenige Monate durch, um dann durch eine neue Generation ersetzt zu werden.
„Das wollen wir auf keinen Fall“, unterstreicht Lydia Mutsch energisch. Dass sich die Regierung für einen Mittelweg entschieden habe, liege auch an der „geografischen Lage“ des Landes: zwischen dem abolitionistischen Frankreich, dem pragmatischen Belgien und dem liberalen Deutschland. „In Luxemburg gibt es starke Migrationsbewegungen, die Szene ist sehr volatil“, so die Ministerin, die am schwedischen Modell kritisiert, dass Prostitution so in die Anrainerstaaten und ins Internet verdrängt würde. Zugleich räumt die Sozialistin ein, sei sie bei einem Besuch von der „gesellschaftlichen Gesamtvi-sion“ der Schweden beeindruckt gewesen.
Ainhoa Achutegui lässt das Argument der besonderen Lage Luxemburgs nicht gelten: „Die Schweiz ist ebenfalls ein Transitland, dort hat man sich für die Legalisierung entschieden, in anderen Ländern dagegen.“ Für sie ist der Kompromiss, der jetzt auf dem Tisch liegt, „weder Fisch, noch Fleisch“ und ausschließlich den politischen Kräfteverhältnissen geschuldet. Vor allem die DP hatte sich bei den Koalitionsverhandlungen für eine weitgehende Legalisierung eingesetzt. Xavier Bettel, heute Staatsminister, hatte 2007 sogar ein staatlich kontrolliertes Eroszentrum vorgeschlagen. Doch das wird es nicht geben. So gesehen, bleibt der Vorschlag sogar hinter dem Koalitionsprogramm zurück, das eine Legalisierung doch andeutet. Stattdessen versucht die Regierung einen salomonischen Spagat zwischen Liberalisierung und Penalisierung. Dabei bildet die Exitstrategie jene Schnittmenge, in der sich beide Seiten wiederfinden: die Verfechter einer Legalisierung der Prostitution und die Befürworter einer Abolition von Prostitution, bei der die Freier bestraft werden.
Für das Exitprogramm hat das Gleichstellungsministerium bereits vor zwei Jahren zwei Apartments vom Roten Kruez angemietet, seitdem haben drei Personen das Programm erfolgreich durchlaufen, erzählt Carmen Kronshagen. „Auch davor haben wir zahlreichen Frauen den Ausstieg ermöglicht“, betont sie. Einfach sei das nicht, nicht nur, weil viele Frauen sich vor Repressalien ihrer Zuhälter fürchten, sondern weil der Ausstieg bedeute, das eigene Leben radikal zu hinterfragen und umzustellen. Die Frauen, die nicht nach drei Monaten in die nächste Stadt umziehen, weil sie von Zuhälterringen herumgereicht werden, werden immer seltener – und sind nicht selten in der Szene fest verwurzelt.
„Manchen sagen, dass sie aussteigen wollen, aber wenn es dann darum geht, Nägel mit Köpfen zu machen, ist es vielen zu anstrengend“, weiß Kronshagen aus Erfahrung. Die Auflagen, um in das Aussteiger-Programm aufgenommen zu werden, sind streng: Die Frauen müssen sich engagieren, mit Hilfe der Sozialarbeiter eine Arbeit zu suchen, bei der sie meist nicht mehr als den garantierten Mindestlohn verdienen. Viele haben keine abgeschlossene Ausbildung oder andere Probleme, die eine Rückkehr in den alten Beruf erschweren. Damit es überhaupt eine Aussicht auf Erfolg gibt, erstellt eine Sozialarbeiterin zu Beginn ein genaues Profil. Mit Hilfe der Adem wird sodann nach einer Umschulungs- oder Eingliederungsmaßnahme gesucht. „Die Zusammenarbeit läuft sehr gut“, sagt Gilles Dahmen, übergeordneter Leiter der Projekte nationale Solidarität, zufrieden.
Schwieriger ist es, diejenigen Frauen zu erreichen, die in Apartments ihre Dienste anbieten. Sie wissen oft gar nicht, dass es das Drop-In und weitere Angebote gibt. Wie viele Frauen ihre Dienste versteckt in Wohnungen anbieten, ist unklar, aber die Apartments verteilen sich über das ganze Land. Um die Frauen aus ihrer Isolation zu holen, hat das Drop-In ein Konzept für Indoor-Streetworking erarbeitet. Damit das funktioniert, braucht es Mittel. Im Plan fehlen dazu Angaben. Auf Nachfrage werden die Mietkosten für die beiden Studios von 30 000 Euro und von einem Sozialarbeiter (40 000 Euro) für das Exit-Programm genannt. Wie viel Geld insgesamt für den Aktionsplan zur Verfügung steht, konnte das Ministerium nicht sagen.