„Es ärgert mich sehr, wenn wir mit den Rechten in eine Ecke gestellt werden“, sagt José Schaack. Die Lehrerin war es, die am Lycée du Nord in Wiltz als erste Einspruch erhoben hatte. Einspruch gegen etwas, das nicht sehr häufig vorkommt, aber viele Lehrer umtreibt: Was tun, wenn Mädchen oder junge Frauen mit Kopftuch zum Unterricht erscheinen, wenn im Namen der Religion bestimmte Praktiken und Kleidungsstücke in der Schule Einzug halten? Als an der Sekundarschule im Norden zwei Mädchen mit Hijab in einer 7e auftauchten, war sich die Lehrerin mit anderen Kollegen einig: Das Kopftuch wollte sie nicht akzeptieren. „Wie kann ich als emanzipierte Frau glaubhaft meinen Schülern Werte wie Gleichberechtigung von Mann und Frau vermitteln, wenn unsere Schule zugleich akzeptiert, dass Mädchen in der Schule verschleiert erscheinen und von den Jungs ferngehalten werden?“, fragt Schaack.
Sie wandte sich ratsuchend an den Direktor, der aber kein größeres Problem in der Kleiderfrage erkannte und lieber pragmatisch vorging: Die Mädchen tragen in der Schule Kopftuch und nehmen am Schwimmunterricht im Burkini teil. Der Vater soll in einer Unterredung mit der Leitung versichert haben, seine beiden Töchter trügen das Kopftuch seit dem zehnten Lebensjahr freiwillig. Der Lehrerin überzeugte die Antwort nicht, sie wandte sich an das Lehrerkomitee, das daraufhin einen Brief an den Unterrichtsminister schrieb. Das Schreiben, das dem Land vorliegt, setzt sich für die „Gleichheit von Jungen und Mädchen“ ein, verteidigt die koedukative Erziehung und wehrt sich gegen „jegliche religiöse Zeichen“, also nicht nur das Kopftuch, auch die Nonnenkutte, die Kippa oder das Kreuz in der öffentliche Schule. Über Umwegen geriet es an die Presse: Luxemburg hatte seinen ersten Kopftuchstreit. Und eine Lösung ist so bald nicht in Sicht.
„Es geht nicht darum, Stimmung gegen Religion zu machen. Die Frage ist vielmehr, welche Werte wir in der Schule vermitteln und welchen Erziehungsauftrag die öffentliche Schule hat“, betont der Vorsitzende des Wiltzer Lehrerkomitees, Jules Barthel, der die Stellungnahme an andere Lehrerkomitees im Land geschickt hat. 14 tragen den Inhalt mit ihrer Unterschrift mit. Der Brief ging außer an den Unterrichtsminister Claude Meisch (DP) noch an die Gleichstellungsministerin, den Kultusminister und an den Justizminister. Heute, mehr als zwei Monate später, haben die Lehrer nicht einmal eine Empfangsbetätigung erhalten.
Auf Nachfrage des Land hieß es zunächst, die Regierung habe sich noch nicht auf eine politische Linie verständigt. Inzwischen hat Claude Meisch geantwortet: Es handele sich um eine „heikle Frage“, deshalb plädiere er dafür, „keine muskelbepackten Antworten zu geben, sondern jeweils den Einzelfall zu betrachten“, sagte Meisch. „Wir leben in einem Land, in dem Religions- und Meinungsfreiheit herrschen und wo wir Toleranz wollen und unsere Schüler in der öffentlichen Schule auch daraufhin erziehen“, so Meisch. „Wenn jemand als Zeichen seines Glaubens ein Kopftuch trägt und ihm das wichtig ist, dies nach außen zu dokumentieren, dann sehe ich nicht, wie die öffentliche Schule sagen kann, das kommt auf keinen Fall in Frage“, begründet Meisch im Land-Interview seine Ablehnung für ein gesetzliches Verbot religiöser Zeichen in der Schule.
Bloß: Wie sehr ist das Kopftuch Zeichen des Glaubens der Schülerinnen, wenn beide Mädchen dieses nach Aussagen des Vaters bereits mit zehn Jahren tragen mussten, früher übrigens als in den meisten islamischen Kulturkreisen, wo das Kopftuch erst mit der Pubertät verbindlich wird? Koranexperten wie dem Islamwissenschaftler Ralph Ghadban zufolge lässt sich kein direktes Kopftuchgebot aus dem Koran herleiten. Die Verhüllungspflicht für muslimische Frauen habe vielmehr mit kulturellen Bräuchen und einer orthodoxen Interpretation des Korans zu tun.
Und wie vertragen sich religiös oder kulturell bedingte Gebräuche für ein Geschlecht mit dem in der Luxemburger Verfassung verankerten Gleichheitsprinzip zwischen Mann und Frau? „Es gibt auch muslimische Frauen, sogar Feministinnen, die das Kopftuch aus freien Stücken tragen“, sagt Gina Arvai. Die Sprecherin der Jungen Grünen ist sich der Komplexität der Fragestellung bewusst. Ihre Partei wendet sich gleichwohl gegen ein Kopftuchverbot. „Ein Verbot ist kontraproduktiv. Wenn wir nur über das Kopftuch reden, reduzieren wir die Frauen auf ein Stück Stoff. Im Mittelpunkt sollten Inklusion und Teilhabe am öffentlichen Geschehen stehen.“ Statt bestimmte Gruppen von vornherein auszuschließen, plädiert die Grüne für ein Miteinander und „Offenheit“. Auch in der Schule. Nur: Was tun, wenn das Kopftuch von Fundamentalisten bewusst eingesetzt wird, um den Rechtsstaat zu testen und Grundwerte bewusst auszuhebeln? „Ja, das ist eine Gefahr“, räumt Gina Arvai nachdenklich ein. „Die Inklusion hat sicher ihre Grenzen.“
Gehen die Wiltzer Schülerinnen wirklich aus freien Stücken im Burkini schwimmen? Fühlen sie sich vielleicht stigmatisiert, weil sie sich von ihren Klassenkameraden unterscheiden? Was, wenn sie später aufgrund ihres Kopftuchs keine Arbeit finden? Und was für Signale senden die beiden an andere Kinder aus? Für muslimische, die sich nicht verhüllen, aber auch für nicht-muslimische, die sichtbar mit der Religion ihrer Mitschülerinnen konfrontiert werden? Wo ziehen die Gegner eines Kopftuchverbots die Grenze: Was, wenn eine Frau im Tschador zur Schule geht?
Für ihn sei dann „eine Grenze“ überschritten, „da stehen einige Grundrechte im Konflikt“, sagt Meisch, der beim „gewöhnlichen Kopftuch“ derlei Konflikte nicht sieht. „Wenn ich meine Identität nicht zeigen will, ist eine normale Verständigung nicht mehr möglich. Ich meine daher, dass man von Fall zu Fall schauen soll.“ Sicherlich gebe es Fälle, wo das Kopftuch getragen werde, um zu provozieren, und „da soll man sich nicht provozieren lassen und auch nicht unbedingt nachgeben“, rät Meisch den betroffenen Schulen. Gesetzlich regeln möchte er die brisante Frage aber nicht.
Dass das Unterrichtsministerium vor einer allgemein verbindlichen Regelung zurückschreckt, war schon bei Meischs Vorgängerin, LSAP-Ministerin Mady Delvaux-Stehres, so. Wer gehofft hat, mit der liberal-sozialistisch-grünen Koalition möge die Religionsfrage entschiedener angepackt werden, könnte womöglich enttäuscht werden. Während in Belgien, Deutschland und Frankreich vor dem Hintergrund stärker werdender laizistischer Strömungen auf der einen Seite und einer immer selbstbewusster auftretenden zweiten und dritten muslimischen Einwanderergeneration auf der anderen Seite kontrovers um Kopftücher und Kruzifixe im Klassenzimmer gestritten wird, scheint die Luxemburger Politik vor allem bemüht, einer solchen Debatte aus dem Weg zu gehen – und überlässt es den Schulen, respektive ihren Direktionen, über so wichtige Fragen zu entscheiden.
Das führt dazu, dass die Luxemburger Öffentlichkeit wenig davon mitbekommt, dass es auch hierzulande Eltern gibt, die Sonderrechte für ihre Kinder in der Schule einfordern und sich dabei auf die Religions- und Gewissensfreiheit berufen. In den vergangenen Jahren waren es meist muslimische Eltern aus Ex-Jugoslawien, die beispielsweise das Recht einfordern, die Tochter vom koedukativen Schwimmunterricht oder der gemeinsamen Klassenfahrt auszunehmen, oder die sie nur mit Hijab in den Unterricht schicken wollen. Der letzte bekannt gewordene Konflikt betraf einen Jungen, der in der Schule auf seinem Teppich beten wollte. Nachdem sich die Schule Hilfe suchend an das Ministerium wandte, reichten Beamten den Fall an die Menschenrechtskommission weiter. Eine Stellungnahme, die nach monatelangen Beratungen verfasst wurde, erblickte nie die Öffentlichkeit. Das Problem: Es gibt in Luxemburg kein Gesetz und keine Jurisprudenz, die derlei Konflikte für alle Schulen verbindlich regeln würden.
Das Grundschulgesetz von 2009 definiert den Erziehungs- und Bildungsauftrag der öffentlichen Schule wie folgt: „Elle l’éduque aux valeurs éthiques fondées sur la Déclaration universelle des droits de l’homme et l’amène à respecter l’égalité entre les filles et les garçons“: Was das für Kopftuch, Kippa, Kruzifix und andere religiöse Zeichen im Klassenzimmer heißt, ist unklar. 1999 entschied das Verwaltungsgericht, ein Kind von Siebenten-Tags-Adventisten müsse auch am Samstag zur Schule gehen. Nach Abwägen zwischen Religionsfreiheit, elterlichem Erziehungsrecht und Schulpflicht urteilten die Richter, dass der Staat den Adventisten auferlegen darf, diese Einschränkung ihrer Glaubensausübung hinzunehmen. Die Schulpflicht wiege im konkreten Fall schwerer, so die Richter.
Artikel 4 des Grundschulgesetzes sieht vor, dass die öffentliche Schule, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, keine religiöse oder politische Doktrin bevorzugen darf. Allerdings macht sie genau das: Der katholische Glauben wird bevorzugt, denn keine andere Religion hält einen eigenen Platz im Stundenplan. Seit Jahren liegen im Unterrichtsministerium Pläne, den (katholischen) Religionsunterricht ganz aus der Schule zu verbannen und durch einen allgemeinen Werteunterricht zu ersetzen. Beamte feilten mehrere Jahre an dem Konzept, sprachen mit ausländischen Experten – um den Entwurf dann in der Schublade verschwinden zu sehen. Der sozialistische Juniorpartner hatte sich in neun Regierungsjahren nicht getraut, den Ton angebenden, stärkeren Koalitionspartner CSV mit einer weiteren Neuerung zu verprellen, erst recht nicht nach deren Niederlage beim umstrittenen Euthanasie-Gesetz.
Die neue Regierung hat in ihrem Koalitionsabkommen angekündigt, den Religionsunterricht in der Schule abzuschaffen und das Verhältnis zwischen Staat und Religionen auf neue Füße zu stellen. Das wäre die Gelegenheit, kohärente Regeln für den Umgang mit religiösen Fragen in der Schule zu formulieren. Bis dahin helfen sich die Schulen selbst. Außer einer vagen Kleidervorschrift, der zufolge Schüler in der Schule korrekt gekleidet sein müssen, gibt es nichts, woran sie sich orientieren können. Einige haben detaillierte Kleidervorschriften (d’Land vom 21.03.) erlassen, wie das Lycée technique du Centre oder das Schengen-Lyzeum. Mit Formulierungen wie der, dass eine Kopfbedeckung nicht erlaubt sei und das Gesicht frei bleiben müsse, wird versucht, neben allzu nackter Haut auch religiöse Kleidungen aus dem Schulalltag herauszuhalten. Bei Schülern wie Lehrern gleichermaßen.
Doch Minister Claude Meisch bezweifelt im Land-Interview sogar, dass es verfassungsrechtlich legitim wäre, einer Lehrerin das Tragen religiöser Zeichen zu verbieten. „Ein Lehrer kann auch ein Kreuz an der Kette tragen.“ Bislang liege ihm keine Anfrage einer Lehrperson vor, ein Kopftuch in der Schule zu tragen, so Meisch. Allerdings: Wenn dies aus dem „persönlichen Glauben“ heraus geschehe, „und nicht, um zu provozieren, warum eigentlich nicht? Mit welchem Anspruch können wir das verbieten?“, fragt Meisch, der findet, eine pluralistische Gesellschaft, die zu Toleranz erziehe, müsse dergleichen „aushalten“.
Fragt sich bloß, wozu dann im Grundschulgesetz in Artikel 5 steht: „À l’exception de l’enseignant titulaire d’un cours d’instruction religieuse et morale, l’enseignant ne peut manifester ostensiblement par sa tenue vestimentaire ou le port de signes son appartenance à une doctrine religieuse ou politique.“ Und wie sich die proklamierte Toleranz für religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule mit dem Versprechen der Dreier-Koalition verträgt, Staat und Religion künftig klar voneinander trennen zu wollen.