Jeder kennt sie. Hat mindestens eine in seinem Familien- oder Bekanntenkreis: die netten Sozialklempnerinnen, die, frisch von der Schule, die Welt mit Bewertungsformularen vor dem Untergang retten wollen, doch nach einigen Jahren Berufserfahrung, völlig überfordert vom Verwaltungskram und dem Druck, der auf ihnen lastet, nur noch ihre Ohnmacht feststellen können und sich in Yoga und Jogging zurückziehen. Mit 70, 80, 90 Fällen pro Woche, Kollegen mit „Björn-Out-Syndrom“, Etatkürzungen, der Jahres-statistik, der Presse, den Politikern, der Hierarchie, den Vorwürfen bei jedem Missbrauchsfall, das Jugendamt habe die Familie seit Jahren betreut... kann ihre Welt nicht anders, als zu implodieren.
Anika, Sylvia und Barbara sind drei solcher Sozialarbeiterinnen in Felicia Zellers preisgekröntem Sozialdrama Kaspar Häuser Meer, das Marion Poppenborg am vergangenen Wochenende im Escher Theater inszenierte. Anika, die jüngste, allzu eifrig, wirft sich Hals über Kopf in jeden Fall, der ihr angetragen wird, füllt jeden Erhebungsbogen stundenlang aus, macht unzählige Besuche vor Ort – und vergisst dabei, ihre eigenen Kinder am Hort abzuholen. Sylvia dagegen ist schon seit 15 Jahren dabei, hat seit langem kein Privatleben mehr, denn „ich liebe meinen Job, das sind meine ganz persönlichen Messias-Festspiele“. Sie ist besessen vom Fall des kleinen Elias, den sie vor der Verwahrlosung bei Frau Schmit retten will, „doch man kann doch nicht alle Türen aufbrechen“. Sylvias Zustand von permanenter Anspannung und Ermüdung sei besorgniserregend, stellt ihre Kollegin Barbara, „Babs“, fest. Nach 20 Jahren im Amt hat sie so manches gesehen, neben dem Beruf fünf eigene Kinder großgezogen, „doch hier steh ich noch!“ Barbara kann das alles nicht mehr beeindrucken, sie macht Rückenübungen, trinkt literweise Tee, träumt vom Ver-schwinden und schwärmt von Ferien.
Die Autorin Felicia Zeller (geboren 1970 in Stuttgart) hat für ihr Stück auf jeden Fall genauestens recherchiert, weiß vom Personalmangel, den zwischenmenschlichen Problemen im Büromilieu (ich will ja nichts sagen, aber in der Teeküche hat wieder mal jemand seine Teetasse nicht abgewaschen...), dem steigenden Verwaltungsaufwand, dem Druck von außen, der Ohnmacht der Sozialarbeiterinnen und ihrer seelischen Überforderung zwischen Arbeitsüberlastung, Unter-besetzung und der Unerträglichkeit der Grausamkeiten an Kindern, die sie täglich zu bewältigen haben. Während 75 Minuten ergießen sich regelrechte Wortkaskaden aus den drei Schauspielerinnen auf der Hinterbühne des Escher Theaters, Persönliches, Verwaltungsjargon, die Sprache der Familien, die sie betreuen, Satzfetzen, Träume... in höllischem Rhythmus schreien, weinen, trauern, tanzen und ärgern sich die drei Damen vom Jugendamt, wissend, dass sie als erste der sozialen Grausamkeit unserer Zeit zum Opfer fallen.
Marion Poppenborgs Glücksgriff bei ihrer Inszenierung von Felicia Zellers Stück ist die Besetzung: mit Jeanne Werner, Nora Koenig und Ilona Schulz ist jede Generation stringent verkörpert. Die junge Jeanne Werner mit ihrer verkrampften Naivität, Nora Koenig als reifere Frau an der Grenze zum Wahnsinn und besonders Ilona Schulz, deren vorgespieltes, vollstes Verständnis für alle und jeden von Desillusion und Zynismus aufgefressen wird. Ihre improvisierte „Bach-Kantante“ die sie zu „oh Welt, ich bin nicht da!“ erfindet, ihre Dehnungsübungen während wichtiger Besprechungen oder ihre kollegialen Ratschläge wie „Setz’ dich doch mal auf deine innere Parkbank“ gehören in die Anthologie großer Bühnenmomente des luxemburgischen Theaters.
Kaspar Häuser Meer beschreibt eine verrohte Gesellschaft, die Zwischenmenschliches in Ämter ausgelagert hat, die sie für alle sozialen Missstände zur Verantwortung zieht. Eine Gesellschaft des Wohlstands, in der Kinder verhungern; eine Gesellschaft der Kontrolle, in der niemand zur Kenntnis nimmt, dass nebenan ein Kind missbraucht wird; eine Arbeitswelt, in der Menschen im Verwaltungsdickicht ersticken. Das Stück in Luxemburg zu programmieren, wo eben der gesamte öffentliche Jugendschutzbereich mit der Einführung des ONE, Office national de l’enfance, umorganisiert wird, und das unter, wie viele Betroffenen berichten, mehr als chaotischen Umständen, ist eine überaus treffende Idee des Theaterdirektors Charles Muller, die sicher mehr Aufführungsdaten verdient hätte.