„Bitte nehmen Sie das: Ich will, dass die Öffentlichkeit die Wahrheit kennt.“ Energisch drückt die 57-jährige Claire* ihrem Gegenüber sechs eng bedruckte Seiten in die Hand. Sechs Seiten, die das Leiden in Worte fasst, das ihr als Kind und Jugendliche in einem Heim in Luxemburg zugefügt wurde. Sechs Seiten, die der damalige Leiter der Opfer-Hotline der katholischen Kirche, Mill Majerus, neben anderen Berichten an die Staatsanwaltschaft weiterleitete. Mit dem Resultat: Alle Taten seien verjährt, teilte Generalstaatsanwalt Robert Biever Ende Januar mit: „Archi-verjährt.“
„Was jetzt geschieht, ist die größte Sauerei“, sagt Claire, und sie kämpft sichtlich mit den Tränen. Dass die gewalttätigen Übergriffe ihrer Peinigerinnen keine juristischen Konsequenzen haben werden, kann sie noch nachvollziehen. Die Verjährungsfrist für (Sexual-)Verbrechen liegt bei zehn Jahren. Die Vorfälle, die heute noch in Form von Alpträumen ihre langen Schatten werfen, liegen mehr als 30 Jahre zurück.
Und dennoch. Die Empörung ist groß. Immer wieder muss Claire neu ansetzen, um die richtigen Worte zu finden. Es ist eine Woche her, dass die Kirche per erzbischöflichem Dekret zugesagt hat, das Leid der Opfer anzuerkennen. Erster Akt der Sühne: Man wolle bis zu 50 000 Euro an ein wohltätiges Kinderprojekt in Brasilien spenden. „Was soll das Geld in Brasilien? Das ist doch alles hier geschehen“, fragt Claire empört. Ginge es nach ihr, sollte die Summe lieber für Notrufstellen oder Hilfsdienste in Luxemburg gespendet werden als im fernen Brasilien.
Zeitungsberichten zufolge sollen Opfer von Gewalt den Wunsch geäußert haben, das Geld zu spenden. Claire und eine weitere Betroffene haben die Verantwortlichen nicht gefragt. Ihre Wahl war es nicht. Die Betroffenen werden aber nicht nur bei der Entscheidung darüber, wie das Geld ausgegeben wird, ausgeklammert: Es ist die Kirche selbst, die entscheidet, wie mit den Opfern und vor allem mit den Täterinnen und Tätern umgegangen wird.
Bis maximal 5 000 Euro sollen letztere an die Opfer zahlen. Aber, so präzisiert es Marie-Anne Rodesch-Hengesch, das Geld sei für die Betroffenen sexuellen Missbrauchs gedacht. „Das ist unser Auftrag, ganz klar“. Die Ombudsfrau für Kinderrechte ist eine von fünf Mitgliedern der von der Kirche neu eingesetzten Kommission. Die Kommis-sion, die vom ehemaligen Ombudsmann Marc Fischbach geleitet wird, soll prüfen, wer von den 39 Opfern sexuellen Missbrauchs entschädigt werden soll und in welcher Höhe. Die hundert Opfer kirchlicher Gewalt gehen wohl leer aus.
„Alle reden vom Missbrauch, und was geschieht mit uns? Ist unser Leid denn weniger schlimm?“ Claire ist eine von vier Heimbewohnerinnen aus Munsbach, die von den Nonnen, die sie eigentlich betreuen und erziehen sollten, grün und blau geschlagen wurden und dies Jahrzehnte später der Hotline meldeten. Tiefe Narben am Knie und eine am Arm zeugen von der Brutalität.
Viele der Übergriffe hatten eine sexuelle Konnotation. So gab es Schläge auf den „plackegen Arsch“. Die jungen Mädchen, von der Dorfbevölkerung als „Schlasser Pak“ gehänselt, bekamen nur eine Unterhose pro Woche, die von den Nonnen regelmäßig auf ihre Sauberkeit überprüft wurde. Hatte ein Mädchen ihre Tage, bekam sie drei Binden. Ging Blut daneben, musste sie sich erniedrigende Kommentare wie „dreckeg Louder“ anhören oder hatte mit Prügelstrafe zu rechnen. Auch der Toilettengang wurde drakonisch reglementiert. Nachts war kein Gang mehr erlaubt, wer trotzdem musste, erleichterte sich heimlich ins Waschbecken oder ins Bett. In dem Klima von Sadismus, systematischer Erniedrigung und körperlicher Züchtigung wuchsen viele Heimkinder damals auf. Würden die Taten heute geschehen, wären Anklagen wegen sexueller Nötigung nicht unwahrscheinlich. Und jetzt sollen diese Taten von vornherein von einer Entschädigung ausgenommen sein?
Nur, wer will messen, was für die Betroffenen schlimmer war: körperliche, sexualisierte Gewalt oder Missbrauch? Es gibt Missbrauchsopfer, die lernen, nicht selten mit Hilfe von Therapeuten, einer stützenden Familie oder aus eigener Kraft einigermaßen mit den Folgen zu leben. Andere, die vielleicht nicht vergewaltigt wurden, aber dauerhaft sadistischen Übergriffen ausgesetzt waren, können vielleicht kaum ein normales Leben führen, haben kein Vertrauen mehr. Manche werden von Alpträumen geplagt, zumal jetzt, wo durch die Gespräche mit der Opferstelle und den zahlreichen Medienberichten die Erinnerungen wieder wach gerufen wurden. „Hier, die ist am Alkohol zerbrochen. Die da hat ihr Mann gefunden. Nach einem Selbstmordversuch.“ Claire zeigt auf ein altes Foto mit einer Mädchengruppe mit unansehnlichen Pottfrisuren. „Diese hier lebt noch, aber ist in sehr schlechter Verfassung. Sie wird mit der Situation einfach nicht fertig. Ich hoffe wirklich, sie tut sich nichts an.“
Als sich im April vergangenen Jahres die ersten Opfer öffentlich zusammenfanden, um eine Interessengemeinschaft zu gründen, wählten sie den Namen „Association de défense des intérêts des victimes d’abus sexuels et/ou physiques de la part de l’Église catholique“. Auch um zu unterstreichen, dass sie eine Anlaufstelle für alle Opfer von kirchlicher Gewalt, Misshandlung und Missbrauch sein wollten.
Trotzdem sprechen die Kirche beziehungsweise ihre Vertreter bei den Entschädigungsgeldern, die die Täter nun bezahlen sollen, explizit von Missbrauchsopfern. Warum die Beschränkung? Und wo beginnt der Missbrauch? Bisher hat die Kommission einmal getagt. Kriterien, an denen die Missbrauchsopfer gemessen werden sollen, sofern sich diese denn melden, gibt es noch keine. Allerdings betont Rodesch-Hengesch den guten Willen. Man werde alle Fälle „ernsthaft prüfen“, verspricht sie. Aber eben maximal 39 Fälle.
Claire ist nicht dabei. Ohnehin weiß sie nicht, ob sie noch einmal vorsprechen würde. „Was würde das bringen? Ich bin ja doch nur eine Nummer.“ Wie anderen geht es ihr nicht um das Geld. Eine Anerkennung ihres Leids und eine klare Verurteilung der Täter sind ihr wichtiger. „Ich will, dass die Gesellschaft weiß, was mir und anderen widerfahren ist. Und dass es nie wieder passiert“, sagt Claire.
Was aber bedeutet eine „Anerkennung“ von Taten, die Jahrzehnte zurückliegen? Die zudem in jener Zeit womöglich als nicht so schlimm heruntergespielt wurden? Wie können Sühne und Gerechtigkeit geschehen, wenn die Täter und Täterinnen entweder schon gestorben sind oder aber ihre Namen und Gesichter im Verborgenen bleiben? Und was ist mit den anderen, die von den Übergriffen gewusst, sie aber nicht verhindert haben? Die nicht auf die Hilferufe reagiert haben? Die meisten Kinderheime standen ab den 80-er Jahren unter staatlicher Aufsicht. Wo waren die Zuständigen? Mindestens ebenso wichtig: Was für Lehren ziehen Heim-Institutionen und der Staat aus den systematischen Übergriffen? Offenbar aufgeschreckt durch die in Deutschland aufgedeckten Missbräuche Schutzbefohlener in katholischen und evangelischen Einrichtungen gab das Bundes-Familienministerium eine Studie bei der Universität Bielefeld in Auftrag, um die Lebensbedingungen von behinderten Frauen in Einrichtungen zu untersuchen. Fazit: Wahrscheinlich wurden tausende Frauen Opfer von sexueller Gewalt. Es trifft die Schwächsten, die sich selbst nicht helfen können und angewiesen sind auf die Hilfe und den Schutz ihrer Betreuer. Seitdem ist in Deutschland eine Debatte über die Effizienz und Arbeitsweise der Heimaufsichten entbrannt, Selbsthilfegruppen fordern, dass Verdachtsfälle gemeldet werden müssen.
Als in Luxemburg langsam das Tabu um sexuelle Übergriffe und Gewalt in kirchlichen Einrichtungen zu bröckeln begann, bestand die einzige Reaktion der Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) zunächst darin, auf die zahlreichen Opfer-Anlaufstellen hinzuweisen. Über die Rolle der staatlichen Heimaufsicht verlor sie noch kein Wort. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zur Heimaufsicht in Behinderteneinrichtungen gab Jacobs Anfang Februar 2012 an, diese würden regelmäßig kontrolliert. Wie viele Mitarbeiter zur Kontrolle zur Verfügung stehen, wie oft diese durchgeführt werden, ob dabei Heimbewohner befragt werden und gegebenenfalls Klagen vorliegen, sagte sie nicht.
Die Hotline der katholischen Kirche ist mittlerweile dienstags und donnerstags jeweils zwischen 10 und 12 Uhr besetzt. Für jemanden, der akut Hilfe braucht, ein schwacher Trost. Andere Stellen, wie die Croix Rouge, bieten ebenfalls Unterstützung an, therapeutische Beratung aber kostet. Laut Marie-Anne Rodesch-Hengesch hat die Kirche bisher schnell und unbürokratisch Therapiekosten übernommen. Bloß was nützt das den Opfern, die aus was für Gründen auch immer keine von der Kirche bezahlte Therapie machen wollen, weil ihr Vertrauen in kirchliche Hilfe grunderschüttert ist? Dass es diese Menschen gibt, weiß Rodesch-Hengesch. Auch bei ihr hatten sich zwei Betroffene gemeldet. Eine ausdrücklich deshalb, weil sie mit der Kirche nichts mehr zu tun haben wollte.
Für Claire waren die Gespräche mit dem damaligen Zuständigen, Mill Majerus, ein wichtiger Halt, um überhaupt über die schrecklichen Ereignisse reden zu können. Eine Unterstützung, die mit dem plötzlichen Tod Majerus’ wegbrach. Heute bereut sie, ihre Geschichte überhaupt erzählt zu haben. „Was hat es uns gebracht?“, fragt sie verbittert. Eine Therapie hat sie abgebrochen: Den Anblick der Treppe in der Praxis, der an die hölzerne Treppe im Heim erinnerte, konnte sie nicht ertragen. Mit den Erinnerungen alleine zu sein, fällt ihr jedoch auch schwer. Befreundete Leidensgenossinnen wollen das Erlebte lieber vergessen.
Claire dagegen wünscht sich eine Protestaktion. „Aber wie soll ich die alleine organisieren?“ Ihr Gesprächsprotokoll möchte sie außerdem unbedingt veröffentlicht sehen. „Da steht alles drin. Namen. Alles.“ Eine frühere Betreuerin, eine der wenigen Täterinnen, die heute noch lebt und Claire zufolge für eines der größten Trauma ihrer Kindheit verantwortlich war, hatte Claire nach langem Zögern angerufen. Die Reaktion: Sie leugnete am Telefon mehrfach ihre Beteiligung.