Luxemburgensia

Dringend gesucht: Leser

d'Lëtzebuerger Land vom 14.11.1996

Germaine Goetzinger, Leiterin des nationalen Literaturzentrums in Mersch, spricht von "enger Saach, déi hiere Wee mol muss sichen". Sie meint damit die Vereinigung "Initiativ Freed um Liesen - Initiative plaisir de lire". Für nächsten Mittwoch ist die öffentliche Gründungsversammlung terminiert. Ins Leben gerufen haben die asbl Leute, die direkt oder indirekt mit dem Lesen zu tun haben. Präsident ist der inzwischen im Ruhestand lebende Staatsbeamte Guy Linster. Vorbild der "Initiativ" war die deutsche "Stiftung Lesen", was man unter anderem daran erkennt, daß ein Vorstandsmitglied der Mainzer Buchfreude den Eröffnungsvortrag hält.

Während die "Stiftung Lesen" vom Börsenverein des deutschen Buchhandels Unterstützung erfährt, konnten hierzulande private Sponsoren und die Ministerien für Kultur und Jugend als Partner gewonnen werden. "Lesen ist das Basis-Medium unserer Kultur. Daher wollen wir das Lesen fördern", lautet das Vereinsmotto jenseits der Mosel. "Auf neuen Wegen", fügt die "Initiativ" hinzu. In diesem Sinne hat sie ein ehrgeiziges Programm für 1997 und darüber hinaus entwickelt.

So will sie Lesungen und Ausstellungen organisieren, was nicht gänzlich neu ist, aber zumindest das allgemeine Kulturangebot erweitert. Oder sie möchte Synergien spielen lassen, etwa indem sie dem Bicherbus des Kulturministerium eine Kiste mit Werken zu einem bestimmten Thema mit auf den Weg gibt. Kommendes Jahr soll ebenfalls ein interregionales Kolloquium auf die Beine gestellt werden. Oder es werden im Ausland erprobte Aktionen übernommen. Dazu fällt Germaine Goetzinger die Stuttgarter U-Bahn ein, in deren Zügen anstelle von Werbung auch mal Literatur hängt.

Ein wesentliches Anliegen der "Initiativ" ist die Zusammenarbeit mit Menschen, welche die Lesekultur beruflich oder privat vermitteln. Dazu zählen zwangsläufig die Lehrer, denn "die Schriftkultur" sagt "Initiative"-Mitgründerin Germaine Goetzinger, "wird nach wie vor zunächst als Bestandteil der Schule gesehen". Dazu zählen allerdings auch, was gerne übersehen wird, Eltern und Jugendbetreuer, schließlich gehören die Kinder und Jugendlichen zur wichtigsten Zielgruppe der Vereinigung. Folglich plant die asbl regelmäßige Treffen mit Elternvereinigungen und bietet ihnen unter dem Motto: "Komm, lies mir eng Geschicht!" Kurse an, wie man den Kleinen eine Geschichte richtig zählt. Eltern müssen nämlich Gesprächspartner sein, nicht allein Vorbeter, so Germaine Goetzingers Überzeugung.

Mit dem Lesen verbindet sich zugleich die kritische Urteilsfähigkeit der späteren Staatsbürger. In diesem Sinne beteiligt sich Luxemburg 1997 an einem in Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgelobten Wettbewerb für Schülerzeitungen. Außerdem möchte die "Initiativ" die Jugendlichen im Jahr gegen den Rassismus dazu aufrufen, in Theaterstücken oder Hörspielen Stellung zu beziehen. Und die neue asbl denkt ebenfalls darüber nach, in Kindertagesstätten aktiv zu werden, damit für die Jüngsten nicht ausschließlich Spielzeug bereitsteht.

Die Angst, daß die Jugendlichen im Multimedia-Zeitalter nicht mehr lesen, scheint unbegründet zu sein. Wenn das Angebot hinreichend attraktiv ist, wird geschmökert, die Schulbibliotheken, die in den letzten Jahren eine Reihe hauptamtlicher Mitarbeiter eingestellt haben, beweisen es. Marie-Jeanne Wagner, Leiterin der Escher Stadtbücherei, glaubt nicht, "daß weniger gelesen wird; es wird anders gelesen. D'Bibliothéik huet eng nei Nues kritt." Vor 20 Jahren oder so hätten die Menschen linear gelesen, also vor allem Romane. "Heute steht die Information im Vordergrund", sagt "Initiativ"- Mitgründerin Marie-Jeanne Wagner. Das Buch bietet zusätzliches Wissen zu den TV-Inhalten.

Die Mitglieder der Vereinigung legen großen Wert darauf, daß die Kinder und Jugendlichen den Umgang mit den neuen Medien erlernen. Es geht dabei um die Fähigkeit, das Zusammenspiel von Texten und Bildern richtig zu interpretieren. So verfügt die Escher Stadtbücherei über einen Computer mit CD-Rom-Laufwerk und Internet-Anschluß. Gerade das Internet sei wichtig, um die Altersgruppe der 15jährigen während der Pubertät bei der Stange zu halten, glaubt Marie-Jeanne Wagner. Für die Jüngeren, die des Lesens gerade mächtig sind, werden andere Methoden gewählt, um sie zum Lesen zu animieren.

Seit Anfang der 90er Jahre hält die Gemeinde Esch Märchenstunden ab. Dazu lädt sie sämtliche Klassen des dritten Schuljahres einen Nachmittag lang in die Stadtbücherei, wo den Schülern Geschichten vorgelesen werden. Die Kinder erhalten Stifte, mit denen sie ihre Lieblingsfigur(en) zeichnen können. Noch einen Schritt weiter will das Goethe-Institut Anfang 1997 gehen. Dort denken die Verantwortlichen über eine Gruselnacht nach, zu der einige Kinder eingeladen werden. Bis spät abends sollen schaurige Geschichten erzählt und vorgelesen werden, wobei das Konzept noch nicht hundertprozentig steht.

Darüber hinaus möchte die Thomas-Mann-Bibliothek künftig verstärkt Jugendbuchautoren einladen. In Esch hat man vor kurzem entsprechende Erfahrungen mit Fünftklässlern und dem Schriftsteller Josef Guggemos sammeln können.

Marie-Jeanne Wagner zufolge fand diese Veranstaltung "schrecklich guten Anklang". Jhemp Hoscheit, der als Lehrer und Autor der Lesevermittlung vertraut ist, zeigt sich begeistert von seinen Schullesungen. "Was ist schöner ", fragt er, "als in eine Klasse zu kommen, in der die Kinder Gedichte aus meinen Büchern auswendig aufsagen?". Seit seine "Geschichten aus dem Zirkus Kopplabunz" 1992 erschienen sind, geht er regelmäßig auf Schultournee, und er möchte die Erfahrung nicht missen.

Marie-Jeanne Wagner bedauert lediglich, daß "das Buch durch solche Veranstaltungen stets mit der Schule identifiziert wird". Deshalb pocht sie darauf, daß die Illustratoren, ohne die Kinderbücher nur schlecht auskommen, den Schriftsteller bei seinen Klassenbesuchen begleiten.

Doch Kinderbücher sind nicht bloß eine pädagogische Lesestütze, sie sind ebenfalls ein Verkaufsschlager. Die Zeitschrift forum hat Ende 1995 bei den Verlagen Phi und Op der Lay nachgefragt, welche Titel sich bis dahin in beiden Häusern am besten verkauft hätten. An der Spitze stand jeweils ein Kinderbuch: "Muschkilusch" (Auflage 7 501) und "Zebra Tscherri" (Auflage 4 438), beide von Guy Rewenig. Ein Drittel der Bestseller waren Jugendbücher. Auch Jhemp Hoscheits "Zirkus Kopplabunz" verkaufte sich an die 3 000 Mal.. Er sieht darin die Bestätigung für den "Versuch, eigenständige Kinderliteratur in Luxemburg zu machen, weil es sich um regelrechte Literatur handelt".

Romain Kohn
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