D’Land: Die Säkularisierungsthese, die besagt, dass ein Bedeutungsverlust der Religion zu beobachten sei, hat sich ihnen zufolge nicht bestätigt. Sie gehen davon aus, dass wir in einer postsäkularen Gesellschaft leben. Eine postsäkulare Gesellschaft ist dabei nicht einfach das Gegenteil von einer säkularen?
Wolfgang Sander: Das ist richtig. Der Begriff der postsäkularen Gesellschaft stammt von Jürgen Habermas und besagt zunächst einmal, dass auch unter heutigen Bedingungen, also in modernen Gesellschaften, mit dem Vorhandensein und der Wirksamkeit von Religion zu rechnen ist. Das grenzt sich ab gegen eine Säkularisierungsthese, die die Annahme vertritt, in modernen Gesellschaften seien Religionen zwangsläufig am Verschwinden.
Die Rückkehr der Religion und eine verstärkte Religiosität ist ihnen zufolge in der jüngeren Generation beobachtbar. Wie analysieren Sie die Studienlage; gibt es da bestimmte Tendenzen in spezifischen Milieus?
Wenn man den Blick über Europa hinaus weitet, sieht man, dass Religion weiterhin eine hohe Bedeutung hat, ganz gleich, ob in buddhistisch, hinduistisch oder islamisch geprägten Regionen. Auch das Christentum wächst außerhalb Europas sehr stark. Wenn man vor allem auf westeuropäische Gesellschaften schaut, nimmt die Bedeutung von Religion erkennbar unter muslimischen Jugendlichen zu. Christlich geprägte Jugendliche verhalten sich zu ihrer Religion oft eher distanziert und vor allem unsicher. Bei muslimischen Jugendlichen vernimmt man hingegen häufiger ein deutliches Bekenntnis zur eigenen Religion.
Sie meinen, die christlichen Traditionen Europas könnten eine starke Inspiration für die europäische Zukunft sein. Was aber die christlichen Traditionen ausmacht, ist Gegenstand einer fortlaufenden Debatte. Der Protestantismus, der Katholizismus und die orthodoxen Kirchen des Ostens haben jeweils ihre eigene Interpretation des Christentums. Glauben Sie wirklich es könnte zu einem Konsens über christliche Impulse für Europa kommen?
Aus einem historischen Blickwinkel betrachtet kann man nicht übersehen, dass die europäische Kulturgeschichte stark christlich geprägt ist. Dass dies kein gerader Weg war, sondern ein von Konflikten und Widersprüchen mit geprägter, will ich nicht kleinreden. Gleichwohl ist aber eine christliche Prägung in ganz Europa, historisch gesehen, überdeutlich. Sie zeigt sich nicht nur in alltäglichen Dingen wie unserer Zeitrechnung, an den vielen christlich geprägten Vornamen oder der Bedeutung der Kirchen für unsere Stadtbilder. Sie zeigt sich vor allem darin, dass zentrale Wertvorstellungen, die Europa heute prägen, aus dem Christentum kommen. Hierzu gehört die Idee des Universalismus, also die Vorstellung, dass alle Menschen unabhängig von Herkunft, Stand oder Geschlecht gleichwertig sind. Ebenso die Vorstellung von der Freiheit des Menschen als Person, die Augustinus mit einem bekannten Wort auf den Punkt gebracht hat: „Liebe, und tue was du willst.“ Hiernach ist es letztlich nur die Verantwortung für andere Menschen, die die Freiheit begrenzt. Diese Ideen aus dem frühen Christentum sind im Sinn einer langen Linie durch die europäische Geschichte wirksam und schlagen sich heute in unserem Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten nieder. Sie enthalten aber auch ein kritisches Potenzial gegen manche Verkürzungen des Freiheitsbegriffs, die wir heute sehen und die auch in den Sozialwissenschaften analysiert werden. Man denke etwa an egozentrische Freiheitsverständnisse, die Freiheit allein mit Selbstverwirklichung verbinden, oder an autoritär-libertäre im Rechtspopulismus und in der Querdenkerszene. Gegen solche Verkürzungen kann das christliche Freiheitsverständnis eine starke Inspiration sein.
Aber es gibt Interpretation des Christentums, die dem entgegenstehen. In rechtsradikalen Gruppierungen wird das Christentum mit nationaler Identität in Zusammenhang gebracht. Wie es in den USA der Fall ist, oder in Ungarn. Wird das Christentum nicht eher als identitärer Marker wieder verstärkt ins politische Feld geführt?
Wie alle großen geistigen Bewegungen, ob Liberalismus oder Sozialismus oder jede andere große Religion, ist das Christentum in sich vielfältig. Aber nicht alle Strömungen sind gleichermaßen gewichtig, und man muss aufpassen, dass man nicht eher randständige Phänomene für das Ganze nimmt. Die evangelikale Rechte in den USA repräsentiert nicht das ganze amerikanische Christentum, und in Europa hat sie keinen nennenswerten Einfluss.
Beginnt dieser Trend nicht bereits in der politischen Mitte, Markus Söder wollte, dass in bayerischen Behörden wieder Kreuze aufgehängt werden. Wird hier das Christentum auf Folklore und Identitätsfragen reduziert?
Einer solchen Reduktion würde ich keinesfalls folgen wollen. Aber man kann die Bewahrung einer Tradition auch konstruktiv angehen. So ist die Frage nach der europäischen Identität keine Folklore, sondern von hoher Relevanz für die Zukunft der europäischen Einigung. Denn eines der Probleme der europäischen Integrationspolitik ist gegenwärtig die Frage: Was verbindet Europäer eigentlich? Und zwar nicht im Sinne rein materieller Interessen, sondern eben in einem weiteren kulturellen Verständnis. Eine solche europäische Identität kann man nicht willkürlich am Schreibtisch entwickeln, sondern man kann sie immer nur unter Bezug auf gemeinsame Erfahrungen und damit letzten Endes in Bezug auf eine gemeinsame Geschichte entfalten. Dazu gehören dann auch weitere Traditionslinien, wie die der Philosophie und der Wissenschaften, die auf die griechische Antike zurückgehen, und die des rechtsförmigen Denkens, die wir dem römischen Recht verdanken. Aber man wird eben auch an der christlichen Tradition nicht vorbei kommen, wenn man ernsthaft nach europäischer Identität fragt. Daraus lässt sich zwar kein konkretes politisches Programm ableiten. Aber zentrale kulturelle Referenzen – wie etwa Menschenwürde und Gewissensfreiheit –, die Maßstäbe bieten, von denen aus man konkrete Politik beurteilen kann, finden ihre Grundlage in dieser Tradition.
Haben wir aktuell nicht schon genug Debatten über Identität? Könnte man nicht auch argumentieren und sagen, wir müssen jetzt den Fokus auf stabile demokratische Institutionen legen, europäische Mindesteinkommen sowie den Datenschutz sichern oder bessere Verkehrsrouten zwischen Ost- und Westeuropa planen?
Ja, das muss man natürlich auch tun. Das steht meinem Anliegen nicht entgegen. Aber materielle Vorteile oder Interessen allein reichen meines Erachtens nicht, um auf längere Sicht den Zusammenschluss in der EU und die damit verbundenen Verluste an nationaler Souveränität zu begründen. Spätestens in Krisen ist dann doch wieder das nationale Hemd näher als der europäische Rock, wie man etwa am Brexit oder den Grenzschließungen in der Coronapandemie gesehen hat.
Wollen Sie uns einen Ausblick auf ihren Vortrag am Dienstag im Cercle Cité geben?
Ich werde am Dienstag darauf eingehen, welche Rolle das Christentum historisch für die Entstehung einer Vorstellung von Europa spielt. Europa ist immer schon ein kulturelles Konstrukt und eindeutige geografische Grenzen hat es nicht. Dann wird es auch um die Säkularisierungsthese gehen und was aus ihrer Widerlegung folgt. Und schließlich werde ich fragen: Welche Bedeutung hat die christliche Tradition für eine künftige europäische Identität? Und natürlich bin ich gespannt, welche Fragen und Einwände das Publikum haben wird.