Dieses Jahr kann der Karlsruher Gutachter Rolf Fuhlrott ein kleines Jubiläum feiern. Denn nun sind es zehn Jahre, dass er in einem Bericht über die Bücher und Zeitschriften der Nationalbibliothek warnte: "Der Zerstörungsprozess des wichtigen Kulturgutes unter diesen Aufbewahrungsbedingungen ist unaufhaltsam, wenn nicht bald Abhilfe geschaffen wird." Daraufhin drängte die Regierung 1998 das Parlament, einen Gesetzentwurf über den Bau einer 967,51 Millionen Franken teueren Zweigstelle der Nationalbibliothek auf Kirchberg zu stimmen. Berichterstatter Jos Scheuer titelte: "Il y a besoin, il y a urgence!", und die Kammermehrheit willigte trotz der Proteste des Fachpersonals überstürzt ein, die vergleichsweise kleine Bibliothek zu spalten und auf zwei Standorte, am hauptstädtischem Boulevard Roosevelt und am Kirchberger Boulevard Kennedy zu verteilen. Die Zeit drängte eben. Trotzdem geschah dann - bis auf einige Renovierungsarbeiten im Bibliotheksaltbau, der aus allen Nähten platzte - vier Jahr lang nichts. Dann fand die Regierung Ende Februar 2002, wenige Tage vor einer Interpellation zur Kulturpolitik, heraus, dass das Parlament sich 1998 mit 38 gegen 22 Stimmen geirrt hatte. Und dass eine Bibliothek mit nur einigen hunderttausend Bänden aufzuspalten nichts als eine kostspielige Schikane für die Leser, das Personal und die Bücher sei. So wurden die 1998 beschlossenen dringenden, nie begonnenen Bauarbeiten gestoppt. Stattdessen beschloss die Regierung, ein neues Gesetz zu machen, mit dem dasjenige von 1998 wieder außer Kraft gesetzt würde. (Es versteht sich am Rande, dass es bis heute nicht vorgelegt wurde.) Und Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges kündigte an, dass die Zukunft den Freihandbibliotheken gehöre, wo die Leser sich die meisten Bücher selbst aus den Regalen nehmen könnten. Und "das Projekt einer offenen Bibliothek ist es wert, dass man sich Zeit lässt". Statt auf mehrere Adressen verteilt zu sein, sollte die ganze Nationalbibliothek nun wieder an eine einzige, neue umziehen, und zwar auf Kirchberg, aber nicht an den Boulevard Kennedy, wo die Zweigstelle gebaut werden sollte, sondern ins Schuman-Gebäude an der Place de l’Europe. Daraufhin wurde ein internationaler Architektenwettbewerb für den Umbau des Schuman-Gebäudes ausgeschrieben, das zu Beginn der Siebzigerjahre für das Generalsekretariat des Europaparlaments von Architekt Laurent Schmit entworfene Aschenputtel der Kirchberg-Gebäude. Und im November 2003 wählte eine Jury von Kulturbeamten und Architekten aus zehn Kandidaturen den Entwurf des Münsteraner Büros Bolles-Wilson GmbH [&] Co. KG aus. Wobei sich die Juroren weniger für die optimale Unterbringung von Büchern und Lesern interessiert hatten als für die Glasfront und das weit ausholende Flachdach als architektonischer Blickfang an der Einfahrt zum Vorzeigeviertel Kirchberg Aber im November 2003 war es schon zu spät. Da hatte man bereits entdeckt, dass sich die Staatskasse rapide leerte, und Finanzminister Jean-Claude Juncker und Haushaltsminister Luc Frieden stellten fest, dass 100 Millionen Euro zu teuer würden für einen Bibliotheksumbau. Das war das politische Ende von Erna Hennicot-Schoepges als Kulturministerin der fetten Jahre, die Begriffsstutzigeren merkten es erst ein halbes Jahre später bei der Regierungsbildung. So wurde auch das Projekt Schuman-Gebäude Anfang letzten Jahres auf Eis gelegt. Nach den Wahlen sollte dann immer noch Zeit sein, um sich zu entscheiden, ob Bolles-Wilson, ähnlich wie I. M. Pei mit seinem Museum, eine Sparversion ihres Entwurfs zeichnen sollen oder das Schuman-Gebäude abgerissen werden soll, wenn seine derzeitigen Beamten es geräumt haben werden. Doch der neue Kulturminister François Biltgen und die neue Kulturstaatssekretärin Octavie Modert haben es alles andere als eilig, um einen weiteren Akt des Trauerspiels um den Bibliotheksneubau zu schreiben – und in zwei Jahren sind die Investitionsfonds leer. Weil aber bekanntlich die Zeit drängt, bekam die Bibliothek nun zum Trost eine andere Unterkunft auf Kirchberg, das alte, provisorisch von der Handelskammer bewohnte Bürogebäude von Eurocontrol, bis 2010 und darüber hinaus zugesprochen. Auch wenn sich der ziemlich heruntergekommene Kasten wenig für eine Bibliothek eignet, haben inzwischen Instandsetzungsarbeiten begonnen und erste technische Dienste wurden nach Kirchberg verlegt. Um aber wirklich Platz am Boulevard Roosevelt zu gewinnen, wurde eine liebe alte Idee wieder aufgegriffen, nämlich die Bibliothek zu spalten. Doch noch ist nicht endgültig geklärt, welche Fonds umziehen sollen und wie der Publikumsverkehr organisiert werden soll. Die Beschäftigten der Bibliothek finden die Vorstellung jedenfalls nicht besser als 1998 und versuchen inzwischen, sich in gemeinsamen Schreiben an ihre Vorgesetzten gegen die Schaffung vollendeter Tatsachen zu wehren. Doch statt der Bibliothek endlich ein angemessenes Gebäude bereitzustellen, brütet man im Kultur- und Hochschulministerium über neuen Problemen für die Nationalbibliothek. Denn wenn es um die Frage geht, wie man möglichst billig eine Eliteuniversität aus einem Stein schlagen kann, will man Shelby Footes Erkenntnis ins Gegenteil umkehren: "A university is just a group of buildings gathered around a library." Weshalb regelmäßig die Idee auftaucht, dass die Nationalbibliothek auch die Rolle der Universitätsbibliothek der Uni Lëtzebuerg spielen soll. Damit würde der Verzettelung der Campus nicht nur weiterer Vorschub geleistet. Vor allem fehlt es der Bibliothek, die derzeit und manchmal wider Willen ungeahnte Publikumserfolge als Internetcafé erlebt, an Fachreferenten, Platz und Geld, um die Literatursammlungen aufzubauen, die gerade hochspezialisierte Fakultäten benötigten. Parlamentarier, Zeitungen und Stammtische werden nicht müde darüber zu klagen, wie teuer angeblich die Philharmonische Konzerthalle und das Museum für zeitgenössische Kunst zu stehen kommen. Aber in diesen Fällen erhalten die Benutzer und die Steuerzahler wenigstens etwas für ihr Geld. Im Fall der Nationalbibliothek werden seit Jahren Millionen für Provisorien, Not- und Übergangslösungen sowie Architektenhonorare ausgegeben, und die Benutzer und die Steuerzahler haben noch immer keine neue Bibliothek. Und das dürfte auch noch Jahre so bleiben, ohne dass irgendjemand die politische Verantwortung für diese kostspieligen Fehlplanungen und Fehlentscheidungen übernähme.