Wie oft im Leben stellt man sich die Frage, an welchem Punkt, an welcher Straßenkreuzung, in welcher Situation man eigentlich falsch abgebogen ist, um an dieser Stelle der eigenen Historie, des eigenen Seins und Werdens angekommen zu sein? Im Leben von Salem Atelhadj ist es ganz eindeutig der Moment, als der Gerichtsvollzieher an die Tür klingelt, um eine Räumungsklage durchzusetzen. Salem überlegt nicht lange, handelt, nimmt den Gerichtsvollzieher als Geisel und verbarrikadiert sich mit dem Opfer und seinem Vater Mohand in der Wohnung. Oberste Etage. Hinten links. Dernier étage gauche gauche. So der Titel des Film, einer luxemburgisch-französischen Koproduktion, die vergangenen Sonntag während der Berlinale Premiere feiert. Der Film erzählt die Geschichte eines Kidnappings, das eigentlich aus einem nichtigen Grund begann und drei Menschen an die Situation fesselt, aus der sie sich nicht selbst befreien können – wie es das Ende des Films am deutlichsten zeigt. Eine Situation, in der sich die drei Protagonisten, ständig die Frage stellen, wie bin ich hier nur hineingeraten – und wie lange wird es dauern?
In Dernier étage gauche gauche setzt ein Reigen ein, der zeigt, wie eine Mücke zu einem Elefanten wird. Eigentlich hatte Salem nur fünf Kilo Koks für seinen Dealer in der Wohnung versteckt und Angst, dass der Gerichtsvollzieher dieses Paket entdecken könnte. Eigentlich. Doch nun ist der Kleinkriminelle zum Schwerverbrecher geworden. Während er die Wohnung für ein professionelles Kidnapping herrichtet, zieht draußen das Sondereinsatzkommando auf, positionieren sich Scharfschützen auf den Dächern und Balkons umliegender Wohnungen und betritt ein schmieriger Politiker die Szene, der die Situation für sich nutzen möchte und gleichzeitig sich gegenüber den Polizisten profilieren muss.
Der Film ist ein fulminantes Erstlingswerk des Regisseurs Angelo Cianci in luxemburgisch-französischer Koproduktion (Iris Productions). Ein Werk, das atemlos durch einen Tag, eine Nach und einen weiteren Vormittag hetzt, um dennoch kontemplative Momente des Innehaltens zu bieten, um zu reflektieren, um darüber nachzudenken, ob die Entscheidung in dieser Situation angekommen zu sein, nicht doch schon zu einem anderen Tag, einer anderen Stunde getroffen wurde. Der Gerichtsvollzieher, der sich nicht von seiner Frau trennen möchte und dann von ihr enttäuscht wird; der Vater, auf der Flucht vor der eigenen Vergangenheit; der Sohn im Anbeginn einer Jugend mit falschen Idealen und enttäuschten Hoffnungen. Ihnen allen drei lässt der Regisseur Zeit genug, ihre Geschichte zu erzählen.
Nicht immer explizit, wie der Vater, der vom Entführungsopfer angehalten, nahezu gedrängt wird, seinem Sohn zu gestehen, was ihn von Algerien nach Frankreich brachte. Bei der Rolle des Gerichtsvollziehers ist es die Kommunikation mit seiner Frau: Unverständnis – über mehrere Etagen geschrieen, durch die Vorstadt gebrüllt. Beim Sohn ist es der Drogendealer, der ihn ausnutzt und ihn einfach zurücklässt. Einfach so. Man redet irgendwie miteinander, doch versteht sich nicht. Sitzt der eigenen Sprachlosigkeit auf, um endlich Gehör zu finden. Am Ende nehmen die Bewohner des Viertels die Ereignisse zum Anlass, um sich zu artikulieren, ihren Frust zu kommunizieren, wenn auch auf eine sehr drastische Weise und mit nur wenigen Worten.
Dabei legt der Film auch Wert auf Sprache, besticht durch Wortwitz und Schlagfertigkeit. Regisseur Cianci wollte zeigen, wie er nach der Premiere in Berlin gesteht, dass miteinander reden, nicht immer einander verstehen bedeutet und so viel Platz für Interpretationen und den Lauf der Ereignisse bleibt. Die Personen sprechen verschiedene Sprachebenen: einen algerischen Dialekt, Französisch, Pidgin-Französisch und eine Jugendsprache, die von den Polizei- und Sondereinsatzkommandos am Ort des Geschehens nicht einmal entziffert werden kann. Größtes Potenzial des Films sind die Hauptdarsteller: Hippolyte Girardot gibt den Gerichtsvollzieher Echeverria am Rande des Nervenzusammenbruchs. Der algerische Humorist, Schriftsteller und Schauspieler Fellag spielt den Vater mit verzweifelter Zurückhaltung, der seinen Sohn so gerne in die Schranken weisen würde, aber an der Aufgabe scheitert, einen Wasserhahn zu reparieren. Schließlich Aymen Saidi in der Rolle des Sohns, rebellisch, aufmüpfig, mit der Impulsivität der Jugend, dem Kalkül einer ausweglosen Situation und dem Mut eines Davids vor Goliath.
Der Film leidet nur an einer einzigen Stelle. Direkt am Anfang und im Laufe des Plots wird darauf verwiesen, dass sich die Geschehnisse an einem 11. September abspielen, mit einem ganz klaren Verweis auf die Terroranschläge von New York City. Damit erhält der Film eine unnötige Meta-Ebene, eine Überfrachtung durch eine globale Überhöhung, die der Film einfach nicht braucht. Er ist stark genug, er ist scharf genug, er ist würzig genug, er war moutarde für die diesjährige Berlinale.